Frau Petry und das freie Mandat

Einen Tag nach der Wahl verkündete die Parteivorsitzende der AfD, Frauke Petry, dass sie nicht Mitglied der Fraktion werde. Gestern trat sie aus der AfD aus. Ihre Mandate im Bundestag und im sächsischen Landtag will sie behalten.


„Ja darf dat dat dann?“ fragte der Jupp mich, nachdem er die Nachricht gehört hatte. Die dazugehörende Antwort kennt jeder Rheinländer. „Un dat dat dat darf!“

Ja, Frau Petry ist in den Deutschen Bundestag gewählt worden. Sogar per Direktmandat über die Erststimmen. Mit 37,4 Prozent der Erststimmen schlug sie den langjährigen CDU-Abgeordneten Klaus Brähmig der lediglich 28,8 % der Stimmen erhielt um Längen. Sie erhielt auch mehr Erststimmen als die AfD in ihrem Wahlkreis (35,5 %). Und damit kann Frau Petry nun machen, was sie will. Hätte sie übrigens auch gekonnt, wenn sie nur über die Liste gewählt worden wäre.

Das ergibt sich eindeutig aus Art. 38 Absatz 1 Satz 2 des Grundgesetzes (GG).

Art. 38
(1) 1Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages werden in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt. 2Sie sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen.
(2) Wahlberechtigt ist, wer das achtzehnte Lebensjahr vollendet hat; wählbar ist, wer das Alter erreicht hat, mit dem die Volljährigkeit eintritt.
(3) Das Nähere bestimmt ein Bundesgesetz.

Die Abgeordneten sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen. Das heißt, sie unterliegen weder einem Fraktionszwang, noch hat ihnen irgendjemand Vorschriften zu machen. Auch wenn das durch eine parteiinterne „Fraktionsdisziplin“ häufig so wirkt, es gibt auch keinen Fraktionszwang.

Was unter einer Gewissensentscheidung zu verstehen ist, hat das BVerfG  wie folgt definiert:

„Gewissensentscheidung“ im Sinne des Art. 4 Abs. 3 GG ist jede ernste sittliche, d. h. an den Kategorien von „Gut“ und „Böse“ orientierte Entscheidung, die der einzelne in einer bestimmten Lage als für sich bindend und unbedingt verpflichtend innerlich erfährt, so daß er gegen sie nicht ohne ernste Gewissensnot handeln könnte.

Das klingt ja ganz gewichtig, aber da niemand weiß, wie das Gewissen eines anderen ausgebildet ist, lässt sich letztlich überhaupt nicht feststellen, ob eine Entscheidung tatsächlich auch eine Gewissensentscheidung ist. An Gut und Böse orientiert, bedeutet ja nicht, dass die Entscheidung gut sein muss. Was sollen Abgeordnete ohne Gewissen tun?  Man könnte sich den Zusatz „und nur ihrem Gewissen unterworfen“ auch einfach schenken. Er hilft kein bisschen weiter.

Gewissensprüfung

Einer juristischen Überprüfung ist so ein Gewissen eh nicht zugänglich. Ich hatte noch das zweifelhafte Vergnügen, mich als Wehrdienstverweigerer der sogenannten Gewissensprüfung stellen zu müssen. Die glaubten damals noch ernsthaft, man könne ein Gewissen durch dämliche Fangfragen überprüfen. Ich hatte da sehr viel Spaß bei Szenarien wie:

Sie gehen mit ihrer Freundin im Wald spazieren, plötzlich steht eine Rockerbande da und will ihre Freundin vergewaltigen. Setzen Sie ihre Maschinenpistole ein?

Meine Antwort, ich hätte keine Maschinenpistole – das wäre ein Verstoß gegen das Kriegswaffenkontrllgesetz – und für den Fall, dass ich eine hätte, ginge ich nicht damit spazieren, jedenfalls nicht mit meiner Freundin, gefiel ihnen nicht. Ich solle mir das veinfach mal orstellen, ich hätte ja schließlich Abitur. Nun ja. Nachdem ich mir das vorgestellt hatte, war meiine Antwort, ich könne mir nicht vorstellen, dass Rocker ohne ihre Motorräder durch den Wald liefen und Menschen mit Maschinenpistolen bedrängen würden. So ging das ein Stündchen hin und her und am Ende bekam mein Gewissen das staatliche Prüfsiegel. Was für ein Schwachsinn.

Letztlich bedeutet Art. 38 Absatz 1 Satz 2 GG ganz einfach, wer einmal gewählt ist, kann sich bezüglich seines Mandates verhalten, wie eks ihm gefällt.

Diejenigen, die Frau Petry in ihrem Wahlkreis nun nicht wegen ihrer Person, ihres Gesichts, ihres Grinsens, ihres – laut Ehemann Pretzel – dämonenhaften Sexappeals oder so ähnlich  oder ihrer Wahlplakate, sondern nur und ausschließlich wegen ihrer Mitgliedschaft in der AfD, deren Programm  und als deren Sprecherin gewählt haben, werden jetzt vermutlich dumm aus der Wäsche gucken und ziemlich sauer sein. So what?

So ist das nun mal. Man muss sich eben ansehen, wem man sein Vertrauen schenkt. Trau, schau, wem. Es mag ja auch nicht die feine Art sein, vor der Wahl sein Gewissen auf die stille Treppe zu schicken, um es dann am Tag nach erfolgreicher Wahl plötzlich wieder zu entdecken, aber dass bereits die Kandidaten ihrem Gewissen folgen müssen, ist ja auch nirgends geregelt. Stellen sie sich vor, die Kandidaten müssten ihrem Gewissen folgend über ihre Motivaion die Wahrheit sagen, da würde ja niemand mehr gewählt.

Es kann auch gut sein, dass Frau Petry bereits seit dem Kölner Parteitag an einer kühlen Racheaktion oder auch an eine neuen Partei Namens die Blauen gebastelt hat, Seis drum. Das ist ihre Sache. Ihre Wähler können sich bei der nächsten Wahl erneut so oder so entscheiden. Ihre Stimme zurückrufen können sie nicht. „Entschuldigung, ich hab mich verwählt“, gibt es nicht.

Empörung oder Lachkrampf

Wenn man nach der ersten Empörung – oder nach dem ersten Lachkrampf – einmal etwas intensiver über das freie Mandat nachdenkt, erkennt man, dass diese Regelung auch richtig ist.
Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages sind Vertreter des ganzen Volkes. Jeder einzelne Abgeordnete. Das sind keine Parteisklaven oder Stimmvieh für eine Parteiführung. Sie sind aber auch keine weisungsgebundenen Vertreter ihrer Wähler. Sie müssen ihre Wähler auch nicht danach fragen, wie sie abstimmen sollen. Das wäre dann nämlich ein imperatives Mandant, bei dem der Abgeordnete lediglich das Sprachrohr seiner Wähler wäre. So etwas gab es in den Ständeversammlungen des Mittelalters und bis ins 19. Jahrhundert. Ein solches gebundenes Mandat führt aber dazu, dass die Abgeordneten in ihrem Handeln von der Basis abhängig sind, was dazu führen würde, dass sie nur noch leere Hüllen ohne eigene Entscheidungsbefugnis wären.

Der Konflikt

Nun ist es natürlich dennoch so, dass der einzelne Wähler bei der Wahl einen Kandidaten auch wegen seiner Parteizugehörigkeit wählt. Das GG sieht ja auchausdrücklich  vor, dass die Parteien bei der politischen Willensbildung des Volkes mitwirken. Und auch eine Regierungsbildung ist selbstverständlich nur dann möglich, wenn eine Mehrheit im Parlament besteht, was eine gewisse Verlässlichkeit der Abgeordneten der zur Regierungsbildung bereiten Parteien voraussetzt. Ohne Parteien wäre das gar nicht zu wuppen. Dennoch ist der Bundestag eben kein Parteienparlament, sondern eine Versammlung von freien Abgeordneten als Repräsentanten freier Wähler, ja sogar der Nichtwähler. Sie repräsentieren das gesamte Volk. Das scheint leider manchmal auch dem ein oder anderen Abgeordneten nicht ganz bewusst zu sein, wenn er aus Gründen der Parteidisziplin über Dinge abstimmt, von denen er gar nicht überzeugt ist oder von denen er gar keine Ahnung hat.

Dass es da zwangsläufig zu Konflikten zwischen den Parteien und den einzelnen Abgeordneten kommen kann, liegt in der Natur der Sache. Sie erinnern sich an Herrn Bosbach und „Ich kann Deine Fresse nicht mehr sehen“- Pofalla? Da wollte der Bosbach nicht so wie die Fraktion und sagte zu Pofalla:.

Ronald, guck bitte mal ins Grundgesetz, das ist für mich eine Gewissensfrage“.

Pofalla antwortete::

Lass mich mit so einer Scheiße in Ruhe“

Ob Pofalla mit so einer Scheiße das Grundgesetz meinte, ist nicht ganz klar. Aber es ist natürlich für einen Fraktionswachhund auch blöde, wenn seine Fraktion nicht geschlossen mitspielen will. Da geht‘s ja auch um Machtfragen und Gewissen kann da manchmal schaden.

Das Bundesverfassungsgericht hat zu diesem Konflikt folgendes gesagt:

Die politische Einbindung des Abgeordneten in Partei und Fraktion in Bund und Ländern ist zwar verfassungsrechtlich erlaubt und gewollt: Das Grundgesetz weist den Parteien eine besondere Rolle im Prozess der politischen Willensbildung zu (Art. 21 Abs. 1 GG), weil ohne die Formung des politischen Prozesses durch geeignete freie Organisationen eine stabile Demokratie in großen Gemeinschaften nicht gelingen kann (vgl. BVerfGE 112, 118 <135>; 118, 277 <328 f.>). Die von Abgeordneten – in Ausübung des freien Mandats – gebildeten Fraktionen (vgl. BVerfGE 80, 188 <219 f.>) sind im Zeichen der Entwicklung zur Parteiendemokratie notwendige Einrichtungen des Verfassungslebens und maßgebliche Faktoren der politischen Willensbildung (vgl. BVerfGE 80, 188 <219 f.>; 112, 118 <135>).
Im organisatorischen Zusammenschluss geht die Freiheit und Gleichheit des Abgeordneten jedoch nicht verloren. Sie bleibt innerhalb der Fraktion bei Abstimmungen und bei einzelnen Abweichungen von der Fraktionsdisziplin erhalten und setzt sich zudem im außengerichteten Anspruch der Fraktion auf proportionale Beteiligung an der parlamentarischen Willensbildung fort (vgl. BVerfGE 112, 118 <135>). Wie die politischen Parteien diesen parlamentarischen Willensbildungsprozess innerparteilich vorbereiten, obliegt unter Beachtung der – jedenfalls hier – nicht verletzten Vorgaben aus Art. 21 und 38 GG sowie des Parteiengesetzes grundsätzlich ihrer autonomen Gestaltung.

Dass das Grundgesetz in Art. 38 GG diesen Konflikt eindeutig zu Gunsten des Abgeordneten auflöst hat folgenden Grund:

Diese Vorschrift gewährleistet für jeden der nach Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG gewählten Abgeordneten sowohl die Freiheit in der Ausübung seines Mandats als auch die Gleichheit im Status der Vertreter des ganzen Volkes (vgl. BVerfGE 102, 224 <237 f.>; 112, 118 <134>). So setzt sich insbesondere die Gleichheit der Wahl in der gleichen Mitwirkungsbefugnis aller Abgeordneten fort und hält damit auch in den Verzweigungen staatlich-repräsentativer Willensbildungsprozesse die demokratische Quelle offen, die aus der ursprünglichen, im Wahlakt liegenden Willensbetätigung jedes einzelnen Bürgers fließt (vgl. BVerfGE 112, 118 <134>).

Das freie Mandat ist damit am Ende  auch Ausdruck des freien einzelnen Bürgers.
Und so mag nun schäumen, wer schäumen will, wenn Frau Petry an ihrem Mandat bzw. ihren Mandaten – denn in Sachsen hat sie ja auch noch eines – festhalten möchte, dann kann sie das tun.

Und sie kann selbstverständlich auch mit diesem Mandat zu einer anderen Partei wechseln, sie kann eine neue Partei gründen, sie kann versuchen, andere Mandatsträger dazu zu bewegen, mit ihr eine Gruppe oder gar eine Fraktion zu bilden. Sie kann aber auch ganz alleine im Bundestag bleiben und ihre eigene Agenda verfolgen. Gegen all das ist rechtlich überhaupt nichts einzuwenden.

Dass es Menschen gibt, die Frau Petry mangelnde Größe vorwerfen, wenn sie an ihrem Mandat festhält, wird sie schon verstehen. Vor zwei Jahren, als sie gemeinsam mit dem rechtsextremen Flügel der Partei den eher professoral-christlich-konservativen Bernd Lucke geschasst hatte, meinte sie jedenfalls:

Ich gehe nicht davon aus, dass Bernd Lucke und diejenigen, die ihm folgen, die Größe besitzen, ihre mit der AfD errungenen Mandate zurückzugeben

Aber erstens ist das ja schon zwei Jahre her – und der Politprofi weiß natürlich, dass das Geschwätz von gestern heute schon nichts mehr wert ist – und zum zweiten ist Herr Lucke ja nicht Frau Petry. Und dass Frau Petry tut, was sie bei anderen doof findet, ist auch ihr gutes Recht. Und drittens steht von Größe überhaupt nichts im Grundgesetz.

Eigentlich ist ja bedauerlich, dass auch die meisten Direktmandate von Parteipolitikern errungen werden und nicht von unabhängigen Kandidaten außerhalb der Parteihierarchien. Wäre doch ganz spannend, wenn es mehr wirklich freie Mandatsträger gäbe, die nicht unbedingt darauf achten müssen, dass sie beim nächsten Wahltermin wieder von der Partei aufgestellt werden. Und die auch tatsächlich selbst über das nachdenken müssen , über das sie abstimmen und keinen Fraktionsdirigenten haben, der den Takt vorgibt. Das wäre die einzige Möglichkeit, wie ich mir hätte vorstellen können, jemals für den Bundestag zu kandidieren. Also ganz theoretisch. Das sollen jetzt mal jüngere machen.
So gesehen ist es aber vielleicht eine ganz gute Idee, wenn Frau Petry als Unabhängige sowohl im Bundestag als auch im sächsichen Landtag bleibt und da einfach mal ihre Meinung sagt. Ich bin jedenfalls darauf gespannt, was sie zu sagen hat und was sie mit ihrem Mandat anfängt.

Heinrich Schmitz

Heinrich Schmitz ist Rechtsanwalt, Strafverteidiger und Blogger. In seiner Kolumne "Recht klar" erklärt er rechtlich interessante Sachverhalte allgemeinverständlich und unterhaltsam. Außerdem kommentiert er Bücher, TV-Sendungen und alles was ihn interessiert- und das ist so einiges. Nach einer mit seinen Freital/Heidenau-Kolumnen zusammenhängenden Swatting-Attacke gegen ihn und seine Familie hat er im August 2015 eine Kapitulationserklärung abgegeben, die auf bundesweites Medienecho stieß. Seit dem schreibt er keine explizit politische Kolumnen gegen Rechtsextreme mehr. Sein Hauptthema ist das Grundgesetz, die Menschenrechte und deren Gefährdung aus verschiedenen Richtungen.

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