Die Katniss von Caracas

Im Science-Fiction-Roman „Die Tribute von Panem“ ist es eine junge Powerfrau, die das Regime von Präsident Snow zu Fall bringt. Lilian Tintori, die gegenwärtig dem Widerstand gegen den venezolanischen Machthaber Nicolas Maduro ein Gesicht gibt, hat viel mit der Heldin aus der Literatur gemein. Nur sind Tintoris Erfolgsaussichten deutlich schlechter.


„Die Tribute von Panem“ sind eine der erfolgreichsten Buchreihen der vergangenen Jahre. Aber im Gegensatz zu „Harry Potter“ oder anderen Stoffen, scheint die Geschichte rund von Katniss Everdeen, die unfreiwillig zur Ikone der Rebellion gegen ein diktatorisches Regime wird, von der Realität bestätigt zu werden. Konkret in Venezuela, das Präsident Nicolas Maduro und sein Vorgänger Hugo Chavez Stück für Stück in einen wirtschaftlich heruntergekommenen und zunehmend diktatorisch regierten Staat verwandelt haben. Ähnlich wie im Roman ist auch in Venezuela eine starke Frau zum Gesicht des Widerstands geworden: Lilian Tintori, die auch an diesem Wochenende wieder den „Frauenmarsch gegen die Unterdrückung“ angeführt hat.

Außerdem haben sich beide Frauen nicht aus freien Stücken entschieden, in der Welt der politischen Ränke und der Machtspiele aktiv zu werden. Die Katniss aus den Bücher war eine Halbwaise, deren eigentliches Interesse der Jagd und der Natur galt, bis das Regime von Präsident Snow ihre Schwester Primrose in den Hungerspielen, einer Art moderner Gladiatorenkämpfe, in den sicheren Tod schicken wollte. Und Lilian Tintori war lange Zeit so etwas, was man heutzutage wohl eine „Celebrity“ nennt. Jung, hübsch und telegen. Sportlich verdiente sich die heute 39-Jährige früh Meriten als Marathonläuferin und nationale venezolanische Meisterin im Kite-Surfen. Da Tintori nicht nur sportlich, sondern auch intelligent und schlagfertig ist, führte sie ihr Weg bald als Moderatorin ins Fernsehen. Zudem konnte man sie gelegentlich auf den Titelseiten der bunten Magazine betrachten. Die studierte Lehrerin wäre jedoch ein allenfalls national beachtetes Glamour-Girl geblieben, wäre ihr Mann Leopoldo Lopez nicht zu einem der Anführer gegen den immer autoritärer agierenden sozialistischen Staatschef Hugo Chavez avanciert.

Heldin wider Willen

Nach dem Chavez im März 2013 gestorben war, kam es zu Neuwahlen. In dem Urnengang, dessen rechtmäßiger Ablauf bis heute angezweifelt wird, konnte sich Chavez`Stellvertreter Nicolas Maduro selbst nach offizieller Lesart nur hauchdünn gegen den Kandidaten der Opposition, Henrique Capriles, durchsetzen. Während Capriles, trotz aller Ungereimtheiten bei der Wahl, weiter auf parlamentarischen Widerstand setzte, entschloss sich Lopez zusammen mit anderen, den Protest auf die Straßen zu tragen. Die Staatsmacht reagierte mit maximaler Härte. Bei Massenprotesten kam es zu Unruhen und, schlimmer noch, zu Toten. Flugs präsentierte das Regime Lopez als Sündenbock. Er habe Rebellion, Mord und Terrorismus zu verantworten, hieß es. Im September 2015 wurde López zu mehr als 13 Jahren Haft verurteilt. Menschenrechtsorganisationen wie Human Rights Watch, die katholische Kirche und zahlreiche Politiker aus dem In- und Ausland warfen Maduros Regierung indes vor, der Prozess habe ausschließlich politische Gründe gehabt.

Kein Kontakt zu Ehemann möglich

Seither sitzt der Oppositionsführer im Gefängnis Ramo Verde, in einem Vorort von Caracas ein, häufig in Isolationshaft. Nur unter erschwerten Bedingungen erhalten Tintori, ihre Schwiegermutter und die beiden Kinder Zugang zum Inhaftierten. Einmal hätten sich Tintori und ihre Schwiegermutter angeblich vor den Sicherheitskräften bis auf die Haut entblößen und sogar ihre Tampons entfernen müssen. Der Generalsekretär der Organisation Amerikanischer Staaten, Luis Almagro, sprach daraufhin auf Twitter von „einem Attentat auf die Menschenwürde“. Das Regime ließ sich aber in keiner Weise beeindrucken. Im Gegenteil: Immer weiter trieben Polizei und Sicherheitsdienste ihre Schikanen auf die Spitze. Inzwischen hat die Familie seit Wochen keinen Kontakt mehr zu Lopez, selbst ein echtes Lebenszeichen bleibt das Regime schuldig.

Am Anfang setzten die Chavistas noch darauf, die das süße Leben gewohnte Familie Lopez/Tintori zu korrumpieren. Angeblich habe der Strippenzieher des Regimes, Parteivize Diosdado Cabello, Tintori das Angebot gemacht, mit ihrem Mann ausreisen zu können, falls sich das Paar künftig in der Öffentlichkeit mit Regierungskritik zurückhalte. Die Politikergattin soll abgelehnt haben. Auch eine Parallele zu Katniss Everdeen, die Präsident Snow mehrfach ein Korb gab, als dieser versuchte, die populäre Rebellin für seine Sache zu gewinnen.

Papst hat keine Zeit

Je stärker die Regierung Tintori und ihre Angehörigen unter Druck setzen, desto entschlossener reagiert die Powerfrau. Bei fast jeder Demonstration ist sie dabei und gibt dem lange Zeit zerstrittenen Widerstand Stimme und Gesicht. Und das nicht nur in Venezuela, sondern auch im Ausland. Ob in Washington, Buenos Aires, Brüssel oder Paris, bei den Mächtigen der westlichen Welt wurde sie vorstellig. Im Dezember 2015 kettete sich Tintori mit ihrer Schwiegermutter Antonieta Mendoza und der Ehefrau eines anderes inhaftierten Oppositionsführers sogar auf dem Petersplatz in Rom an, mitten im Vatikan. Mit einer venezolanischen Fahne und einem Plakat wollten sie auf das Schicksal der über 100 politischen Gefangenen aufmerksam machen, die damals schon in Haft saßen. Doch nach etwas mehr als zwei Tagen gaben die Aktivistinnen auf. Der offizielle Vatikan zeigte kein Interesse an ihnen. Auch Papst Franziskus, der Machthaber Maduro kurz zuvor empfangen hatte und sich von dessen bolivianischem Verbündeten Evo Morales für Verbrüderungsszenen vereinnahmen ließ, hatte keine Gelegenheit, die Frauen aus Venezuela zu treffen.

Inzwischen sind die Aussichten für Tintori und ihre Mitstreiter immer düsterer geworden. Das gewählte Parlament ignoriert Maduro immer offener, dessen Beschlüsse lässt er von willigen Gefolgsleuten in der Justiz außer Kraft setzen. Und wenn die Opposition zu Demonstrationen aufruft, dann reagiert das Regime damit, dass es ihm nahestehende Schlägermilizen mit Waffen ausrüstet und den Regierungsgegnern offen mit Gewalt droht.

Maduro will Verfassung ändern

Maduros neuster Coup ist die Ankündigung, die gegenwärtige, noch von Parteiikone Hugo Chavez maßgeblich designte Verfassung durch eine neue ersetzen zu wollen. Das neue Grundgesetz sollen aber weder das Parlament noch eine neu zu wählende Versammlung entwerfen, sondern ein Gremium mit einigen, dem Regime nahestehenden „Aktivisten aus der Gesellschaft“, die Maduro am liebsten handverlesen möchte. Offener kann ein Machthaber der Demokratie kaum den Krieg erklären. Dazu ist er in der Lage, weil Militär und ausländische Verbündete wie Kuba und China ihm nach wie vor Rückendeckung gewähren. Und da diese bei einem Regimewechsel einiges an Privilegien, Einfluss und dem bevorzugten Zugang zu den venezolanischen Rohstoffen zu verlieren hätten, werden sie dies auch weiterhin tun.

Wenn Lilian Tintori in Venezuela wirklich der Rückkehr zur Demokratie den Weg ebnen will, dann muss sie viel Geduld, Kraft und noch mehr Leidensfähigkeit aufbringen. Es muss in Caracas wohl alles erst noch schlimmer kommen, bevor die Dinge besser werden können. So zynisch es klingt: Vor allem ein Staatsbankrott könnte eine Wende bringen. Dann hätte das Regime keine Mittel mehr, um sich die Loyalität des Militärs zu erkaufen. Ob eine Staatspleite aber wirklich eintritt, ist längst nicht ausgemacht. Maduros Unterstützer werden dieses Szenario verzweifelt zu verhindern versuchen.

Tintori braucht Kraft und Geduld

Tintoris Kampf scheint deshalb noch aussichtsloser zu sein, als der von Katniss Everdeen in der Literatur. Katniss konnte am Ende eines verlustreichen Aufstands dem fiktiven Staat Panem die Freiheit bringen. Doch die Verluste waren hoch. Unter anderem wurde die eigene Schwester Opfer der Rebellion. Jene Primrose, die Katniss mit ihrem Widerstand eigentlich vor dem Tod bewahren wollte.

Andreas Kern

Der Diplom-Volkswirt und Journalist arbeitet seit mehreren Jahren in verschiedenen Funktionen im Bereich Öffentlichkeitsarbeit. Kern war unter anderem persönlicher Referent eines Ministers, Büroleiter des Präsidenten des Landtages von Sachsen-Anhalt sowie stellvertretender Pressesprecher des Landtages. Er hat nach einer journalistischen Ausbildung bei einer Tageszeitung im Rhein-Main-Gebiet als Wirtschaftsredakteur gearbeitet . Aufgrund familiärer Beziehungen hat er Politik und Gesellschaft Lateinamerikas besonders im Blick. Kern reist gerne auf eigene Faust durch Südamerika, Großbritannien und Südosteuropa.

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