Deutschland ohne Ruck

Vor knapp 20 Jahren hielt Roman Herzog seine berühmt gewordene Berliner Rede, in der er einen Ruck für Deutschland forderte. Der ist ausgeblieben. Trotzdem ist vieles besser geworden, aber irgendwie nichts gut.


Der Tod von Roman Herzog hat eine Rede ins Gedächtnis gerufen, die der damalige Bundespräsident vor knapp 20 Jahren, am 26. April 1997, gehalten hat. Herzog hat damals in dramatischen Worten den Zustand der deutschen Gesellschaft beschrieben. Er hat von Mutlosigkeit gesprochen und von einem Gefühl der Lähmung, die über dem Land läge. Er diagnostizierte den „Verlust wirtschaftlicher Dynamik, die Erstarrung der Gesellschaft, eine unglaubliche mentale Depression“.

Der düsteren Diagnose des Bundespräsidenten haben damals viele zugestimmt. Und auch zu den Forderungen, die Herzog formulierte, haben viele genickt. Vor allem den allgemeinen Thesen galt der Applaus, der Aussage, dass wir wieder Visionen brauchen, als Strategien des Handelns, dass Visionen ungeahnte Kräfte hervorbringen könnten, und natürlich dem Satz: „Durch Deutschland muss ein Ruck gehen.“

Dem Weg der notwendigen Opfer, die alle bringen müssten, wollten sicher nicht alle folgen, aber das ist im allgemeinen Jubel über die klaren Worte des Präsidenten ohnehin kaum zur Kenntnis genommen worden.

Was ist seit dem geschehen? Ist durch Deutschland ein Ruck gegangen? Wohl nicht. Zwar könnte man die Reformvorhaben unter der Kanzlerschaft von Gerhard Schröder, der gut ein Jahr nach Herzogs Rede die Regierungsgeschäfte übernahm, als den Versuch ansehen, die konkreten Forderungen des Bundespräsidenten in Politik umzusetzen. Da aber diese Reformvorhaben bis hin zur Agenda 2010 gerade nicht von einem Ruck in der Gesamtgesellschaft begleitet waren, und die Bereitschaft zu Opfern bei allen gesellschaftlichen Gruppen gering blieb, blieben die Reformen halbherzig und wurden vor allem nicht zum Ausgangspunkt einer gesellschaftlichen Bewegung, die irgendwie einen neuen Zusammenhalt der Gesellschaft unter einer Vision fürs 21. Jahrhundert bedeutet hätte.

Kein Ruck, aber auch keine Lähmung

Liest man heute Roman Herzogs Rede, dann erscheint sie deshalb zunächst als eine Liste unerledigter Aufgaben und aufgeschobener Probleme. Und dennoch hat sich etwas Merkwürdiges gewandelt. Wer würde den Zustand der deutschen Gesellschaft heute zuerst mit den Worten Mutlosigkeit, Lähmung, Depression und Erstarrung beschreiben?

Deutschland steht heute auch ohne Ruck und ohne Visionen gut da. Geringe Arbeitslosigkeit, Wirtschaftswachstum, steigender Wohlstand. Denn Kritikern der Marktwirtschaft fällt es schwer, das kleinzureden, auch wenn sie sich alle Mühe geben. Und auch denen, die immer davon reden, dass Deutschland technologisch und wirtschaftlich abgehängt wird, fällt es schwer, dafür belastbare Zahlen und plausible Geschichten zu finden.

Merkwürdigerweise ist die Unzufriedenheit geblieben. Sie interessiert sich nicht für die Fakten und Zahlen, sie hat sich eingenistet als das Gefühl, das man selbst abgehängt ist, dass nichts richtig läuft und alles irgendwie immer schlechter wird.

Alles wird besser, aber nichts wird gut

Es ist nicht so gekommen, wie Roman Herzog gefordert hat, es ist auch nicht so gekommen, wie er es befürchtet hat. Es ist alles besser geworden, aber nichts ist gut geworden.

Vielleicht kann man es so beschreiben: Es hat zwar einen Ruck gegeben, aber er ist nicht als selbstbestimmtes Aufraffen durch die Gesellschaft gegangen, er war eher ein nervös-hektisches Reißen von Reform-Politikern an den Zügeln der Gesellschaft. Diese Leute hatten und haben noch immer Angst vor ihrem eigenen Mut, Angst davor, dass das träge Wesen, das da verstört aufschaut, sich wirklich erheben und sich in Bewegung setzen könnte.

So ist zwar einiges geschafft, aber es ist ungemütlich geworden. Und wie gesagt: Für die ganz großen Herausforderungen der Zukunft ist die Gesellschaft nicht gerüstet. Der demografische Wandel wird nicht ausbleiben, den Klimawandel beherrschen wir nicht, die globalen Migrationsbewegungen sind nicht vorhersehbar, ihre Folgen nicht absehbar.

Beherztes Anpacken der Probleme, die Herzog vor 20 Jahren benannt hat, ist also noch immer geboten, auch wenn wir gerade nicht in einer erstarrten, depressiven, mutlosen Zeit leben. Gerade darum müsste es doch möglich sein, offen darüber zu reden und Konsens zu finden, in welcher Gesellschaft wir leben wollen. Reformen ohne Visionen können zwar manches leisten – das haben die vergangenen zwanzig Jahre durchaus gezeigt, aber sie bringen auch neue Gefahren, wenn die alte Depression zur allgemeinen Gereiztheit umschlägt und die Stimmung in der Gesellschaft aggressiver wird.

Jörg Phil Friedrich

Der Philosoph und IT-Unternehmer Jörg Phil Friedrich schreibt und spricht über die Möglichkeiten und Grenzen des digitalen Denkens. Friedrich ist Diplom-Meteorologe und Master of Arts in Philosophie.

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