Luthers Thesen: Die Demut des Piloten
Wie kann Schuld vergeben werden? Wer kann eine Schuld vergeben?
Die siebte These klingt in der EKD-Übersetzung etwas sperrig, dort lautet sie:
Überhaupt niemandem vergibt Gott die Schuld, ohne dass er ihn nicht zugleich – in allem erniedrigt – dem Priester, seinem Vertreter, unterwirft.
Andere Übersetzungen weichen davon an einer wichtigen Stelle ab: sie sprechen nicht von Erniedrigung, sondern von Demut. Vergebung der Schuld ist also nur möglich, wenn sich derjenige, der Schuld auf sich geladen hat, demütige dem Vertreter Gottes unterwirft.
Mit dieser These stellt sich für uns hier und heute die Frage, wie eine Schuld überhaupt wirklich vergeben werden kann. Wer kann eine Schuld abschließend vergeben? Und wie können wir sicher sein, dass sie wirklich vergeben ist, und zwar so, dass sich auch der Schuldige von der Schuld entlastet fühlt?
Ich hatte schon bei der Diskussion der sechsten These, als es darum ging, dass institutionalisierte Rechtsprechung zwar Strafen festlegen oder erlassen kann, aber keine Schuld feststellen und auch nicht von Schuld befreien kann, auf das Beispiel des Bundeswehrpiloten als dem Stück Terror von Ferdinand von Schirach verwiesen. Auch wenn das Gericht den Piloten freispricht, ihm also eine Bestrafung erlässt, so kann es ihm nicht die Schuld erlassen.
Denken wir einmal darüber nach, wie es mit dem Piloten nach dem Freispruch weitergeht. Stellen wir uns vor, er versucht in sein altes Leben zurückzukehren, aber ihn lässt das Geschehen nicht los. Er bekommt die Schilderung der Frau, die am Flughafen vergeblich auf ihren Mann gewartet hat, nicht aus dem Kopf. Umso länger er über ihr Schicksal nachdenkt, desto mehr fühlt er sich schuldig.
Wer kann ihn von dieser Schuld befreien? Er selbst, indem er sich immer wieder die Argumente ins Gedächtnis ruft, die ihm sagen, dass er richtig gehandelt hat? Die Erinnerung an die Tatsache, dass das Gericht ihn schließlich freigesprochen hat? Freunde, die ihm sagen, dass ihn keine Schuld trifft?
All das wird ihm vielleicht helfen, die Schuld zu verdrängen, aber nicht, die Schuld loszuwerden.
Bei Luther geht es auch gar nicht um das Befreien von Schuld. Es geht ums Vergeben. Voraussetzung des Vergebens ist, dass der, der die Schuld vergibt, auch denkt, dass die Schuld da ist. Jeder, der mir sagt, dass ich gar keine Schuld habe, kann mir die Schuld auch nicht vergeben. Und wenn ich die Schuld als Last nun einmal spüre, hilft es mir auch nicht, dass mir jemand einzureden versucht, da sei gar keine Schuld.
Man sagt, die Schuld kann nur der vergeben, gegenüber dem die Schuld besteht. Aber im Fall des Piloten sind die alle tot. Infrage kommen die Hinterbliebenen, die Trauernden.
Die Schuld besteht gegenüber allen Betroffenen, genauer, gegenüber der Gemeinschaft der Betroffenen, die in ihrer Betroffenheit auch empfindet, dass da eine Schuld ist, auch wenn keine Strafbarkeit da ist. Die unmittelbaren Angehörigen, die Eltern und Kinder, die Freunde der Toten, aber auch alle, die bestürzt und berührt sind vom Tod der Menschen, die im Flugzeug saßen.
„Gott“ ist der Sinnzusammenhang unseres Lebens, er ist keine Person, er steht als Chiffre für den Glauben an das Gute, Schöne und Wahre, das unserem Leben Sinn gibt. Der Tod der Menschen im Flugzeug wird von der Gemeinschaft der trauernden genau in diesem Sinnzusammenhang als sinnlos erlebt. Jeder von ihnen ist in diesem Sinne Gottes Vertreter, der Schuld vergeben kann, genauer, der als Teil der trauernden Gemeinschaft dazu beitragen kann, dass die Schuld vergeben wird. Voraussetzung ist, dass der Schuldige demütig gegenüber den Trauernden seine Schuld annimmt. Darin besteht der Zusammenhang zwischen dem Vergeben der Schuld und der Demut gegenüber der Gemeinschaft, die in dem Sinnzusammenhang des Guten, Wahren und Schönen existiert, aus dem heraus die Schuld überhaupt existiert.
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