Achtung postfaktisch! Erlösung durch Soja-Latte

Bei Spiegel-Online hat man sich offenbar bestens auf das viel beschworene postfaktische Zeitalter eingestellt. Während Jakob Augstein das Ende der Welt, wie wir sie kennen, beschwört, verspricht eine Kollegin moralische Erneuerung durch Veganismus. Hinter soviel Postfaktischem wollen wir nicht zurückstecken.


Postfaktisch ist das internationale Wort des Jahres. Um zu erfahren, was postfaktisch bedeutet, kann man sich Wahlkämpfe in den USA anschauen, lautet ein oft gehörter Ratschlag. Das mag stimmen. Nur kenne ich von diesem Land kaum mehr als Disney World und New York, und das soll nicht unbedingt repräsentativ sein. Und was ich dort sah, wirkte auf mich eher fremd (in einer New Yorker U-Bahn gab es einen Werbespot, in dem Barack Obama wegen seiner Gesundheitsreformen als verkappter Kommunist gescholten wurde. Das war 2009; ich fand das damals schon postfaktisch, obwohl man es nicht so nannte). Da Blinde normalerweise nicht über Farben reden, habe ich mich bislang mit Artikeln über die Black Box Vereinigte Staaten zurückgehalten – und habe vor, dies auch weiterhin zu tun.

Für den deutschen Hausgebrauch kann man inzwischen bei Spiegel-Online (SPON) studieren, was postfaktisch bedeutet. Georg Diez fiel mir bereits vor Monaten als Meister dieses Faches auf. Inzwischen hat scheinbar Jakob Augstein seinen Part übernommen. Zogen irgendwelche wunderlichen Leute in irgendwelche Landesparlamente ein, dann schien das für ihn nicht nur unerfreulich, sondern die Vorbotschaft eines sich ankündigenden Armageddons zu sein. Dabei dürfte auch dem Autor bekannt sein: Wer ständig „feurio“ ruft, den nimmt man nicht ernst, wenn es wirklich einmal brennt. Nach den Wahlen in den USA muss der Doomsday für Augstein noch ein Stück näher gekommen sein. Jeden morgen schaue ich deshalb gespannt, ob er der Adoptivsohn des Spiegel-Gründers ein Video postet, in dem er sich geißelt und ausruft: „Kehrt um, denn das Ende ist nahe“. Nur so könnte er seinen immer düsterer werdenden Alarmismus noch irgendwie steigern. Aber bislang hat mich der Maestro enttäuscht. Weiterhin schreibt er bloß vom Untergang der Welt, zumindest der Welt, wie wir sie kennen.

Steht der Doomsday bevor?

Diese Woche fiel mir auf, dass bei SPON nicht nur das Inferno beschworen wird, sondern man auch konstruktiv Möglichkeiten aufzeigt, wie man wenigstens sein persönliches Seelenheil retten kann. Allerdings gibt nicht Augstein himself diese wertvollen Tipps, sondern eine Kollegin, an deren Namen mich zu erinnern ich nicht mehr in der Lage bin (Wow, ich habe den Anfang vom Quijote untergebracht! Wollte ich schon immer machen). Dabei könnten diese SPON-Ratschläge fast von der guten alten Mutter Kirche stammen, die zu früheren Zeiten auch nicht einfach vor der ewigen Verdammnis und dem Höllenfeuer warnte, sondern für jede Schandtat gleich die richtige Buße und im besten Fall sogar den passenden Ablass parat hatte.

Für die SPON-Autorin führt der Weg zum Licht jedoch nicht über Geißelungen, Pilgerfahrten oder großherzige Gaben an die Santa Mater Ecclesia. Veganes Essen soll nun das Passepartout fürs gute Karma sein. Derart positiv soll es auf unser Innerstes einwirken, dass wir uns anschließend gesünder, umweltbewusster und sogar moralisch überlegen (sic!) fühlen. Es könnte auch der Halo-Effekt greifen, heißt es im Text.

Heiligenschein dank Veganismus

Ouhauerha (nach Cervantes nun Brösel, läuft!)! Halo ist englisch und heißt Heiligenschein. So etwas hat die Kirche nicht einmal zu ihren besten Zeiten so billig herausgerückt! Heiligenscheine hatten und haben im Vatikan ihren Preis. Ein paar nachgewiesene Wunder oder eine halbwegs gelungene Wiederauferstehung müssen schon drin sein.

Dass man durch bloßes Essen moralische Überlegenheit oder gar Heiligkeit erlangt, war mir bislang nicht bekannt. Gegessen habe ich eigentlich nur deshalb, weil ich Hunger oder Appetit auf etwas hatte. Für die Seele wähnte ich andere zuständig, die Kirche, den Dalai Lama oder meinetwegen irgendwelche esoterischen Vorstadt-Gurus. Und wenn ich etwas Gutes tun wollte, spendete ich für Tiere in Not oder die Caritas.

Trotz Soja-Latte keine moralische Neugeburt

Nun ist es nicht so, dass ich ständig Fleisch esse. Ich halte es eher mit fettarmer und oft mediterraner Kost. Zudem kauft meine Frau, meines Wissens nach, häufig im Bio-Supermarkt ein. Ein gutes argentinisches Rindersteak halte ich aber für einen Genuss, auf den ich ohne Not nicht verzichten möchte. Dennoch habe ich die Probe aufs Exempel gemacht, kein Fleisch gegessen und mir in Bio-Cafés Soja-Latte aus fairem Handel bestellt, dazu veganen Kuchen. Hinterher fühlte ich mich nicht moralisch neugeboren, sondern nur satter. Auch von einem Heiligenschein war nichts zu sehen. Aber vielleicht braucht es ja ein bestimmtes Quantum Veganismus, bevor das moralische Upgrade kommt. Den genauen Trainingsplan hat die Dame bei SPON ja nicht verraten.

Nun haben der Kollege Thilo Spahl und ich hier bereits mehrfach geschrieben, warum wir Veganismus aus ernährungswissenschaftlichen oder ökologischen Gründen nicht unbedingt für den wahren Jakob halten; andere Autorinnen und Autoren dieser Seite sehen das anders und haben ebenfalls ihre Meinungen vorgebracht. Inzwischen ist aber postfaktisch angesagt! Also keine sachlichen Argumente mehr an dieser Stelle! Wir erklären deshalb nicht, warum es uns wenig ökologisch erscheint, Avocados aus Chile oder Peru um die ganze Welt zu fliegen. Oder warum man sie nicht unbedingt hierzulande unter dem Einsatz von viel Energie im Gewächshaus groß ziehen sollte. Ebenso wenig kritisieren wir, dass viele Veganer Geschmacksverstärker und andere Chemie nutzen, um ab und an den schnöden Fleischgeschmack zu kopieren. Und schon gar nicht bringen wir vor, dass viele Ärzte eine ausgewogene Ernährung befürworten, die Obst, Gemüse, und Ballaststoffe enthält. Aber gelegentlich eben auch Fleisch oder Fisch. Und selbstverständlich ist es uns mittlerweile egal, dass TV-Köchin Sarah Wiener orthodoxen Veganismus einmal mit Mangelernährung in Zusammenhang brachte.

Fleisch essen, weil es schmeckt

Wir leben nunmal in postfaktischen Zeiten. Es muss reichen, dass ich ab und an Fleisch esse, weil es mir schmeckt. So hätte ich gut mit den Usancen der mittelalterlichen Kirche leben können. Gelegentlich ein anständiger Ablass und bei besonders schweren Vergehen ein Bußgang nach Canossa (heute nennt man so etwas wohl Trekking, das könnte sogar fit halten). Dafür gab es Essensvorschriften nur in der Fastenzeit oder an Freitagen. Und Fisch ging sowieso fast immer. Dieser Deal war fair. Aber Bolognese, Schnitzel und Burger mühsam mit irgendwelchen Ersatzstoffen nachzubauen, ohne echte Garantie auf den gleichen Geschmack? Und ohne einen wirklichen Anspruch auf einen Heiligenschein? Der Einsatz ist mir zu hoch, liebes SPON! Schlechter Deal!

Wirklich schwierig erscheint mir vor allem das Moral-Argument. Wer von sich selbst behauptet, besonders moralisch zu handeln, fällt gleichzeitig ein negatives Urteil über andere. Beinahe so, wie der biblische Pharisäer (Lukas 18,9 -14), der Gott dafür dankte, dass er so fromm und gerecht war – und ganz anders als die – damals relativ schlecht beleumundeten – Zöllner. Käme es nun bei vielen Zeitgenossen in Politik und Medien in Mode, mit einem derart erhobenen moralischen Zeigefinger auf Fleischkonsum oder andere nicht goutierte Verhaltensweisen zu deuten, dann sehe ich ernsthaft die Gefahr, dass auch hierzulande viele Menschen dorthin getrieben werden, wo sie in den USA und andernorts bereits gelandet sind.

Vom Preußenkönig lernen

Ich persönlich halte es seit jeher eher mit Preußenkönig Friedrich dem Großen, in dessen Land bekanntlich jeder nach seiner Facon selig werden sollte. Pragmatismus und hin und wieder eine gewisse Egalhaltung scheinen mir durchaus lebenskluge Leitplanken zu sein. Die dogmatischsten Menschen dagegen sind meiner Einschätzung nach tendenziell auch die unglücklichsten. Deren Welt läuft Gefahr, jeden Tag ein Stück unterzugehen. Deshalb: Sollte morgen wirklich der Doomsday bevorstehen, ich würde heute – ganz postfaktisch – noch ein Rindersteak essen.

Andreas Kern

Der Diplom-Volkswirt und Journalist arbeitet seit mehreren Jahren in verschiedenen Funktionen im Bereich Öffentlichkeitsarbeit. Kern war unter anderem persönlicher Referent eines Ministers, Büroleiter des Präsidenten des Landtages von Sachsen-Anhalt sowie stellvertretender Pressesprecher des Landtages. Er hat nach einer journalistischen Ausbildung bei einer Tageszeitung im Rhein-Main-Gebiet als Wirtschaftsredakteur gearbeitet . Aufgrund familiärer Beziehungen hat er Politik und Gesellschaft Lateinamerikas besonders im Blick. Kern reist gerne auf eigene Faust durch Südamerika, Großbritannien und Südosteuropa.

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