Die anderen reflexen bloß.

Eine Aufheizung des Debattenklimas beklagt der Karlsruher Philosoph Peter Sloterdijk in der ZEIT anlässlich kritischer Reaktionen in den sozialen Medien auf sein Gespräch mit der Monatszeitschrift Cicero und Rüdiger Safranskis Einlassungen in der NZZ zur deutschen Flüchtlingspolitik.


Über Platzanweiser und Diskursnässer

Die Philosophie als Königin der Wissenschaften, der Philosoph als Sachwalter des Weltgeistes, waren das nicht längst verabschiedete Konzepte? In Peter Sloterdijk, dem Verfasser zahlreicher faszinierender wie kontroverser philosophischer Bücher, finden sie ihren unverdrossenen Wiedergänger. Die Geschichtsschreibung, die Klasse der Historiker: sie neigten zum „Einknicken vor der Faktizität“. („Um so schlimmer für die Tatsachen“, lautete bekanntlich einst Hegels trotzige Auskunft.) Politikwissenschaftler und Soziologen: Krisengewinnler, verführt von der Illusion, das Handeln der Politik durch ihre Expertise und Beratung entscheidend beeinflussen und unter die Utopie der Planbarkeit stellen zu können. Die Politiker selbst: auf der einen Seite Heroen wie Napoleon und Bismarck mit retrospektiver Einsicht in die Kontingenz ihrer akklamierten Handlungen; auf der anderen mittelmäßige „Übergangsfiguren“ wie Merkel, die vor dem Improvisatorischen ihres Agierens „autohypnotisch“ die Augen verschließen.

Man sieht, Sloterdijk scheut sich nicht, die Plätze anzuweisen und sich selber als letzte Instanz in der Reflexionskette zu inszenieren. Der keiner namentlichen Nennung gewürdigte, aber dank einer wenig subtilen Anspielung für jeden identifizierbare Richard David Precht, ist ihm ein „kleiner Kläffer“, beim Rest der „erfolgreich dressierten Kulturteilnehmer“ fließe „digitaler Speichel“, wenn bestimmte Reizwörter – „Grenze“, „Zuwanderung“, „Integration“ – sich einstellten. Soviel Publikumsverachtung war selten. Das Publikum, doch wohl einschließlich derer, die die Bücher Sloterdijks und Safranskis zu Bestsellern machen, erscheint nicht mehr als vernunftfähiger Teilnehmer am Diskurs, sondern als enthemmte Meute, die auf semantische Reize mit „primitiven Reflexen“ reagiert. Das immunologische Abwehrsystem des Autors, es funktioniert.

Der Wut hingegeben

Sloterdijk versäumt es nicht, die zugrundeliegende Theorie der bedingten und unbedingten Reflexe ausführlich zu entfalten. Das zunächst noch halbwegs distanzierte Referat der Pawlowschen Konditionierungslehre wird ihm unversehens zum Schlüssel, um das Treiben seiner Kritiker, beiläufig aber auch der AfD, zu charakterisieren: Die einen wie die anderen entfliehen dem „bewundernswerten Hemmungssystem >Hochkultur<“ und geben sich der „Beißwut“ hin.

Der Vorwurf ist raffiniert, spannt er doch politische Gegensätze vor denselben Karren beklagenswerter diskursiver Gewalt. Die anderen reflexen bloß, könnte man sagen; dass sie am liebsten nur relaxen würden, konnte man schon Sloterdijks schönem Buch „Du musst dein Leben ändern“ entnehmen, das, aus der Perspektive der 2015 erschienenen „Schrecklichen Kinder der Neuzeit“, nun als Baustein einer zunehmend kulturpessimistischen Weltsicht erkennbar wird.

Sloterdijk tut so, als stehe der in letzter Instanz Reflektierende außerhalb der Profilierungswünsche, die die Geltungsansprüche der anderen Diskursteilnehmer relativieren. Das „menschliche Bedürfnis, recht gehabt zu haben und zu behalten“, von ihm durchschaut und als Humorkiller schön kommentiert, ist es ihm selber denn fremd? „Warum ich doch recht habe“, mit dieser traurigsten aller Überschriften hatte er vor Jahren eine Antwort an seine Kritiker überschrieben, ebenfalls in der ZEIT.

Von Störenfrieden gesäubert

Das alles wäre vielleicht weniger ärgerlich, wenn Sloterdijk am Ende nicht Herfried Münkler, dem einzigen seiner Kritiker, den er intellektuell für satisfaktionsfähig hält, vorhalten würde, „Revierverhalten“ zu zeigen, sich also in genau der vorkulturellen Sphäre zu tummeln, in der sich die anderen ohnehin schon befinden. Ein wunderbarer performativer Widerspruch. Hatte Sloterdijk nicht eben noch sein eigenes Revier von Störenfrieden weitgehend gesäubert?

Wie aber steht es um die konkrete Auseinandersetzung mit den Argumenten der Kritiker? Die haben es Sloterdijk zum Teil nicht eben schwer gemacht: der Tagesspiegel assoziierte einen „Stahlhelm“, Precht fühlte sich nach der Lektüre des Cicero-Gesprächs an Rudolf Höß erinnert.

>Reicht es aber, ihnen mangelnde Kenntnis der „allgemein zugänglichen“ Sloterdijkschen Sphärentheorie vorzuhalten? Kann die Kritik an alarmistischer Wortwahl in publizistischen Texten – „bejahte Überrollung“, „Flutung“ durch „Asylanten“ – und an ihrem mindestens koketten Flirt mit neurechter Rhetorik zum Schweigen gebracht werden unter Hinweis auf 2000 Seiten zuvor zu absolvierender philosophischer Lektüre inklusive des nötigen Verstehens einer bei Dostojewskij ausgeliehenen Metapher, wie Sloterdijk es fordert? Nein, das reicht selbstverständlich nicht.

Ein sprachbewusster Denker „in Metaphern“, wie Münkler nicht ohne Grund formuliert, weiß genau, was er tut, wenn er auf das konventionellste und undifferenzierteste aller Sprachbilder, die Flut, zurückgreift, um die Flüchtlingskrise zu illustrieren. Gerade Sloterdijk hätten wir eine Sprache zugetraut, die den Vorgang weder euphemistisch noch alarmistisch intoniert, die nicht an der „Aufheizung des Diskurses“ mitarbeitet, sondern ihm so plastisch wie vernünftig eine neue Prägung gegeben hätte.

Burkhard Wahle

Burkhard Wahle, geb. 1965, arbeitet als Lehrer für Philosophie, Deutsch und Darstellendes Spiel in Münster/Westfalen

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