Das Imperium zieht sich zurück
Umbrüche und Kriege in der arabischen Welt und die von ihnen ausgelösten Fluchtbewegungen Richtung Europa haben ihre Ursache nicht im amerikanischen Interventionismus, sondern in dessen Abwesenheit.
Bei der Frage nach den Ursachen der Entstehung des IS, des Krieges im Irak und in Syrien und den Fluchtbewegungen aus dem arabischen Raum Richtung Europa scheint von rechts bis links weitgehend Einigkeit zu bestehen: Erst die kriegerischen imperialistischen Interventionen der Vereinigten Staaten hätten dieses Gebiet ins Chaos gestürzt, so die fast einhellige Meinung. Was aber, wenn das Gegenteil zutrifft und der Verlust an amerikanischer und nicht zuletzt auch an sowjetischer/russischer Interventionsfähigkeit für das Chaos verantwortlich sind?
Was ist ein Imperium?
Was zeichnet ein Imperium aus? Und wie agiert es innerhalb und außerhalb seines Machtbereichs? Der Historiker Bernhard Jussen hat in der Beck’sche Reihe ein äußerst empfehlenswertes Buch über Die Franken verfasst. Darin erzählt er eine kleine Episode, die sich Ende des 4. Jahrhunderts am westlichen Rand des Römischen Imperiums zutrug. Wir schreiben das Jahr 392. Der Westen des Römischen Reiches wird von Valentian II. regiert, der in Trier und Vienne residiert. Schon seit längerem stützten sich die Kaiser dieses Gebietes auf fränkische Heerführer und Soldaten. Einer dieser Heerführer, Arbogast, war nicht durch einen Kaiser eingesetzt worden, sondern hatte sich von seinen ihm treu ergebenen Soldaten ausrufen lassen. Ein klassischer Fall von Usurpation. Arbogast war sich seiner Macht durchaus bewusst und signalisierte gegenüber dem Kaiser deutlich, sich nur an jene Befehle gebunden zu fühlen, die er selbst gut heiße. Das wollte und konnte Valentian II. nicht dulden. Er ließ Arbogast nach Trier kommen und übergab ihm dort persönlich seine Entlassung. Laut Überlieferung quitierte Arbogast dieses Schreiben mit den Worten: „Du hast mir das Amt nicht gegeben und wirst es mir auch nicht nehmen können.“ Dann zerriss er das Papier und verließ den Thronsaal. Kurze Zeit später wurde Valentian II. in Vienne ermordet, vermutlich auf Befehl Arbogasts. Und Rom reagierte – zunächst gar nicht.
Imperien müssen intervenieren
Lassen wir die historischen Spezifika beiseite, die dazu führten, dass ein Mann wie Arbogast, ein Nicht-Römer, am Ende des 4. Jahrhunderts in eine derart machtvolle Position gelangen konnte, dass er überhaupt auf die Idee kam, dem Kaiser zu trotzen (wiewohl eine gewisse Parallele zu Sadam Hussein nicht zu übersehen ist) und betrachten ausschließlich die Situation, die sich durch das Nichthandeln Roms ergab. Das Gebiet des späteren Frankenreichs war integraler Bestandteil des Römischen Imperiums. Es gehörte zu seiner Einfluss- und Interessenssphäre. Imperien, so Jussen, „verkehren, anders als Staaten, nicht mit Gleichen.“ Sie verhandeln allenfalls mit anderen Imperien auf Augenhöhe, etwa über die Aufteilung von Interessensgebieten. Innerhalb jenes Raums, der als Teil des Imperiums betrachtet wird, sowie in ihrem Grenzbereich intervenieren sie. Ihre wichtigste Eigenschaft als Imperium ist die Interventionsfähigkeit. Sie garantiert weitgehenden Frieden im Inneren – die Pax Romana – und relative Ruhe an den Grenzen.
Ein Imperium, so könnte man sagen, ist gefordert, seine Interessen mit allen dafür erforderlichen Mitteln durchzusetzen, will es Imperium sein und bleiben. Dass Rom auf die Anmaßung des Arbogast und den Mord an Valentian II. nicht reagierte, kam der Kundmachung gleich, in diesem Gebiet und gegenüber den Franken keine Interessen mehr zu verfolgen. Ein Imperium, das nicht mehr interveniert, gibt ein Gebiet auf und hinterlässt einen postimperialen Raum. Dieser unterscheidet sich in einem Punkt wesentlich von einem postkolonialen Raum: Letzterer wurde in der Regel von innen heraus erkämpft, durch eine Widerstandsbewegung, die bereits während des Kampfes am Aufbau alternativer Machtstrukturen arbeitete, die mit dem Rückzug der Kolonialmacht den Raum füllen können. Demgegenüber entsteht ein postimperialer Raum durch den stillen Rückzug des Imperiums, so dass in der Regel keine anti-imperialen Gegenmodelle zu den Machtstrukturen des Imperiums existieren. Die imperiale Macht hinterlässt ein Machtvakuum.
Aus vielen Gründen lässt sich das fränkische Gebiet des 4. Jahrhunderts nicht mit den arabischen Gebieten der heutigen Welt vergleichen. Um nur die zwei wichtigsten zu nennen: Im Gebiet der Franken gab es keinerlei Rohstoffe und auch sonst keine Produkte, die von gesteigertem Interesse für das imperiale Zentrum gewesen wären und jenseits seiner Grenze, weiter im Westen, gab es keine Macht, die von außen hätte eindringen und das Machtvakuum füllen können – eine historische Besonderheit, die dieses Gebiet auch strategisch uninteressant machte. Wenn wir heute auf das Gebiet etwa des Irak blicken, dann ziehen Ölreichtum und strategische Lage Interventionsmächte von nah und fern an wie ein Honigtopf die Fliegen: Iran, Türkei, USA, GB, Frankreich, Russland, Saudi Arabien, Katar und nicht zuletzt Deutschland. Das scheint in seiner Auswirkung allerdings einen ähnlichen Effekt zu haben wie das Nichtvorhandensein solcher Interessen von außen: Keine Gruppe im Inneren des Irak (und Syriens) ist aktuell in der Lage, ihre Macht zu konsolidieren und, damit zusammenhängend, keine der intervenierenden Mächte von außen ist in der Lage, ihre Ziele durchzusetzen – genau das wäre aber notwendig, um das Gebiet, wenn auch gewaltsam zu befrieden.
Der Verlust der Macht
Von 1945 bis 1989 war die Welt recht einfach strukturiert. Es gab zwei Imperien, die den Großteil der Welt in Form von Interessenssphären untereinander aufgeteilt hatten. An den Grenzen ihrer jeweiligen Interessenssphären kam es zwar immer wieder zu kriegerischen Auseinandersetzungen, die aber regional begrenzt blieben. Es ging in der Regel darum, dass ein Land unter dem Schutz und Einfluss des einen Imperiums stand, während das andere eine Widerstandbewegung förderte und finanzierte – die beiden Machtzentren ließen ihre Konflikte stets von anderen austragen.
Der Rückzug der sowjetischen Armee aus Afghanistan markierte den Anfang vom Ende des sowjetischen Interventionismus und damit des sowjetischen Imperiums überhaupt. Aber anders als die These vom Ende der Geschichte glauben machen wollte, beginnt an diesem Punkt erst die postimperiale Geschichte. Der Verlust der Interventionsfähigkeit des einen Imperiums eröffnete jene Räume, in denen sich andere Kräfte ausbreiten konnten und führte in relativ kurzer Zeit zum Verlust der Interventionsfähigkeit auch des anderen Imperiums. Bereits im ersten Golfkrieg 1991 gelang es den USA nicht mehr, ihre Interessen zur Gänze durchzusetzen. Zudem entstand parallel dazu in Afghanistan ein typischer postimperialer Raum, in dem verschiedene Warlords versuchten, ihre jeweiligen Machtsphären auszudehnen. Nach 9/11 dienten sowohl der Krieg in Afghanistan als auch der zweite Krieg im Irak dazu, die amerikanische Interventionsfähigkeit unter Beweis zu stellen und die eigenen Interessen doch noch durchzusetzen. Diese Versuche können als gescheitert betrachtet werden. Parallel zu diesem Scheitern gelang es mehr und mehr Regionalmächten, sich aus der Abhängigkeit vom Imperium zu befreien und ihre Macht zu konsolidieren: Saudi Arabien, Katar, die Türkei, aber auch der Iran, der sich seit der islamischen Revolution 1979 als eigene Größe etablieren konnte, sollten in der Folge ihre Machtsphären ausdehnen.
Halbe Intervention
Als besonders fatal erwies sich der zweite Golfkrieg, weil diese Intervention auf halbem Wege stehen blieb. Die alten Machtstrukturen wurden zerstört, ohne dass es einen erkennbaren Plan gegeben hätte, diese zu ersetzen. Dadurch entstand im Irak jener postimperiale Raum, in dem sich schließlich der IS ausbreiten konnte und in den aktuell immer mehr regionale Kräfte mit ihren je eigenen Interessen hineindrängen. Die aktuelle amerikanische Politik der Luftschläge ist nur ein weiterer Beleg für den Verlust der amerikanischen Interventionsfähigkeit, denn sie demonstriert sichtbar, dass die USA weder in der Lage sind, diesen Raum zu beherrschen, noch über einen regionalen Partner verfügen, der diese Aufgabe für sie übernehmen könnte.
Der Rückzug der beiden Imperien hat, nicht nur im Irak, sondern auch andernorts, etwa im Jemen und Libyen, ein Machtvakuum hinterlassen. Der Bezug auf das Imperium, sowohl der diversen Mächte in diesen Räumen und um sie herum als auch etwa bei den EU-Staaten, zeigt sich in dem ambivalenten Verhältnis gegenüber den USA: Die Stimmung schwankt stets zwischen den Polen einer totalen Verdammung des US-Interventionismus und dem Wunsch oder gar der Aufforderung an die USA, bitte endlich etwas zu tun, endlich einzugreifen, endlich zu intervenieren. Letzteres gilt für fast alle kriegerischen Konflikte der letzten 25 Jahre, von Bosnien über den Nahostkonflikt bis hin zu Libyen, Syrien und dem Irak.
Es geht an dieser Stelle nicht darum, dem US-Interventionismus das Wort zu reden, sondern einzig um den Versuch einer historischen Analyse der derzeitigen Situation in weiten Teilen der islamischen Welt. In diesem Zusammenhang ist der Imperialismus schlicht eine historische Tatsache. Weite Teile der bisherigen Menschheitsgeschichte wurden von Imperien bestimmt, von den altorientalischen Großreichen über Rom, das Arabische und das Osmanische Reich bis hin zu den USA, die die Geschichte der vergangenen hundert Jahre maßgeblich beeinflussten. Damit scheint es vorbei zu sein. Was wir im Augenblick erleben ist das unmittelbare Ergebnis des Rückgangs dieses Einflusses. Das führt in immer größeren Gebieten zum Entstehen postimperialer Räume mit allen damit verbundenen Folgen.
Nach dem Tod Valentian II. war das Gebiet des späteren Frankenreiches über 100 Jahre hinweg von Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Warlords geprägt, ehe sich um das Jahr 500 herum mit Chlodwig ein Herrscher durchsetzen konnte, dem es gelang, das Gebiet zu konsolidieren und den Grundstein für das Frankenreich zu legen. Dazu gehörte allerdings mehr, als nur militärische Macht. Diese reicht allenfalls aus, um ein Gebiet kurzfristig der eigenen Gewalt zu unterwerfen. Die Konsolidierung der Macht und damit eine dauerhafte Herrschaft sind „auch auf ideologische und politische Macht angewiesen, also auf ein verbindendes gedankliches Orientierungssystem und auf akzeptierte Verfahren des Regierens, der Aufgabenverteilung und Entscheidungsfindung.“ (Jussen, 28) Dem stehen derzeit die vielen Konflikte entlang religiöser und ethnischer Grenzen innerhalb der islamischen Welt im Weg. Ein alle Menschen verbindendes Orientierungssystem setzt jedoch voraus, dass etwas Gemeinsames die verschiedenen Religionen und Ethnien unter sich duldet, ohne einer von ihnen den Vorrang gegenüber anderen einzuräumen. Davon ist der größte Teil der islamischen Welt derzeit noch weit entfernt.
Lesen Sie auch
Die Leonid Luks Kolumne Auf der Suche nach dem Gleichgewicht
Die letzte Kolumne von Heiko Heinisch: Die Zukunft der arabischen Welt
Oder von Alexander Wallasch: Krieg ist Terror, der neuen Terror hervorbringt.
Schreibe einen Kommentar