Die unverzichtbare Leichtigkeit des Seins

„Die fabelhafte Welt der Amélie“ ist ein Feuerwerk der Lebensfreude und der Zuversicht, eine Ode an die kleinen Dinge des Lebens. Amélies Passion ist es, andere Menschen glücklich zu machen. Was wäre, wenn es Amélie wirklich gäbe? Könnte sie auch hierzulande die Stimmung aufhellen?


Wenn man als Erwachsener die Windpocken bekommt, dann hat das viele Nachteile: Juckreiz, Fieber und ein ziemlich mieses Allgemeinbefinden. Der einzige Vorteil: Man hat Zeit genug, um Dinge zu tun, für die man zuvor niemals Zeit oder Muße hatte. So stellte ich – drei Tage vor dem letzen Weihnachtsfest, fiebrig auf der Couch liegend – fest, dass auf einem Spartenkanal „Die fabelhafte Welt der Amélie“ lief. Ein dreizehn Jahre alter Film, von dem mir ein frankophiler Kollege einst in den höchsten Tönen vorschwärmte, den ich aber in Ermangelung irgendeiner TV-kompatiblen Erkrankung nie gesehen hatte.

Um es kurz zu machen: Trotz 39 Grad Fieber hätte ich keine bessere Entscheidung treffen können. „Amélie“ sprudelt vor Leichtigkeit und Poesie, liebevollen Details und wundervollen Bildern. Schon nach ein paar Minuten war ich gefangen in dieser zauberhaften Welt der Amélie; einer Welt voller Eigentümlichkeiten – mit einer zuckergusssüßen Kulisse und skurrilen Charakteren, die nicht nur ganz Frankreich über Monate hinweg begeistertet hatten.

„Amélie“ müsste es auf Rezept geben

Fieber? Windpocken? Für die Länge dieses Films vergessen! Vielleicht sollten Ärzte „Amélie“ per Rezept verordnen? Gewiss enthält der Film weniger negative Nebenwirkungen als Paracetamol oder Ibuprofen – hilft aber trotzdem.

Zum Inhalt: Amélie, eine verträumte, schüchterne junge Frau, arbeitet in einem Café am Montmartre in Paris. Dort versammeln sich die einsamen Herzen und gescheiterten Existenzen der Stadt. Um ihrem bis dato orientierungslosen Sein eine Richtung zu geben, beschließt Amélie, andere Menschen glücklich zu machen. Und so beginnt sie, viele verschwenderische rosa-rote Wolken in den Alltag zu zaubern. Sie befreit die verborgenen Sehnsüchte und hilft, verschollene Leidenschaften wieder zu Leben zu erwecken.

Eine cinematoscopische Sehnsuchtsreanimation: Sie verkuppelt eine unbefriedigte Hypochonderin, lässt der trauernden Witwe Liebesbriefe ins Haus flattern und verhilft einem Gartenzwerg zu einer Weltreise. Dabei zählt – beinahe wie in den Bildern von Monet oder Manet – nur der Glanz des Augenblicks; kleine Dinge werden groß, die Sorgen der Welt klein. Der „Spiegel“ schrieb: „Amélie ist wie ein guter Geist oder Katalysator, der Resignation in Euphorie umwandelt.“

Es swingt und glückt federleicht

So glänzt dieser Film mit Güte und Herzenswärme – mit Freundlichkeit und unaufdringlicher Moral. Dabei befinden sich fast alle Figuren irgendwie außerhalb der gesellschaftlichen Normen. Doch gerade deshalb schenkt „Amélie“ ihnen Zuneigung. Und betrachtet sie liebevoll mit ihren kohlrabenschwarzen Klavierlackaugen. Alle Menschen, so die subtile Botschaft, – egal wie verrückt ihr Spleen auch sein mag – fühlen sich besser, wenn man sie ernst nimmt und mit Respekt behandelt. Wäre ein deutscher Regisseur auf die Idee gekommen, eine ähnliche Botschaft auszusenden, der erhobene Zeigefinger wäre wohl im Zustand der Dauererrektion verharrt. Hier swingt und glückt es einfach nur federleicht vor sich hin; immer zu Herzen gehend.

Die Windpocken sind überwunden, „Amélie“ ist zwischenzeitlich in Vergessenheit geraten. Ihre zuckersüße Welt wurde durch andere Bilder abgelöst. Krieg, Terror, Gewalt, unendliche Flüchtlingsströme, überforderte Helfer und Kommunalpolitiker allenthalben. Anscheinend höchste Zeit für eine Dosis „Amélie“. Eine gewisse Leichtigkeit des Seins ist manchmal doch unverzichtbar.

Nur „hell“ und „dunkel“ – kaum noch Zwischentöne

Gewiss löst es kein Probleme, sich in eine fabelhafte Welt des Eskapismus zu flüchten. Aber die gereizte Stimmung, die sich hierzulande ausbreitet, muss doch aus medizinischer Sicht auch schädlich sein. Mindestens wie Windpocken im Erwachsenenalter. Zappt man in irgendeine X-beliebige Talkshow, dann meint man, dass sich dieses manichäische Sprachbild unseres Bundespräsidenten mehr und mehr in der Realität verfestigt. Hier die „helle“ Reschke, dort der „dunkle“ Höcke – so in etwa habe ich eine der jüngsten Ausgaben der Talkshow von Günther Jauch wahrgenommen. Die Vertreter der Zwischentöne laufen Gefahr, im Schatten zu bleiben. Respekt für den Gegenüber? Viel zu oft verloren gegangen! Ein deutsch-türkischer Autor, der einmal für seine Katzenkrimis berühmt war, dreht noch eine Runde höher, indem er seine hetzerischen Reden und Pamphlete mit Vokabeln aus der untersten Schublade der Gossensprache anreichert.

Zwischen hetzerisch-rassistischem Geifer und moralisch überhöhtem Eifer scheint ein nüchterner, kühler öffentlicher Sachdiskurs oft nicht üblich zu sein. Eine derartige Konfrontation, eine solche Spaltung der Meinungen ist mir selbst aus der Zeit der Nachrüstung – ok, damals war ich deutlich minderjährig und kann daher nur bedingt mitreden – nicht in Erinnerung. Lediglich aus Chile, der Heimat meiner Frau, kenne ich – aufgrund der komplizierten jüngsten Geschichte des Landes – eine ähnlich scharfe Trennlinie zwischen den unterschiedlichen Haltungen oder Ansichten. Die Frage, wie hältst oder hieltst Du es mit Pinochet, entzweit dort noch heute Familien, Nachbarn und Arbeitskollegen.

Pirincci schreibt wieder Katzenkrimis, Schweiger kommt tiefenentspannt daher

Vielleicht wünsche ich mir deshalb – zugegeben, ein bisschen verträumt, aber mit allem Ernst der eigenen Erfahrung, dass sich die aufgeregten Teilnehmer des Diskurses mal einen Kino-Abend mit Amélie gönnen. Eventuell könnte das die Stimmung heben, die Empathie ankurbeln – und zur Entspannung der Gesamtsituation beitragen.

Besser wäre natürlich, Amélie gäbe es wirklich – und sie würde uns genauso bezaubern, wie sie es mit ihren fiktiven Mitmenschen gemacht hat. Man stelle sich nur vor: Autor Pirincci fände dank Amélies` Vermittlung endlich die Liebe seines Lebens. Die entsprechende Dame würde ihn spontan bitten, doch wieder seiner wahren Mission nachzukommen – und die Welt mit weiteren Katzenkrimis zu versorgen. Oder die Welt mal aus Katzenaugen zu betrachten, den Katzenaugen seiner Liebsten. Pegida-Bachmann könnte Amélie in einen erfolgreichen Selfmade-Unternehmer verwandeln – der nur noch in seinem Büro sitzen und die aktuellen Gewinne berechnen möchte.

Til Schweiger wäre in dieser Fabelwelt ein ganz großer Schauspieler, der Preise gewinnt und still und leise Notleidenden hilft. Er wäre so tiefenentspannt und ausgeglichen, dass ihn all seine Mitmenschen als steten Quell der Lebensfreude schätzen und lieben.

Göring-Eckardt und Söder – savoir-vivre in Paris

Katrin Göring-Eckardt und Markus Söder säßen relaxt mit einer Gauloises in der Hand sowie einem Café au lait auf dem Tisch in Amélies Pariser Bistro. Söder würde noch ein, zwei Pastisse bestellen und mit jedem Schluck seliger lächeln – hinüber zur Katrin. Dabei vergessen alle für einen Moment die böse Welt, das böse Klima oder die Probleme in den niederbayerischen Landkreisen und sonstwo. Anschließend würde man untergehakt mit den vermischten Parteivorständen noch eine gemeinsame Bootsfahrt auf der Seine unternehmen. Singend, tanzend, staunend über die Welt – im Kleinen wie im Großen

Aber „Amélies“ fabelhafte Welt ist eben doch bloß eine Fiktion, irgendwann nach dem Abspann holen einen die Sorgen dieser Welt ein – und unsere Streithähne zanken wohl immer weiter. Und wenn Sie nicht verstritten sind, dann schauen sie gerade…na, Sie wissen schon!

 

 

Andreas Kern

Der Diplom-Volkswirt und Journalist arbeitet seit mehreren Jahren in verschiedenen Funktionen im Bereich Öffentlichkeitsarbeit. Kern war unter anderem persönlicher Referent eines Ministers, Büroleiter des Präsidenten des Landtages von Sachsen-Anhalt sowie stellvertretender Pressesprecher des Landtages. Er hat nach einer journalistischen Ausbildung bei einer Tageszeitung im Rhein-Main-Gebiet als Wirtschaftsredakteur gearbeitet . Aufgrund familiärer Beziehungen hat er Politik und Gesellschaft Lateinamerikas besonders im Blick. Kern reist gerne auf eigene Faust durch Südamerika, Großbritannien und Südosteuropa.

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