Die trügerische Stabilität: Vor hundert Jahren begannen in Europa die „goldenen“ Zwanziger Jahre

Im Jahre 1924 schienen die Europäer die Nachkriegskrise, die den Kontinent seit Ende 1918 erschüttert hatte, überwunden zu haben. Dennoch stand die mühsam errungene europäische Stabilität auf brühigem Fundament. Kolumne von Leonid Luks.


Paradigmenwechsel in der westlichen Politik nach der Ruhrbesetzung

Solange die europäische Nachkriegsordnung vom besiegten Deutschland radikal abgelehnt wurde, war die Wiederherstellung der politischen Stabilität in Europa undenkbar. Zu Beginn der 1920er Jahre versuchten die Westmächte immer noch, die Weimarer Republik mit Pressionen zur Anerkennung der Versailler Ordnung zu zwingen. Den Höhepunkt dieser harten Politik des Westens dem bezwungenen Deutschland gegenüber stellte bekanntlich die im Januar 1923 begonnene Ruhrbesetzung dar. Aber gerade die Ruhrbesetzung zeigte, wie kontraproduktiv die Politik der direkten Pressionen war. Sie stürzte Deutschland in den finanziellen Ruin und in eine revolutionäre Situation, die Westmächte erzielten jedoch dadurch kaum Vorteile. In Frankreich wurden nun die Kräfte, die Deutschland gegenüber eine versöhnlichere Politik führen wollten, immer stärker. Diese neue Stimmung äußerte sich bei den französischen Parlamentswahlen, die im Mai 1924 stattfanden. Den Sieg trug das sog. Linkskartell, die Gegner der bisherigen extrem nationalistischen Politik, davon. Raymond Poincaré, der zu den wichtigsten Verfechtern eines antideutschen Kurses in der politischen Klasse Frankreichs zählte, musste zurücktreten. Sein Nachfolger war der liberale und versöhnliche Edouard Herriot. Auch in Deutschland wuchs die Kompromissbereitschaft gegenüber den Westmächten. Diese Entwicklung war nicht zuletzt mit der erfahrenen Ohnmacht zur Zeit der Ruhrbesetzung eng verknüpft. Der englische Historiker Alan J. P. Taylor sagt, man habe in Deutschland im Grunde erst während der Ruhrbesetzung begriffen, dass das Land den Krieg verloren hatte. Dies war in der Tat offensichtlich. Das wichtigste Industriegebiet des Reiches wurde von den westlichen Truppen okkupiert und die Reichsregierung war nicht imstande, wirksame Schritte dagegen zu unternehmen.

Die Rückkehr der USA nach Europa

Die wichtigste Voraussetzung für die Entspannung in Europa war indes die Sanierung der europäischen, vor allem der deutschen Wirtschaft. Und diese Voraussetzung wurde im Jahre 1924 in der Tat geschaffen. Der Chronist der Weimarer Republik, Arthur Rosenberg, sagt, im Dezember 1923 hätte ein kritischer Beobachter keine fünf Mark für das weitere Bestehen der Weimarer Republik gegeben. Als der Frühling gekommen war, sei der militärische Ausnahmezustand klanglos aufgehoben worden, die Währung sei stabil geblieben und ohne viel Aufsehen und Kämpfe sei plötzlich die Demokratie wieder akzeptiert worden. Dieses Wunder sei durch die New Yorker Börse erreicht worden.

Die Vereinigten Staaten kehrten in der Tat im Jahre 1924 nach Europa zurück. Das wirtschaftliche und politische Chaos in den europäischen Staaten, die zu den wichtigsten Handelspartnern der USA gehörten, konnte die Vereinigten Staaten – die damals bereits wichtigste Industrie- und Wirtschaftsmacht der Welt – trotz ihrer isolationistischen Neigungen, nicht gleichgültig lassen. Auch war in diesem Zusammenhang wichtig, dass Frankreich und Großbritannien ihre beträchtlichen Kriegsanleihen an die Vereinigten Staaten nicht zurückzahlen konnten, da sie auf die Reparationen aus Deutschland warteten. All diese Faktoren führten zu einer amerikanischen Intervention, die eine großzügige Kreditpolitik (Dawes-Plan) zum Inhalt hatte. Diese Intervention trug innerhalb kürzester Zeit zur wirtschaftlichen Stabilisierung Deutschlands und des europäischen Kontinents bei.

Der Weg nach Locarno

Die unerwartete wirtschaftliche Stabilisierung konnte allerdings ohne die Beseitigung der politischen Spannungen auf dem europäischen Kontinent nicht gesichert werden. Der allgemeine Wunsch nach der Beseitigung der Folgen des Krieges setzte sich in Europa nun immer stärker durch, vor allem in Großbritannien, in Frankreich und in Deutschland. Zu den Vätern der damaligen deutsch-westlichen Entspannung gehörten die Außenminister dieser drei Länder: Sir Joseph Austin Chamberlain, Aristide Briand und Gustav Stresemann. Im Juni 1925 wurde das Ruhrgebiet geräumt, im Oktober 1925 der Locarno-Vertrag, in dem die Frage der deutschen Westgrenze endgültig geregelt wurde, unterzeichnet. Im September 1926 trat Deutschland dem Völkerbund bei.

Sowjetische Reaktionen auf die Überwindung der Nachkriegskrise im Westen.

Wie reagierte die Sowjetunion auf diese Entwicklung? Die Aussöhnung zwischen dem Westen und der Weimarer Republik beunruhigte Moskau. Gleichzeitig begann aber damals die Sowjetunion selbst ihre Beziehungen zum Westen zu normalisieren. Beide Staaten waren also nicht mehr so sehr aufeinander angewiesen, wie noch kurz zuvor (vgl. dazu den Vertrag von Rapallo vom April 1922). Der erste Staat aus dem Lager der Siegermächte, der sich bereit erklärte, die Sowjetunion diplomatisch anzuerkennen, war zur allgemeinen Überraschung der Weltöffentlichkeit das faschistische Italien. Am 30. November 1923 erklärte Benito Mussolini im italienischen Parlament, er sei bereit, die Sowjetunion anzuerkennen, falls er dafür bestimmte wirtschaftliche Konzessionen erhalten würde. Bisher war die Sowjetunion von keiner Siegermacht diplomatisch anerkannt worden, und das Zerbröckeln der Einheit der Ententemächte in dieser Frage war also für die sowjetische Führung durchaus willkommen. Die Tatsache, dass gerade Mussolini – der „Inspirator der internationalen Gegenrevolution“ – als erster die Einheitsfront der Entente durchbrochen hatte, störte die sowjetische Führung kaum. Die Erklärung Mussolinis beschleunigte den Prozess der Anerkennung der Sowjetunion durch die Ententemächte. Als Anfang Dezember 1923 die Labour Party, die die Anerkennung der Sowjetunion befürwortet hatte, die Wahlen in Großbritannien gewonnen hatte, kam es zu einem echten Konkurrenzkampf zwischen London und Rom, wer als erster die Sowjetunion anerkennen werde. Diesen Wettkampf gewann Großbritannien, das einige Tage vor Italien – am 4. Februar 1924 – die sowjetische Regierung de jure anerkannte. Am 7. Februar 1924 erfolgte die diplomatische Anerkennung der Sowjetunion durch das faschistische Italien, im Oktober 1924 wurde die Sowjetunion durch die liberale französische Regierung Herriot anerkannt.

Trotz dieser Entwicklung reagierte man in Moskau mit recht großem Unbehagen auf den Geist von Locarno, der den Geist von Rapallo abzulösen begann. So kritisierte Moskau die Absicht Deutschlands, dem Völkerbund beizutreten. Der Völkerbund sei der Klub der Sieger, sagte der Volkskommissar für äußere Angelegenheiten Tschitscherin im Gespräch mit dem deutschen Botschafter in Moskau, Graf Brockdorff-Rantzau.

Zwischen Ost und West – Stresemanns außenpolitisches Konzept

Trotz solcher Befürchtungen Moskaus neigte aber Gustav Stresemann keineswegs dazu, den „russischen Faktor“ in der deutschen Außenpolitik zu vernachlässigen. Um die sowjetischen Ängste zu beschwichtigen, schloss er im April 1926 mit der Sowjetunion in Berlin einen Vertrag, der eine Art Gegengewicht zum Locarno-Vertrag bilden sollte. Er bestätigte alle Punkte des Rapallo-Vertrages.

In gewisser Hinsicht erinnert die außenpolitische Konzeption Stresemanns an diejenige der Bundesregierung Brandt/Scheel (1969-1974), allerdings mit einem umgekehrten Vorzeichen. In beiden Fällen ging man davon aus, dass Deutschland sich sowohl mit dem Osten als auch mit dem Westen aussöhnen müsse. Die sozial-liberale Koalition von 1969 strebte nach einer Aussöhnung in Richtung Osten, nachdem die Westintegration der Bundesrepublik abgeschlossen war. Stresemann hingegen strebte die Entspannung im deutsch-westlichen Verhältnis an, nachdem die Beziehungen mit Sowjetrussland sich dank des Rapallo-Vertrages normalisiert hatten. Es bestand allerdings zwischen den beiden Konzepten ein wesentlicher Unterschied. Stresemann dachte bei der Normalisierung der Beziehungen mit dem Osten, im Gegensatz zur Regierung Brandt-Scheel, nur an die Sowjetunion, nicht an Polen. Auf die Revision der deutsch-polnischen Grenze wollte er auf keinen Fall verzichten. Er hoffte sogar, dass die Westmächte im Laufe der Zeit der Revision der deutschen Ostgrenze zustimmen würden. Nicht zuletzt aus diesem Grund wird die Stresemannsche Politik von vielen polnischen Autoren mit äußerster Schärfe kritisiert. Auch im Moskau der 1920er Jahre wurde die deutsch-westliche Aussöhnung immer kritischer bewertet. Trotz des Berliner Vertrages gelang es Stresemann nicht, die Ängste der sowjetischen Führung vor einer weitergehenden außenpolitischen Isolierung zu beschwichtigen. Im Januar 1927 äußerte sich in diesem Zusammenhang der Chefideologe der bolschewistischen Partei, Nikolaj Bucharin:

Wenn Deutschland in der vorausgegangenen Entwicklungsphase in Bezug auf die westeuropäischen Staaten als isolierte Größe dastand und kraft der gesamten Lage der Dinge zu uns hin neigte, so hat sich die gegenwärtige Lage radikal geändert. Deutschland hatte eine ziemlich entschiedene Wendung nach dem Westen vollzogen … Deutschland tritt jetzt ein in das Konzert der ‚voll- und gleichberechtigten‘ imperialistischen Staaten, es ‚wendet sich ab‘ vom Osten und schlägt den Kurs nach Westen ein.

Die Brüchigkeit des Stresemannschen Systems

Die Ängste der sowjetischen Führung vor einer dauerhaften Aussöhnung zwischen Deutschland und dem Westen waren indes unbegründet. Stresemanns prowestlicher Kurs wurde von vielen politischen Gruppierungen in der Weimarer Republik vehement abgelehnt. Insbesondere betraf dies die Weimarer Rechte, so auch die damals sehr einflussreichen Autoren der sogenannten „Konservativen Revolution“. Die Härten des Versailler Vertrages, der sich übrigens in seinem Charakter nicht allzu stark von dem deutschen Siegfrieden in Brest-Litowsk vom März 1918 unterschied, hielten die Verfechter der Konservativen Revolution für einen ausreichenden Grund, um die bestehende europäische Ordnung in die Luft zu jagen.:

Wir sind ein Volk in Bedrängnis“, schrieb 1923 einer der Verfechter der Konservativen Revolution Arthur Moeller van den Bruck: „Und der schmale Raum, auf den man uns zurückgedrängt hat, ist die unendliche Gefahr, die von uns ausgeht. Wollen wir nicht aus dieser Gefahr unsere Politik machen?.

Den Weimarer Staat, den Stresemann durch seine Politik der Kompromisse stabilisieren wollte, hielten die Verfechter der Konservativen Revolution wie auch andere rechte Gruppierungen nicht für erhaltenswert. Der Politologe Hans Buchheim schrieb 1958 in diesem Zusammenhang:

Der nationale Stolz, der die Niederlage nicht anerkennen …wollte, gegen den Kriegsgegner jedoch vorerst nichts auszurichten vermochte, wendete sich deshalb gegen den eigenen Staat, als sei dessen Beseitigung die Vorbedingung… zum Wiederaufstieg.

So stand, die Mitte der 1920er Jahre erreichte Stabilität der „ersten“ deutschen Demokratie auf sehr brüchigem Fundament.

Die Furcht vor der Freiheit

Aber nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen europäischen Ländern machten sich Tendenzen bemerkbar, welche die so mühsam errungene europäische Stabilität auszuhöhlen drohten. Besonders sensibel reagierten auf diese Tendenzen einige russische Exildenker, die bereits im Oktober 1917 in ihrem eigenen Land zu Zeugen und Opfern des ersten totalitären Experiments der Moderne geworden waren. Den in Paris lebenden russischen Exilhistoriker, Georgi Fedotow, beunruhigte z. B. die Tatsache, dass der moderne Europäer den Wert der Freiheit immer weniger schätze:

Er verrät die Freiheit auf Schritt und Tritt – in der Politik, im gesellschaftlichen Leben, in der Religion. Die Freiheit stellt für ihn einen diskreditierten Begriff dar, ein Symbol der Ohnmacht und der bürgerlichen Anarchie

Die „Furcht“ der Europäer vor der Freiheit; die Erich Fromm 1941 in seinem berühmt gewordenen Buch beschreiben sollte, wurde also von Fedotow bereits dreizehn Jahre zuvor konstatiert.

Eine andere Tendenz, die Fedotow außerordentlich beunruhigte, war der Hang der modernen Europäer zum Kollektivismus. Er schrieb (ebenfalls im Jahr 1928) Folgendes dazu:

Früher versuchte jedes Individuum sich selbst treu zu bleiben, und zugleich gehörte es verschiedenen Organisationen an, um seine unterschiedlichen Bedürfnisse zu befriedigen. Diese gleichzeitige Zugehörigkeit zu mehreren Verbänden ist nun immer weniger möglich. Jede Organisation verlangt vom jeweiligen Individuum eine totale Identifikation mit ihr, wie mit seinem Stamm … oder seiner Nation. …Von jedem Mitglied fordert sie Treue und Gehorsam – die Disziplin eines Soldaten.

Ähnlich besorgt in die Zukunft blickte einer der Führer der Sozialistischen Partei Italiens, Filippo Turati. Im Jahre 1928, inmitten der damals in Europa herrschenden Friedenseuphorie, war Turati davon überzeugt, dass der Faschismus, der aus dem Krieg geboren sei, auch selbst unbedingt den Krieg erzeugen werde. Konsolidiert und ausgedehnt würde er im Stande sein, in Europa und sogar in der ganzen Welt den Zustand eines ständigen Krieges zu schaffen und in jedem Staat eine Trennung nicht mehr nach Klassen, sondern nach Rassen hervorzurufen. Er würde auf unabsehbare Zeit eine winzige Herrenrasse und eine riesige Sklavenmasse schaffen.

Solche Warnungen blieben aber im damaligen Europa weitgehend ohne Resonanz.

Die „goldenen“ 1920er Jahre in der UdSSR?

Aber auch der sowjetische Staat, der sich seit dem bolschewistischen Staatsstreich vom Oktober 1917 im andauernden Ausnahmezustand befand, schien Mitte der 1920er Jahre eine Art „Normalisierung“ zu erleben. Im März 1921 wurde die Politik des „Kriegskommunismus“, die auf Terror und Zwang basierte, durch die von Lenin verkündete bauernfreundliche Neue Ökonomischen Politik abgelöst. Zwar vermochte dieser Kurswechsel die 1921 begonnene Hungerkatastrophe im Lande, der etwa fünf Millionen Menschen zum Opfer fielen, nicht zu verhindern. Dessen ungeachtet zeitigte die partielle Befreiung der sowjetischen Bauern vom staatlichen Zwangssystem nach einigen Jahren ihre Folgen. Während Russland im Jahre 1920 weniger als die Hälfte der Getreideproduktion der Vorkriegszeit erzielt hatte, so erreichte die UdSSR im Jahre 1925 bereits das Vorkriegsniveau.

Die Konzessionen, die die Bolschewiki an die Bevölkerung im Zuge der Neuen Ökonomischen Politik machten, bewerteten einige russische Exilgruppierungen, z.B. die 1921 entstandene Eurasierbewegung, als Zeichen der Schwäche des Regimes. Das Volk entwickele immer mehr das Bewusstsein seiner Macht, nachdem, es der Regierung wirtschaftliche Zugeständnisse abgerungen habe, schrieb der Eurasier S. Lwow im Jahre 1926. Die Schwäche der Regierung gebe den oppositionellen Kräften mehr Mut, die Suche nach Alternativen zum Bolschewismus sei nun im Lande in vollem Gang, so Lwow. In dieser Analyse spiegelt sich eine gänzliche Verkennung des Wesens der totalitären Regime wider, die auch in der Zeit vorübergehender taktischer Rückzüge auf ihre Endziele keineswegs verzichten.

Obwohl der Versuch der Bolschewiki, ihre politisch-gesellschaftliche Utopie zu verwirklichen im ersten Anlauf scheiterte, hörte diese utopische Vision keineswegs auf, die Partei zu inspirieren. Nach dem gewonnenen Bürgerkrieg hatten die Bolschewiki nur den politischen Teil ihres Programms realisiert – die Partei besaß nun die uneingeschränkte Macht im Lande. Dennoch stellte die allmächtige Partei bloß einen Tropfen im Meer des überwiegend bäuerlichen Landes dar. Sie hatte im Grunde keine gesellschaftliche Schicht, auf die sie sich hätte stützen können. Die Bolschewiki träumten indes von der Stärkung der Klasse, in deren Namen sie regierten.

Das schwache Proletariat wurde vorübergehend durch die Partei ersetzt, die die Rolle einer herrschenden Klasse en miniature spielte. Diesen Zustand wollten die Bolschewiki aber ändern. Dies vor allem nach dem Scheitern ihrer weltrevolutionären Pläne, so vor allem in Deutschland (Oktober 1923). Dies war die Stunde Stalins. Der unerreichbaren Utopie der Weltrevolution setzte Stalin das angeblich realistische Konzept der unverzüglichen Verwirklichung des „Sozialismus in einem Lande“ entgegen. Dieses Konzept lag der 1929 begonnenen Stalinschen „Revolution von oben“ zugrunde, die der in der bolschewistischen Partei unpopulären, bauernfreundlichen Neuen Ökonomischen Politik ein Ende setzte. Es stellte sich jetzt heraus, dass der Bolschewismus seine Militanz der Zeit des „Kriegskommunismus“ (1918-1921) in den „weichen“ Jahren der Neuen Ökonomischen Politik keineswegs eingebüßt hatte. An diese Militanz appellierte Stalin. Erneut versuchte die bolschewistische Führung, die gesellschaftliche Realität mit Hilfe des Massenterrors an ihre utopistische Doktrin anzupassen. So stellte die trügerische Stabilität der 1920er Jahre in der Geschichte des sowjetischen Staates nur eine Übergangsphase dar.

Das Ende der brüchigen Stabilität im Westen

Aber auch im Westen, nicht zuletzt in Deutschland, ruhte die Mitte der 1920er Jahre begonnene Stabilität bekanntlich auf brüchigem Fundament. Anschaulich wurde dies durch das sprunghafte Wachstum der NSDAP bestätigt, das bereits Mitte 1929 begann, also noch vor dem Ausbruch der Weltwirtschaftskrise im Oktober 1929. Darauf wies u.a. der Bochumer Historiker Hans Mommsen in seiner Studie aus dem Jahre 1976 hin. Die wachsende Popularität der NSDAP lässt sich nicht zuletzt als die Absage bestimmter Kräfte in Deutschland an die kompromissbereite Innen- und Außenpolitik Stresemanns auffassen, der im Oktober 1929 verstarb. Für diese Kräfte waren weder der von Stresemann angestrebte außenpolitische Kompromiss – der Young-Plan – noch sein innenpolitischer Kompromiss – die Koalitionsregierung mit der SPD – akzeptabel. Diese Radikalisierungstendenzen in der deutschen Politik, die bereits vor dem Ausbruch der Weltwirtschaftskrise zu verzeichnen waren, wurden durch diese Krise bekanntlich nur intensiviert.

Leonid Luks

Der Prof. em. für Mittel- und Osteuropäische Zeitgeschichte an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt wurde 1947 in Sverdlovsk (heute Ekaterinburg) geboren. Er studierte in Jerusalem und München. Von 1989 bis 1995 war er stellvertretender Leiter der Osteuropa-Redaktion der Deutschen Welle und zugleich Privatdozent und apl. Professor an der Universität Köln. Bis 2012 war er Inhaber des Lehrstuhls für Mittel- und Osteuropäische Zeitgeschichte an der KU Eichstätt-Ingolstadt. Er ist Geschäftsführender Herausgeber der Zeitschrift Forum für osteuropäische Ideen- und Zeitgeschichte.

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