Fatale Fehler
Über Fehler und Fehlurteile. Eine Kolumne von Heinrich Schmitz
Wo Menschen arbeiten, geschehen Fehler. Das ist auch nicht anders, wenn diese Menschen in der Justiz arbeiten und RichterIn heißen. Nicht jeder dieser Fehler führt zwingend zu einem falschen rechtskräftigen Urteil, da mancher Fehler auf dem Rechtsweg wieder korrigiert werden kann. Mancher, aber leider nicht jeder. Das Ergebnis der anderen Fehler sind Fehlurteile.
Im Zivilrecht kann das schon einmal bedeuten, dass jemand finanziell ruiniert wird, was schlimm genug ist, im Strafrecht ist ein Fehlurteil zu Gunsten des Angeklagten schlecht, weil eine Straftat ungesühnt bleibt, zu Lasten des Angeklagten ist es eine Katastrophe. Es nimmt einem Unschuldigen u.U. nicht nur die Freiheit, es nimmt ihm oft genug sein ganzes bürgerliches Leben, es vernichtet seine Existenz und die Person, die er vorher war.
Über die Zahl der Fehlurteile wird immer mal wieder gestritten und spekuliert. Wie der SPIEGEL (quelle: http://www.spiegel.de/panorama/justiz/justizirrtuemer-wie-strafgerichte-daneben-liegen-a-896583.html) einmal berichtete, schätzte BGH-Richter Ralf Eschelbach die Zahl der Fehlurteile auf 25 Prozent. Das scheint mir aus meiner persönlichen Erfahrung etwas hoch gegriffen, aber selbst wenn es nur jedes zehnte Urteil betreffen würden wären das schon viel zu viele.
Ursachen
Die Ursachen solcher Fehlurteile sind vielfältig. Bereits im strafrechtlichen Ermittlungsverfahren werden häufig zu einem frühen Zeitpunkt Vorentscheidungen für ein Fehlurteil getroffen, indem die polizeilichen Ermittler sich relativ schnell auf einen bestimmten Hergang und einen bestimmten Verdächtigen festlegen. Das mag ja auch oft richtig sein, es hat aber immer dann fatale Folgen, wenn es falsch war. Dann werden wichtige Spuren übersehen, versehentlich vernichtet oder falsch interpretiert, Zeugen zu spät oder gar nicht vernommen, Gutachten nicht eingeholt oder übersehen, dass diese unvollständig sind, abgehörte Telefonate schlicht falsch übersetzt. Die Liste lässt sich noch erheblich erweitern.
Gerade bei Kapitalverbrechen lastet auf den Ermittlern ein großer Druck, der Öffentlichkeit schnell einen „Täter“ zu präsentieren. Ursache für üble Ermittlungsfehler ist fast immer die zu frühe Gewissheit der Ermittler, ihre Hypothese sei richtig. Bekanntestes Beispiel dürfte das diese Woche abgeschlossenen, sogenannte NSU-Verfahren sein. Da wurde jahrelang die falsche Hypothese verfolgt, bei den Tätern handele es sich um Killer aus dem türkischen Drogenmilieu. Die Presse erfand die „Döner-Morde“. Und so verloren die Ermittler den möglichen nationalsozialistischen Hintergrund schnell aus den Augen. Ob das Urteil gegen Zschäpe am Ende so richtig ist, wie es der BGH nun durch einen Beschluss entschieden hat, weiß ich nicht, bezweifle es aber, da die Interpretation der Mittäterschaft schon erheblich von dem abweicht, was die Rechtsprechung des BGH selbst und die rechtswissenschaftliche Lehre in den vergangenen Jahrzehnten dazu entwickelt haben. Womöglich, ja wahrscheinlich, folgt da noch eine Verfassungsbeschwerde.
Input = Output
Wer mit einem bestimmten Vorurteil an die Ermittlungen geht, kommt mit einem bestimmten Ergebnis aus diesen heraus. Das Vorurteil verhindert eine objektive Ermittlung, weil es für alles blind macht, was diesem widerspricht. Das ist dann gar nicht einmal ein bewusst falsches Ermitteln. Nein, die Ermittler kommen gar nicht dazu, die anderen Hinweise zu sehen, weil ihre Wahrnehmung einer bestimmten inneren Erwartungshaltung folgt. Wir nehmen nur wahr, was wir wahrnehmen wollen. In diesem frühen Stadium eines Strafverfahrens ist eine frühe inhaltliche Beteiligung der Staatsanwaltschaft vonnöten, die aber häufig ihren erprobten Ermittlern von der Polizei allzu großes Vertrauen entgegenbringt. Aber auch der erfahrenste Ermittler kann mal daneben liegen.
Eine Möglichkeit, diesen Ermittlungspannen entgegenzuwirken, wäre eine Supervision der Ermittler und deren „Nasen“ oder deren „Bauchgefühl“, das sie gerne als kriminalistische Erfahrung bezeichnen.
Verteidigung
Wer glaubt, er könne als juristischer Laie auf eine Verteidigung verzichten, weil er ja unschuldig ist, setzt selbst eine Fehlerquelle. Das ist ein verdammt riskantes Vertrauen in die Funktionstüchtigkeit der Justiz. Soviel Naivität wird oft bestraft und hinterher ist das Gejammer groß. Eine qualifizierte Verteidigung, die gleich zu Beginn des Verfahrens beginnen muss, ist immer noch das beste Mittel gegen ein Fehlurteil, wenn auch nicht immer erfolgreich.
Landet die Akte dann irgendwann bei der Staatsanwaltschaft, die ja die eigentliche Herrin des Ermittlungsverfahrens ist, kann diese natürlich nur mit den vorhandenen Puzzleteilen hantieren, die die Polizei ihr in den Karton gelegt hat. Glücklicherweise gibt es Heerscharen von guten StaatsanwältInnen, die die Ermittlungsfähigkeiten ihrer Hilfsbeamten, also der Kripo, durchaus kritisch beurteilen und die Akte mit weiteren Ermittlungsersuchen erst mal wieder zurückschicken. Aber das klappt eben auch nur, wenn der „Denkfehler“ der Ermittler irgendwie handgreiflich aus der Akte hervorgeht. Manche Staatsanwälte vertrauen aber auch mehr oder weniger sehbehindert der Erfahrung ihrer Ermittler oder haben einfach zu wenig Zeit oder Lust, um jede Akte mit der erforderlichen Gründlichkeit zu studieren. Personelle Unterbesetzung bei der Justiz, ein altes Thema und eine weitere Fehlerquelle.
Unschuldsvermutung
Kommt es zur Anklage, wird es für den Angeklagten schon einmal ungemütlich. Zwar gilt er aufgrund der Unschuldsvermutung bis zu seiner rechtskräftigen Verurteilung selbstverständlich formal als unschuldig, das hilft ihm aber wenig. Für bestimmte Presseorgane ist die Unschuldsvermutung eine lächerliche Erfindung von Gutmenschen, die sie nur daran hindern soll, ihre fantasievollen Spitznamen für den Angeklagten angemessen unter das Volk zu bringen und verbale Gülle über ihm auszuschütten. Das dumme Gequatsche, wo Rauch ist, sei auch ein Feuer, scheinen viele zu glauben. Für manchen ist schon die Anklage und insbesondere deren öffentliche Verbreitung das Ende der bürgerlichen Existenz. Jörg Kachelmann ist da nur ein prominentes Beispiel. Da nützt dann auch am Ende der schönste Freispruch nicht mehr allzu viel.
Bevor es zu einer Hauptverhandlung kommt, muss das Gericht die Anklage erst einmal zulassen. Dass das einmal nicht geschieht, ist eher selten, kommt aber durchaus vor. Vor einigen Jahren lehnte das Landgericht Aachen sogar in einem Mordverfahren die Eröffnung ab. Der Beschuldigte war 5 Jahre lang als Mordverdächtiger den Ermittlungen und dem Mordverdacht ausgesetzt, ich bekam als Verteidiger erst nach drei Jahren Akteneinsicht, als er für eine Woche in U-Haft genommen wurde. Eine seltene Ausnahme. In der Regel wird eröffnet.
Und dann kommt die Hauptverhandlung. Die Beweisaufnahme. Das Urteil.
Keine Wissenschaft
Bedauerlicherweise ist diese Urteilsfindung nun aber kein wissenschaftliches Verfahren mit sicheren Ergebnissen, sondern alleine das Ergebnis einer menschlichen Überzeugungsbildung.
§ 261 StPO
Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung
Über das Ergebnis der Beweisaufnahme entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Inbegriff der Verhandlung geschöpften Überzeugung.
Merkwürdigerweise scheinen aber viele Richter der Meinung zu sein, sie seien tatsächlich in der Lage, die Wahrheit besser von der Unwahrheit unterscheiden zu können als andere Menschen. Worauf diese irrige Überzeugung fußt, weiß ich nicht. Vermutlich hilft aber so eine Selbstein- bis -überschätzung bei der Urteilsfindung. Weil die gerade aber nicht nur in Indizienprozessen eine äußerst schwierige Angelegenheit ist, gilt – auch ohne, dass es ausdrücklich in der Strafprozessordnung stünde – der alte Rechtssatz „ in dubio pro reo“, also „im Zweifel für den Angeklagten“. Es soll eben ohne vernünftige Zweifel feststehen, dass der Angeklagte schuldig ist. Damit dieser Zweifelssatz aber zum Zug kommen kann, muss der Richter sich überhaupt erst einmal zum Zweifeln durchringen. Manche scheinen nie zu zweifeln; für Angeklagte und Verteidiger zum Verzweifeln.
Es geschieht nicht selten, dass Strafverfahren so ablaufen, dass man die Voreingenommenheit eines Richters geradezu körperlich spüren kann, auch wenn er formal leider keinen Anlass für einen Befangenheitsantrag liefert. Manche Richter sind so von sich selbst und ihrer vermeintlichen Unfehlbarkeit derart überzeugt, dass es schon einer hartnäckigen und mitunter lästigen Verteidigung bedarf, um überhaupt den Hauch von Zweifel in ihnen zu wecken zu können. Die Art und Weise, wie Zeugen vernommen werden, wie insbesondere mit dem Angeklagten – für den ja immer noch die Unschuldsvermutung streitet – umgegangen wird, lässt meist schon nach kurzer Zeit erkennen, wohin die Reise geht.
Natürlich gibt es auch jede Menge positive Beispiele, aber die führen dann eher nicht zu Fehlurteilen. Vor vielen Jahren verurteilte einmal ein Amtsrichter einen meiner Mandanten – nachdem auch die Staatsanwaltschaft Freispruch beantragt hatte – mit den Worten: „ Ich möchte aus meinem Herzen keine Mördergrube machen, ich weiß, dass das Landgericht mich aufheben wird, weil die Beweise für Ihre Schuld nicht ausreichen, aber ich halte Sie trotzdem für schuldig und deshalb verurteile ich Sie jetzt.“ Da fällt einem natürlich nicht mehr viel zu ein. Da schöpfte jemand nicht aus dem Inbegriff der Hauptverhandlung, sondern aus den Tiefen seiner Vorurteile. Er hatte übrigens völlig Recht damit, dass das Berufungsgericht ihn später aufgehoben hat. Richterliche Hybris ist also ebenfalls eine Fehlerquelle.
Lügenfresse
Hinzu kommen natürlich Zeugen, die lügen oder deren Erinnerungen, aus welchen Gründen auch immer, manipuliert sind („false memory effect“), die aus Angst oder Scham etwas verschweigen oder meinen, sie müssten irgendetwas gesehen haben, auch wenn sie gar nichts sehen konnten. Zeugen sind wohl die größte Fehlerquelle im Strafprozess.
Da Richter bei Erwachsenen selten Glaubwürdigkeitsgutachten einholen, weil sie ja meinen, auch ohne psychologische Ausbildung am besten zur Beurteilung der Glaubwürdigkeit von Zeugen berufen zu sein, ja das als „ureigenste richterliche Aufgabe“ betrachten, gibt es hier die meisten Fehler. Vermeintlichen Opfern und Polizeibeamten wird irgendwie mehr geglaubt als Angeklagten. Die richterliche Frage, warum sollte der/die Zeuge/in denn lügen, kann ich schon nicht mehr hören. Warum sollte er/sie es nicht tun?
Kommt es dann zu einem Urteil, das der Angeklagte für falsch hält, kann er – wie auch die Staatsanwaltschaft – ein Rechtsmittel einlegen. Alleine dies zeigt schon, dass der Gesetzgeber sich der Fehlbarkeit von Gerichten durchaus bewusst war.
Falls die Möglichkeit einer Berufung besteht, also bei den Verfahren, die beim Amtsgericht begonnen haben, wird das ganze Verfahren einschließlich der Beweisaufnahme noch einmal beim Landgericht wiederholt. Da die Berufungskammer allerdings immer wieder mit den Urteilen der gleichen Vorinstanz konfrontiert werden, ergeben sich hier auch schon gewisse Vorbelastungen der Überzeugungsbildung in positiver wie negativer Hinsicht. Ich erinnere mich noch gut an den Anruf eines Vorsitzenden einer Berufungskammer, der mich fragte, was ich denn an dem Urteil des Amtsgerichts auszusetzen hätte, außer dass es von einer bestimmten Richterin sei.
Immerhin bekommt man durch die neue Beweisaufnahme in der Berufung eine realistische Chance, ein Fehlurteil noch einmal zu korrigieren. Es ist immer wieder interessant zu sehen, wie sich Zeugenaussagen von Mal zu Mal verändern. Ähnlich wie der gefangene Fisch bei jeder Erzählung durch den Angler zu wachsen scheint, machen auch Zeugenaussagen eine Entwicklung durch. Die Erinnerung führt ein von der Realität unabhängiges Eigenleben, d.h. das was der Zeuge berichtet, stammt aus seinem Gehirn und ist ein Produkt aus Erinnerungen, Rückschlüssen und Ergänzungen, die das Gehirn freundlicherweise gleich vornimmt, um es nicht doof erscheinen zu lassen. Sie kennen das doch auch: Früher war alles besser, oder?
Allerdings kann es auch dann sein, dass der Angeklagte bis zu seinem Freispruch mal eben 2 Jahre oder länger in U-Haft gesessen hat. Alles schon passiert. Und die dafür gewährte Entschädigung ist eher lachhaft.
Revision
Klappt’s in der Berufung nicht oder gab es die Möglichkeit erst gar nicht, weil es gleich bei der großen Strafkammer des Landgerichts losging, gibt es noch die Revisionsinstanz. Nicht einfach, da noch was zu reißen, da das Urteil nur noch auf Rechtsfehler geprüft wird, und die Tatsachenfeststellungen der ersten Instanz wie in Stein gemeißelt sind. Das ist ein großes Problem, weil es einem kaum gelingen kann, einen Fehler in den Tatsachenfeststellungen nachzuweisen. Da findet sich zum Beispiel ein entlastendes Indiz gar nicht im Urteil wieder oder eine Zeugenaussage wird nur teilweise wiedergegeben und ein für die Verteidigung wichtiger Teil fehlt plötzlich. Ganz übel. Das Revisionsgericht guckt sich nur das Urteil und die Sitzungsprotokolle sowie die Urkunden an, die im Protokoll auftauchen. Was nicht im Protokoll oder im Urteil auftaucht, gibt es in der Regel nicht. Wohl dem, der irgendeinen formalen absoluten Revisionsgrund findet oder dessen VerteidigerIn in der ersten Instanz ein paar Revisionsfallen für das Gericht aufgestellt hat.
Die Beweiswürdigung der ersten Instanz bekommt man selten geknackt, außer sie ist völlig abstrus. Die ist ja die ureigenste Aufgabe des Richters und wird vom Revisionsgericht nur auf ganz grobe Schnitzer wie Zirkelschlüsse, falsche Erfahrungssätze und Ähnliches hin überprüft. Warum zum Beispiel bei erstinstanzlichen Verfahren vor dem Landgericht keine wörtliche Protokollierung – oder noch besser eine Videoaufzeichnung – der Zeugenaussagen erfolgt, ist mir schleierhaft. Dann könnten die Revisionsrichter mal genau nachvollziehen, was der Zeuge wirklich gesagt hat und müssten nicht darauf vertrauen, dass das Gericht schon alles richtig verstanden hat. Kostengründe dürften da keine Rolle spielen, und für Überwachungskameras soll ja auch gerade wieder Geld locker gemacht werden. Natürlich sollten diese Videos ausschließlich für die Verfahrenszwecke und nicht zur allgemeinen Erheiterung eingesetzt werden. Ich wäre notfalls auch schon mit Tonaufzeichnungen zufrieden. Man wird ja bescheiden.
Es gäbe also einige Möglichkeiten, um eine ganze Menge an Fehlurteilen – wenn auch mit Sicherheit nicht alle – zu vermeiden. Im Ermittlungsverfahren, in der Hauptverhandlung und in der Rechtsmittelinstanz.
Man müsste es nur ernsthaft wollen.