Vom Kellerschacht in den Lesezirkel

Früher galt Metal als Schmuddelkind. Heute findet man die Musik im Feuilleton. Das liegt nicht nur aber auch an Opeth. Hier ein Porträt in Ulf Kubankes Hörmal-Kolumne


Fast jede Richtung populärer Musik machte in den letzten gut 100 Jahren in der Wahrnehmung von Medien und Gesellschaft ihren Weg vom subversiven Schmuddelkind ins anerkannte Feuilleton. Jazz, Blues oder aktuell Hiphop durchliefen allesamt sämtliche Stadien von tiefer Verachtung bis hin zu respektvoller Anerkennung. Besonders Heavy Metal galt gute zwei bis drei Dekaden als nicht wirklich gesellschaftsfähig. Erst recht so man die Begriffe Death oder Black anfügte, assoziierte man in verzerrter Wahrnehmung semidebile Proleten mit Bierwampe, bösartige Satanisten oder tumbem Nazikult erlegene Gestalten mit Corpsepaint-Make-Up. Nicht nur aber besonders Opeth gebührt der Verdienst, dass derlei hanebüchene Vorurteile längst tiefer Vergangenheit angehören. In den mittlerweile 30 Jahren ihres Bestehens trugen die Schweden ihre Musik vom Kellerschacht in den Lesezirkel. Zum Jubiläum erscheint mit “In Cauda Venemum” ihr dreizehntes Stuzdioalbum.

Als Fixstern ihres kreativen Kosmos kristallisiert sich von Beginn an Frontman Mikael Åkerfeldt heraus. Er schreibt sämtiche Songs, alle Texte und entwickelt Ideen für Arrangements. Rockstargehabe liegt ihm fern. Er lebt mit seiner Familie noch immer in Schweden, fährt seine Kinder zur Schule und führt abseits der Bühne ein nahezu beschaulich normales Leben. Trotz seiner musikalischen Dominanz handelt es sich bei den Stockholmern um eine organisch tickende Band, in der die jeweilige instrumentale wie schöpferische Stärke eines jeden Mitglieds sich im Prozess gemeinsamen Aufnehmens und Spielens ohne Hinderung in typisch skandinavischem Teamgeist zu entfalten vermag. Obgleich das Line-Up im Laufe der Zeit manchen Besetzungswechsel erlitt, führten derlei Zäsuren nie zur geringsten qualitativen Schwankung. Im Gegenteil: Die musikalische Formkurve steigt bis heute ungebrochen an und offenbart zahllose Facetten auf künstlerischem Weltklasseniveau.

Opeths Frühphase verlief nach dem Motto: “Nur die Harten kommen in den Garten.” Knochenharter Death Metal samt Black Metal-Gaspedal bilden ab Mitte der 90er Jahre auf den ersten vier Veröffentlichungen ihr stählernes Rückgrat. Das wäre für sich genommen erst einmal nichts Besonderes. Interessant wird ihre künstlerische Herangehensweise durch ihren damals völlig untypischen Drang, das weitgehend schablonenhafte Genre mit Elementen aus Klassik, Folk, Progrock, Artrock sowie psychedelischen Tupfern zu erweitern. Während etliche Kollegen peinlich genau darauf achteten, die eigene Nische per Stilistik und Image stereotyp zu bedienen, trachteten Opeth längst danach, gängige Schubladen zu verlassen, um musikalische Grenzen zu sprengen. Wer sich mit diesem Teil ihrer Wurzeln beschäftigen möchte, greife getrost zur sinistren Wucht des melancholischen Frühwerks “Morningrise”. Gemeinsam mit Produzent Dan Swanö (Nightingale) erschaffen sie damit 1996 eine Finsternis, die selbstverständlich und vollkommen ungekünstelt sogar Jazz einbezieht.

Fünf Jahre später erscheint ihr bis in alle Ewigkeit funkelnder Meilenstein “Blackwater Park”. Das Album als kreativen Paukenschlag zu bezeichnen, käme einer Untertreibung gleich. Gleichberechtigt stehen hier Growls und heftig bretternde Passagen einm klar singenden Schöngeist gegenüber, der verhalten fließende Ströme aus Neoklassik, akustischer Filigranität und bewusstseinserweiterternder Lavalampe verkörpert. Hinzu kommt ein Füllhorn nicht enden wollender Melodien, deren schwelgende Lieblichkeit den Hörer nicht mehr freigibt, so er diese für sich erschließt. Im Ergebnis klingt der Schwarzwasser-Monolith, als träfen sich Pink Floyd mit Yes, nachdem beide ausgiebig Strawinskys “Frühlingsopfer” genossen haben und verwandeln sich im gemeinsamen Jam mehrfach zum Werwolf.

Von hier an war nichts mehr wie zuvor. Opeths musikalischer Damm war endgültig gebrochen; der eingeleitete Wandel nicht aufhaltbar. Bestialische Growls und Todesbleifuß verloren mehr und mehr an Boden, landeten schlussendlich in der Mottenkiste. Sie wichen einer klargesanglich geprägten Orientierung gen klischeefreies Gesamtkunstwerk. Jede Veröffentlichung spickten sie mit teils aufwendigen, teils spartanisch minimalen Zutaten, die sich bedingungslos in den Dienst eines absoluten Klangerlebnisses stellten. Härte als Selbstzweck ist nicht länger gefragt. Åkerfeldt: „Für uns bedeutet Härte nicht tiefergestimmte Gitarren mit Screams dazu. Ich kann sagen ‘OK, das ist heavy.’ Aber es bedeutet mir nicht wirklich etwas. Ich lese über Bands, die die härteste Scheibe überhaupt haben und das beeindruckt mich einfach nicht. Das gab es alles schon einmal. Es geht uns mehr um die emotionale Ebene, Musik mit Gefühlen.“

Obwohl sämtliche Platten seitdem unbeirrt auf individuellen Pfaden glänzen, gilt die 2014 erschienene “Pale Communion” als herausragendes Meisterwerk. Getragen von dunkler Grundstimmung pendelt Åkerfeldts Truppe zwischen Terassendynamik und scheinbar in sich geschlossenen Suiten, die eine gleich dem Leviathan zusammenhängende Gestalt annehmen. Auf einem Nebengleis entwickelt Åkerfeldt parallel das empfehlenswerte Projekt Storm Corrosion mit Blutsbruder Steven Wilson. Wilson half bereits auf “Blackwater Park”, alle Stärken zu bündeln und zu kanalisieren. Auf dem selbstbetitelten gemeinsamen Album zünden beide Genies in tiefer Bewunderung füreinander ein eklektisches Feuerwerk, dem man Vorbilder wie frühe Yes oder Genesis ebenso anhört, wie die Fähigkeit zur eigenen Handschrift.

 


Nach so vielen Glanzlichtern stellt sich die Frage, was jetzt überhaupt noch kommen könne. Wie soll das brandneue “In Cauda Venemum” mit dem bisherigen Katalog Schritt halten? Die Antwort fällt simpel aus: Wie immer! Als Ideenschmiede verschafft Åkerfeldt dem Werk eine Richtung, die paradoxerweise gleichzeitig neu und altbekannt ist. Es geht um das Herauslocken des ganz großen Gefühls. Die Palette reicht von Pathos bis Auszehrung, von zaghaftem Schmunzeln bis zu tränenschwangerer Melancholie. Sprachlich greift er dabei erstmals auf seine Muttersprache zurück. Zwar gibt es auch eine englische Version der CD, doch verstehen Opeth die rein schwedische Variante als Hauptmerkmal und Katalysator für den künstlerischen Ausdruck. Sehr passend schlagen sie eine Brücke von Vergangenheit in unsere Gegenwart. Mittels Auszügen einer Rede des 1986 einem Attentat zum Opfer gefallenen schwedischen Ministerpräsidenten Olof Palme klagt etwa “Svekets Prins” Extremismus, Verrohung und Intoleranz als Geißel unserer Zeit an. Zitat Palme:
Jemand sagte neulich, dass wir uns in der großen Zeit des Umbruchs befinden. In “Banemannen” prangern die Zeilen hingegen soziale Ungerechtigkeit als Wurzel allen Übels an, aus der totalitäre Sichtweisen und Faschismus entstehen.

Rein musikalisch passiert knapp 70 Minuten lang so unfassbar viel. Man könnte problemlos eine komplette Doktorarbeit über diesen Cocktail miteinander verschmelzender Gegensätzlichkeiten verfassen. Auch das Publikum hat es nicht unbedingt leicht, diesen vor Komplexität strotzenden Notenberg mit seinen unzählbaren Stilwechseln sofort zu erfassen. Gleichwohl lohnt sich das Durchbeißen, bis der Funke überspringt. Schon beim ersten Durchgang ahnt man, dass dieses Album seinem Publikum sicherlich viel abverlangt. Dies jedoch nur, um schlussendlich alles zu geben, um auch nach Jahren ausgiebigen Genusses noch immer Überraschungen parat zu halten. Man bekommt hier ein zeitloses Hörerlebnis, dessen Uhr nimmer abläuft.

Als Anspieltipp empfehlen sich besonders zwei Stücke. Ingen Sanning Är Allas etwa untermauert den Geist Pink Floyds mit zupackendem Heavy Prog-Gestein und landet sodann in den Fängen einer intimen, von Streichern getragenen Folkmelodie. “Banemannen” bildet hernach den ebenso innovativen wie emotionalen Höhepunkt. Eine spanisch angehauchte Akustikgitarre lockt den Hörer verführerisch ins Revier einer beerdigungstauglich angeschlagenen Pianodepression. Binnen weniger Sekunden reißen die Stockholmer das Ruder jedoch komplett herum. Auf beschwingten Sohlen tanzen die Instrumente eine kuriose Mischung aus lässig croonendem Jazz, dramatischer James Bond-Akzentuierung und flirrendem Sixties-Flair samt obligatorischen Easy Listwening-Vocals. Sogar eine leicht auf Klezmer gebürstete Klarinette streuen sie für wenige Augenblicke ein, die von der bereits wartenden Wes-Montgomery-Gitarre sauber eingefangen wird. Wer hier fragt, “Ist das noch Metal?”, befindet sich bereits auf dem Abstellgleis. Es ist schlichtweg wundervolle Musik, die sich keinen Deut um Kategorien kümmert und nichts will außer zu strahlen. Und das tut sie. So wachsen Opeth mit “In Cauda Venemum” ein weiteres Mal über sich hinaus.

 

Ulf Kubanke

Ehemaliger Anwalt; nun Publizist, Gesprächspartner und Biograph; u.a. für Deutschlands größtes Online-Musikmagazin laut.de.

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