Buchpreisprognosen. Wer kommt Dienstag auf die Shortlist?

Sören Heim hat 12 der für den Deutschen Buchpreis nominierten Titel gelesen und bewertet die weiteren nach den Leseproben.


Die Longlist zum diesjährigen Deutschen Buchpreis ließ sich richtig gut an. Kein Vergleich mit der deprimierenden Erfahrung der letztjährigen Shortlist-Lektüre. Ein zeitloses Meisterwerk, mindestens zwei Titel, die im erweiterten Feld der internationalen Moderne mitspielen können und noch weitere ordentliche Romane. Mittlerweile nimmt das Niveau dann ein wenig ab, aber das habe ich mir selbst zuzuschreiben. Habe ich doch die Texte im Vorfeld schon ein wenig danach geordnet, wie überzeugend Beschreibung und Leseproben klingen. Und damit wohl relativ richtig gelegen. Hier möchte ich, ehe am 11. September die Shortlist bekannt gegeben wird, die Chancen der Romane einschätzen und meine eigene Shortlist erstellen. Bei Texten, die ich nicht rechtzeitig lesen konnte, geschieht das wie gehabt als Prognose über Klappentext und Leseproben. Verlinkt sind jeweils die ausführlicheren Rezensionen

Die gelesenen Titel

Bungalow von Helene Hegemann
Eine Art Coming-of-Age-Geschichte, eingebettet in eine kaputte unbestimmte Großstadtwelt, die aber in eigentlich allen Problemstellungen eindeutig unsere ist. Nur ohne genaue Verortung. Sprachlich hart, in einem teils kalten, teils von heißer Wut durchzuckten Rhythmus. Vielleicht noch immer mit etwas zu viel Lust am Effekt und am dick aufgetragenen Unterschichts-/Prekariatsgrusel, meist aber gelungen. Alles in allem ein Text, der durchaus zu Recht auf der Longlist steht. Nach Sichtung fast aller Texte sogar mit Shortlist-Chancen.

Wie hoch die Wasser steigen von Anja Kampmann
Von Kapiteln zu Kapitel, von Ort zu Ort, am besten vielleicht: von Bild zu Bild – schafft es Kampmann, in gleicher Dichte neue Szenerien aufzubauen und einen Erzählstrang, der trotz gewaltiger Brüche nicht brüchig wird durch all diese Themen zu ziehen. Jede Szene hat ihren eigenen Ton: Marakesch ist staubig und verschwitzt, Budapest kühl, feucht und wie versteinert, das südlich Ungarn trocken und grasig und von verdrängter Trauer um den verlorenen Freund Matyas durchtränkt.
Wie hoch die Wasser steigen bleibt genauso stark, wie der Auftakt vermuten lässt. Damit sollte Kampmann auch eine der Favoritinnen auf den Buchpreis sein.

Der Vogelgott von Susanne Röckel
Wow, was für ein Roman. Ein Text wie aus einer anderen Zeit. Um nicht zu sagen einer anderen Welt. „Der Vogelgott“ von Susanne Röckel wirkt, wie geschrieben von einer Autorin, die es geschafft hat, den Standardisierungstendenzen des Literaturbetriebs und seiner Schreibschulen schlafwandlerisch auszuweichen, die nicht mal von der Mühe dieser Ausweichmanöver gezeichnet ist. Wirkt wie geschrieben von einer, die das Brüchige fassen möchte und kann ohne das Erzählen selbst – und in dieser vordergründig bemühten Weisen, die heute so dominiert – zu zerbrechenn. Kafka wurde als Parallele schon einige Male herangezogen, ich möchte die lateinamerikanischen Schriftsteller der Vor- und Früh-Boomphase noch in den Ring werfen, besonders Cortazar. Dabei ist der Vogelgott alles andere als antiquiert: Modern, sicherlich. Aber eben nicht marktgängig-modernistisch.
Ein Text für die Ewigkeit, an den Werbe- und Selbstversicherungsritualen des Literaturbetriebs eigentlich gar nicht zu messen. Warum es aber immer wieder sinnvoll sein kann, mit solchen jurygebundenen Preisen einzelne Titel aus dem Mahlstrom des Marktes herauszuheben, zeigt „Der Vogelgott“ eindrücklich: Susanne Röckel (Jahrgang ’53) veröffentlicht seit 1989 auch, aber nicht nur, in kleinen Verlagen. Und erst jetzt besteht die Chance, dass aus dieser einzigartigen Autorin mehr als nur ein besonders geheimer Geheimtipp werden könnte.

Jahre später von Angelika Klüssendorf
Jahre später von Angelika Klüssendorf fängt genau dort an, wo der Vorgänger April aufgehört hat. Nicht nur die Handlung betreffend. Wieder ist der Text im Kleinen richtig gut gearbeitet. Mit dem Anspruch, die Sprache tatsächlich aus der Handlung entstehen zu lassen und entsprechend sehr dicht geschrieben. Und wieder fragt man sich andererseits, warum es überhaupt einen Anfang oder ein Ende gibt. Jahre später fließt, plätschert, plaudert, nennt es wie ihr wollt, einfach weiter von Ereignis zu Ereignis und wie schon den Vorgängerromanen fehlt jegliche Tiefenstruktur. Stil top, Komposition – kaum vorhanden. Für mich kein Titel für die Shortlist.

Dunkle Zahlen von Mathias Senkel
Wie ich bereits in den Prognosen zum Preis der Leipziger Buchmesse schrieb, ist Dunkle Zahlen von Matthias Senkel ein hochambitioniertes Projekt. Nach der Rahmenhandlung handelt es sich im Hauptteil um eine durch ein dafür geschaffenes Computerprogramm erstellte Geschichte. Der Rahmen einer futuristischen Welt, in der ein Khagan eine Siedlung der „neuen Moskauer Rus“ besucht, und die Welt einerseits ziemlich zerfallen, andererseits von Resten hoher Technologie durchsetzt wirkt, ist allerdings tatsächlich fast noch einen Ticken interessanter als die Haupthandlung. Schade, dass sie tatsächlich nur als Anstoß zur „eigentlichen“ Geschichte dient. Immerhin, Die Entstehung eines Vorgängermodells der Geschichtenmaschine GLM wird in der Haupthandlung angerissen. Und so oder so, auch die anderen Handlungssträngee bleiben interessant.
Dunkle Zahlen ist ein mit großem Anspruch angetretener Roman, der zwar einige Längen aufweist, beim Deutschen Buchpreis allerdings bessere Chancen haben sollte als in Leipzig. Denn während Leipzig regelmäßig eher gediegene Kandidaten auswählt, hat der Buchpreis schon mehrfach das Spektakuläre belohnt. Und Dunkle Zahlen von Mathias Senkel ist Spektakel mit Substanz. Allerdings, das dürfte manchen Lesern sauer Aufstoßen: Ohne Auflösung des zentralen Rätsels des Mireya-Plots…

Lebt wohl, Ihr Genossen und Geliebten! von Carmen-Francesca Banciu
Lebt wohl, Ihr Genossen und Geliebten! Ist eine lange Erzählung oder ein Roman in Versen. Oder traditioneller gesprochen: ein Epos. Es behandelt die Beziehung einer aus Rumänien ausgewanderten, vor ’89 regimekritischen Tochter zum Daheimgebliebenen, regimetreuen, Vater, dessen Beziehung zur Mutter und seinen zahlreichen Geliebten und nach der Rückkehr der Tochter von deren Kampf mit der wichtigsten jungen Geliebten des Vaters.
Auf jeden Fall ein interessanter Versuch, der daran scheitert, dass zwei Drittel des Stoffes eigentlich nicht epentauglich sind und die Sprache dieses modernen Epos nicht auf einem solchen Niveau sich bewegt, als dass sie von allein durch 400 Seiten Gedicht tragen würde. Aber auch dies ist ein Titel, dem man Chancen auf die Shortlist einräumen sollte, einfach weil er „anders“ ist. Es gibt aber definitiv sechs bessere Werke auf der Longlist.

Unter der Drachenwand von Arno Geiger
Arno Geigers Unter der Drachenwand dürfte der Konsensroman des Jahres 2018 sein. Ein Konsensroman aus dem Zweiten Weltkrieg? Entsprechend liest er sich auch.
Aufguss des plumpen Naturalismus, endlich einmal einfach so zu erzählen, wie die Menschen wahrgenommen haben. Ich weiß, wie stolz Geiger darauf ist, zigtausende Seiten Briefe auf Flohmärkten gesammelt und gelesen zu haben. Aber der zwanghafte Wille zur Widerspiegelung bekommt Literatur nicht.
Wie alle naturalistischen Stücke ist Unter der Drachenwand zudem äußerst langatmig. Jede einzelne Tätigkeit, jeder einzelne Gedanke wird ausbuchstabiert, dennoch kommen die Charaktere kaum über Typen hinaus. Aber das Buch verkauft sich doch wie verrückt, sagen Sie? Da muss doch etwas dran sein? Ja: es ist ein Konsensroman.
Dabei bin ich mir sicher, dass Geiger keinen solchen schreiben wollte. Im Gegenteil. Doch der Naturalismus kapituliert naturgemäß vor dem Nationalsozialismus.
Gibt es Rettendes? Manche Passagen über den „Brasilianer“ enthalten Formulierungen, die das platte es „Widergeben wie es ist“, transzendieren.
Und die Erzählung des verfolgten Juden Oskar Meyer enthält schmerzhafte Passagen. Aber darüber haben andere schon konsequenter geschrieben und ohne die Thematik in einem extra Strang quasi unter Quarantäne zu stellen.
Wird aber sicher auf der Shortlist landen.

Hier ist alles noch möglich von Gianna Molinari
Hier ist alles noch möglich von Gianna Molinari ist ein sehr bemühtes, aus Sentenzen zusammengesetztes Projekt, das an Werke des Existenzialismus Erinnert. Alles ist unglaublich tief mit Bedeutung oder auch nur der Aura von Bedeutung aufgeladen. Meines Erachtens mehr Show als Substanz, aber solche Werke werden gern mal für Preise ausgewählt.

Sültzrather von Josef Oberhollenzer
Formal scheint Josef Oberhollenzer mit Sültzrather an Techniken anzuknüpfen, die unter anderem W.G. Sebald und Thomas Bernhard perfektioniert haben (sicher nicht zufällig wird Bernhard am Anfang des Buches als Bruder im Geiste Sültzrathers, als Schuhliebhaber, aufgerufen). Es wird nicht einfach geschrieben über Sülzrather, der nach einem Unfall zum Schriftsteller wird, dann aber wieder beginnt, sein Werk zu vernichten. Sondern es erzählt einer (bzw. immer wieder andere) darüber, was wiederum andere über Sülzrather erzählen. Den Bernhardschen Flow aber erreicht Oberhollenzer dabei nie. Sicher ist das beabsichtigt: Diese Biografie soll zerhackt sein wie das Leben und Schreiben und die Zerstörung des Schreibens des Robert Sültrathers. Das allerdings macht den Roman trotz seiner nur 160 Seiten zu einer extrem sperrigen Lektüre.
Feststeht: Dieses Buch soll stolpern machen. Feststeht auch: Der Autor verfolgt kompromisslos eine genau abgesteckte literarische Vorstellung. Mir scheint aber, hier wurde kompromisslos ein Werk auf beinah unlesbar getrimmt. Aber das ist mir ganz ehrlich immer noch lieber als diese halbseidenen Gefall-Texte, die zeitgenössische Alltags- und Aufregerthemen in ein standardisiertes konsumierbares Gewand kleiden. Sültzrather wird wohl nur Freunde und Feinde kennen. Auf meine Shortlist kommt er nicht, aber wenn die Jury etwas dabei haben möchte, das polarisiert, dann Sültzrather oder Hier ist alles noch möglich.

Ein schönes Paar von Gert Loschütz
Ein schönes Paar von Gert Loschütz beginnt mit einer hochpräzisen Konstruktion: Ausgehend von einer unverbunden scheinenden Reflexion über ein Stereoskop und den späteren Fund einer alten Exakta Kamera (Baujahr ’57), springt der Erzähler zuerst in seine jüngere Vergangenheit, in der ihm der Tod kurz hintereinander plötzlich die getrennt lebenden Vater und Mutter nimmt. Von dort zur Wohnungsauflösung, die die Kamera zu Tage fördert und von dort schließlich in die Kindheit in der DDR noch vor dem Mauerbau und zurück zum Kennenlernen der Eltern im frühen Nationalsozialismus.
Und dabei ist der Roman, besonders in der ersten Hälfte, als die Familie aus der DDR fliehen muss, auch noch hochspannend. Das ist ja nicht immer so bei auf den E-Markt zielender Literatur. Manchmal befürchtet man gar, eine gewisse Bräsigkeit wünsche der deutsche Markt, um die Elite von der niederen Unterhaltung abzusetzen. Nicht so hier. Der Text wartet mit ein paar Längen in der zweiten Hälfte auf, aber auch nicht all zu vielen. Könnte ein Geheimtipp für den Buchpreis sein, obwohl die Konkurrenz besonders mit Kampmann und Röckel stark ist.

Sechs Koffer von Maxim Biller
Sechs Koffer ist ordentlich gearbeitet, ohne allerdings formal in irgendeiner Weise herauszuragen (thematisch durchaus: Biller versteht den Antisemitimus in seiner Erscheinung und Funktion besser als andere Autoren). Mancher Manierismus nervt dann leider noch gehörig. Besonders das regelmäßige Sprechen von dem Jugendfreund als „Miroslav – oder Jaroslav“. Da wird in einer Aufdringlichkeit und wirklich auf die billigste Art und Weise darauf hingewiesen, dass wir es mit einem unzuverlässigen Erzähler zu tun haben, dass es nicht mehr feierlich ist. An ein, zwei Stellen im Text mag das ja funktionieren. Aber durch die dauernde Wiederholung wirkt es eher wie ein schlechter Witz. Nötig hat der Text den eigentlich nicht: Dadurch, dass zentrale Ereignisse aus bis zu drei durch den Erzähler gefilterten Perpektiven erzählt werden, ist ihm die Unzuverlässigkeit tief eingeschrieben.
Also: Sechs Koffer – Für mich tatsächlich ein besserer Biller, aber kein Text, den ich, wenn alles mit rechten Dingen zugeht, auf der Shortlist erwarte.

Die Gewitterschwimmerin von Franziska Hauser
Auch Die Gewitterschwimmerin von Franziska Hauser ist so eine Familienerinnerung, wie sie vielleicht ein wenig all zu häufig auf dem deutschsprachigen Literaturmarkt auftauchen. Eine Biografie, an der 150 Jahre Geschichte dran hängen. Und in diesem Fall wirklich die ganze Geschichte: Die jüdische Seite der Familie wird bereits im 19. Jhdt antisemitisch angegriffen, im Nationalsozialismus verfolgt, später lebt man in der DDR und hat auch dort die ganze Last der verdrängten Vergangenheit und der Gegenwart zu tragen.
Die Gewitterschwimmerin entwickelt seine Geschichte in zweifach rückblickender Weise. Jedem eher zeitgenössischen Kapitel folgt eins aus der entfernten Vergangenheit. Doch auch die jüngeren Kapitel werden chronologisch rückwärts erzählt, während die älteren der normalen Zeitlinie folgen. Es ist aber nicht so, dass so geschickt mit den Zeiten gespielt würde, als dass sich mit dem Lesen ein zunehmender Aha-Effekt einstellen würde, der nicht auch chronologisch zu erreichen gewesen wäre.
Ansprechend, aber nicht herausragend. Die Gewitterschwimmerin kann man gut lesen, auf der Longlist gibt es aber eine ganze Reihe stärkerer und ähnlich starker Titel.

Es folgen die Texte, bei denen
ich die Leseprobe zu Grunde legen muss.

Eine dieser Nächte von Christina Viragh
Christina Viraghs Eine dieser Nächte ist ein Roman, aus dem noch alles Mögliche werden könnte. Atmosphärische Beschreibungen des nächtlichen Treibens auf einemm Flughafen, ein anfangs relativ rasantes Tempo. Aber auch die Gefahr, dass das Ganze noch in Richtung eines dieser langweilige Bücher kippt, in denen Leute in einem Flugzeug sitzen und sich ihre Lebensgeschichte erzählen. Ich glaube das Buch, das hätte entstehen können, wäre Emma tatsächlich in Bangkok gestrandet, hätte ich lieber gelesen. So heißt es abwarten. Ein absolutes Meisterwerk erwarte ich nicht: Zu traditionell das Ganze, zu inkonsequent wird auch der indirekt freie Stil gehandhabt, der sich größtenteils wie ein rein auf Emma fokalisierter liest, dann aber plötzlich unvermittelt auch Gedanken von Nebencharakteren aufgreift.

Gott der Barbaren von Stefan Thome
Auch die Leseprobe von der Gott der Barbaren von kann mich nicht wirklich überzeugen. Ein christlicher Aufstand in China mitte des 19. Jahrhunderts. Darin ein Charakter, der uns vorgestellt wird wie in einem klassischen Abenteuerroman. Schwere Kindheit, weggelaufen, Hafenarbeit in Holland, auf Schiff angeheuert. Auch der Stil der ersten 20 Seiten liest sich wie der eines Abenteuerromans aus dem 19. Jahrhundert. Das könnte ganz spannend werden, aber ob der 700 Seiten Wälzer damit gleich preiswürdig wird? Ich zweifle.

Nachtleuchten von María Cecilia Barbetta
Die kurze Leseprobe von Nachtleuchten hebt an aus der Perspektive der jungen Theresa, die von der erneuten Schwangerschaft der Mutter überrascht wird und mit der Situation nicht sonderlich zufrieden ist. Theresa scheint die Welt mit kindlicher Klugheit zu betrachten und besonders gerne mit Worten zu spielen. Spielerisch die Sprache handhabt auch Autorin María Cecilia Barbetta, die, soweit sich das anhand des kurzen Auszugs beurteilen lässt, je nach Situation die Register wechselt.
Dieses Buch könnte sich in jede nur denkbaren Richtung entwickeln, der Klappentext lässt einen wilden Taumel durch chaotische Zeiten erwarten. Ob das am Ende auch zu einem gelungenen geschlossenen Werk reicht? Das wird davon abhängen, ob es der Autorin gelingt, die doch sehr disparaten Komplexe, die sie anfangs anreißt, tatsächlich miteinander zu integrieren. Der Beginn macht Hoffnung, aber 500 Seiten sind viel Zeit um zu stolpern.
Für die Shortlist dürfts so oder so knapp werden. Starkes Feld dieses Jahr.

Archipel von Inger-Maria Mahlke
Archipel begleitet die Rückkehr einer jungen Frau, die mit ihrem Kunststudium in Madrid gescheitert ist, nach Teneriffa. Die Geschichte hat, soweit die Leseprobe das zu beurteilen erlaubt, zwei Gravitationspunkte. Das Altenheim Asilo, in dem der über 90 jährige Julio die Tür bewacht, und den Club, in dem der ehemals adelige Felipe, Vater der Rückkehrerin Rosa, grübelnd die Zeit tot schlägt. Felipe war einst ein großer Historiker der die Kolonialgeschichte Teneriffas erforschte. Die Universität hat er verlassen, da er sich aufgrund seiner Herkunft aus einer Kolonistenfamilie benachteiligt fühlte. Nun trinkt er. Wie sich die Geschichte entfalten wird, ist noch schwer zu beurteilen, doch wirkt der Roman auf den ersten 40 Seiten sowohl ansprechend erzählt als auch gut balanciert. Man darf eine interessant gestaltete Reise in Teneriffas Gegenwart und Vergangenheit erwarten, ohne dass dabei ein besonders herausragender Roman herauskommen dürfte. In dem starken diesjährigen Feld sehe ich andere auf der Shortlist.

Wie kommt der Krieg ins Kind von Susanne Fritz
Wie kommt der Krieg ins Kind hat schon einmal einen alles andere als einladenden Titel. Das klingt nach Sachbuch, psychologischer Untersuchung, wenn man richtig Pech hat: nach Selbsthilfebuch. Autoren haben auf Titel bekanntlich wenig Einfluss. Aber sollte sich diesen tatsächlich eine Marketingabteilung ausgedacht haben? Die ersten beiden Seiten der Leseprobe dann klingen nach einer dieser typischen Klagen über den Überwachungsstaat. Ausgangspunkt: natürlich ein Flughafen. Dann setzt der Hauptteil des Textes ein: Eine weitere Familienerinnerung. Das Leben der Mutter im einem sowjetischen Lager. Ich kann auf den ersten Seiten nicht zu erkennen, was dieses Erinnerungsbuch aus unzähligen anderen, publizierten und nicht publizierten, herausheben soll. Ein relativ traditioneller, mild-moderner Assoziationsstil, eine Vermischung von erinnerten Geschichten und verharren bei Gefühlen. Mag durchaus aus eine interessante Lektüre sein, aber literarisch hat die Longlist besseres zu bieten.

Die Katze und der General von Nino Haratischwili
Die Katze und der General wird uns als großer Post-Sowjeroman vorgestellt, der einen „gnadenlos exakte[n] Blick auf Russland in der Umbruchzeit der neunziger Jahre“, wirft, als die kommunistische Entindividualisierung umschlug in eine Raubtiergesellschaft, die noch auf den alten Strukturen basierte und dadurch umso grässlichere Hierarchien schuf“ (so zitiert der Verlag Andreas Platthaus von der Frankfurter Allgemeine Zeitung).
Und die Leseprobe lässt einen Roman erhoffen, der das auch erzählerisch überzeugend verarbeitet. Im ersten vorgestellten Kapitel begleiten wir Nura, an der in irgendeiner Weise der nach Berlin ausgewanderten General, der späteren zum Zentrum der Handlung werden soll, sich schuldhaft vergehen wird, durch ihr kleines tschetschenisches Dorf. Familienstrukturen und Geschlechterrollen werden verschränkt mit sehr bildhaften Beschreibungen beleuchtet. Toll geschrieben wirkte auch schon das achte Leben, das sich am Ende in der Redundanz immergleicher Situationen doch ziemlich verfing. Aufgrund der Leseeindrücke und der Beschreibung des Buches habe ich Hoffnung, dass Die Katze und der General der wiederum großen Länge des Buches auch eine größere Breite der Erzählung beigibt. Dann hätte dieser Titel Chancen, auf meiner Shortlist zu landen. Auf der Shortlist der Jury sehe ich ihn definitiv.

(Prognose aus Zeitgründen auf Basis der ersten 20 Seiten der 94seitigen (!) Leseprobe)

Heimkehr nach Fukushima von Adolf Muschg
Adolf Muschg ist berühmt als klassischer, man möchte fast sagen altväterlicher Erzähler. Mit dem Thema seines nominierten Romans (älterer Architekt/Schriftsteller wird nach Fukushima eingeladen um durch die Gründung einer Künstlerkolonie Anwohnern die Angst vor der Strahlung zu nehmen – Atomkraftdebatte in Romanform) beißt sich das allerdings von Anfang an. Überhaupt liest der Roman sich ein wenig all zu süßlich, ein wenig all zu maniriert, sogar für Muschg-Verhältnisse. So etwa klingt eine simple Mahlzeit:

„Das Dessert, eine Crepe Suzette genannte explosion de saveurs, war süß genug, um im Mund auch einen Kontrast zu vertragen“

Und so Geschlechtsverkehr:

„In einem plötzlichen Impuls stand er auf, hob die überraschend Leichte [die Geliebte] zu seinem Stuhl hinüber und setzte sie auf seinen Schoß, der sogleich lebendig wurde. So schlüpfte bald zusammen, was zusammengehörte, und er hörte aus der Brust, gegen die er seinen Kopf preßte, tiefe Seufzer steigen, während er in Erinnerung versank.“

Ein Roman, den man, wie letztlich alles von Muschg, sicher lesen kann. Auf die Shortlist muss er aber nicht.

Hysteria von Eberhard Nickel
Hysteria klingt wie ein Werk, das einerseits unbedingt an den Zeitgeist und seine absurderen Auswüchse andocken möchte und der gleichzeitig, weil man heute ja kaum noch eine andere Haltung kennt, all das ironisieren muss. Biomarkt. Merkwürdig unnatürliche Himbeeren. Das Natürliche als Kunstprodukt. Das Künstliche als Ersatz der Natur. Hypersensibilisierung als Superkraft. Soweit ein Extrakt der Schlagworte aus dem Klappentext. Solcherart Literatur ist manchmal erfolgreich mit dem Phänomen, an das sie sich knüpft. Stirbt aber auch fast immer recht bald mit diesem. Die Marktszene Eingangs und die ausgiebige Himbeerenuntersuchung sind aber immerhin mindestens ansprechend geschrieben. Und die Grenze zwischen Superkraft und Wahn wirkt sehr brüchig. Ich glaube nicht, dass dies ein Shortlist-Titel sein sollte, aber der Roman könnte interessanter werden, als es der Klappentext befürchten lässt.

Eigene Shortlist:

1) Susanne Röckel: „Der Vogelgott“
2) Matthias Senkel: „Dunkle Zahlen“
3) Anja Kampmann: „Wie hoch die Wasser steigen“
4) Gert Loschütz: „Ein schönes Paar“
5) Nino Haratischwili: „Die Katze und der General“
6) Helene Hegemann: „Bungalow“

Prognose:

Matthias Senkel: „Dunkle Zahlen“
Anja Kampmann: „Wie hoch die Wasser steigen“
Gert Loschütz: „Ein schönes Paar“
Nino Haratischwili: „Die Katze und der General“
Gianna Molinari: „Hier ist noch alles möglich“
Arno Geiger: „Unter der Drachenwand“

Sören Heim

Sören Heim ist Journalist, Übersetzer und Schriftsteller. Er ist Träger des kosovarischen Preises für moderne Dichtung „Pena e Anton Pashkut“ (Stift des Anton Pashku) und des Sonderpreises „Favorit von Daniel Glattauer“ der art.experience 2014. In HeimSpiel schreibt Sören Heim mit Heimvorteil zu den Schnittpunkten von Kunst, Kultur und Gesellschaftspolitik. Er beleuchtet die unerwartete Bedeutung ästhetischer Fragestellungen für zeitgenössische Debatten, die mit Kunst auf den ersten Blick kaum Berührungspunkte haben. Und wo immer, sei es in der Politik, sei es in der Ökonomie, sei es gar im Sport, er auf geballten Unsinn und Unverstand trifft, wagt der Kolumnist auch das ein oder andere Auswärtsspiel. Bisher erschien die Kolumne HeimSpiel im Online-Debattenmagazin The European. Daneben veröffentlicht Heim in mehreren Literaturzeitschriften vornehmlich Lyrik und dichte Kurzprosa, und bloggt auf der eigenen Homepage aus seinem Zettelkasten. Monographien: Kleinstadtminiaturen: Ein Roman in 24 Bildern. Girgis Verlag: 2016 – ISBN: 978-3939154181.Cover nur Front Gewogene Worte: Nachdichtungen aus dem Chinesischen. edition maya: 2016 – ISBN: 978-3930758463.cover kathaStrophen. Experimente in Rhythmus und Melodie. Chiliverlag: 2017 -ISBN: 978-3943292541.FrontCover 2_bleu Algenhumor: Gedichte für das dritte Jahrtausend. Girgis Verlag: 2016 – ISBN: 978-3939154228.algen Audio-Exklusiv: La vie! La jeunesse! – Hörmordkartell 2017

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