Das Versagen des Feuilletons

Größtenteils mit Samthandschuhen angefasst hat das Feuilleton die diesjährigen Buchpreiskandidaten. Unser Rezensent hat derweil keine Lust mehr auf immergleiche Kritiken zu stromlinienförmigen Romanen für den gehobenen Massenmarkt. Er spart sich die letzten beiden Texte und lobt stattdessen Amazon als Feuilletonersatz


Die letzten beiden Buchpreisbesprechungen spare ich mir. Für Menasse gilt vieles, was zu Salzmann schon gesagt wurde, verschärft. Ein Text, der wie eine Auftragsarbeit zur Eurokrise wirkt. Handwerklich sauber, aber ohne sprachlich oder strukturell herausragende Merkmale. Eine Reihe Lebensgeschichten und teils sogar ganz pfiffiger, mit verteilten Rollen gelesener, Essays, die unter anderem das bemerkenswert instrumentelle Verhältnis von Kritikern der EU-Kommission zu eben dieser Kommission beleuchten. Nur wären die vielleicht in einem Essayband besser aufgehoben. Ein sauberer Roman ohne Dringlichkeit.

Der Mahlstrom des Marktes

Lehr hingegen wäre vielleicht noch einen Blick wert. Die ersten Seiten lassen schwanken zwischen opulent-genial und opulent-prätentiös. Aber nach fünf Lektüren, deren sprachliche Hausbackenheit zwischendurch so deprimierte, dass täglich nur ausgewählte Bachmanngedichte und einige Happen aus Arno Schmidts Frühwerk die Stimmung über den Nullpunkt heben konnten, kommt der höchstens noch als Nachlese infrage. Immerhin: Lehr dürfte neben Salzmann der aussichtsreichste Siegkandidat sein.

Normalerweise bespreche ich Texte, die aufgrund besonderer Qualitäten öfter gelesen werden sollten oder zumindest solche, an denen sich im Positiven wie im Negativen ästhetische und gesellschaftliche Fragen verhandeln lassen. Wenn die Werke aber im Mahlstrom des Marktes derart ihre Ecken und Kanten abschleifen, wie es (nicht nur) die diesjährige Buchpreisauswahl offenbart, macht nicht einmal mehr das Verreißen Spaß: Die immergleichen Kritiken, die die immergleichen Texte verlangen, öden auch den Kritiker an. Zumal man damit so allein auf weiter Flur ist. Manch einer mag sich gefallen als Rufer in der Wüste, als ewiger Miesmacher, ich nicht.

Statistik und Amazon

32 Besprechungen listet Perlentaucher zu den Kandidaten. Davon zu Salzmann und Poschmann nicht eine einzige auch nur ambivalente (Menasse: 5 positiv, 1 mit leichter Kritik). Nur die Herren Lehr (1 negativ, 1 ambivalent, 5 überschwänglich), Falkner (3 negativ, 1 ambivalent, 1 positiv) und Franzobel (2 negativ, 2 positiv) fallen heraus. Insgesamt sind von 32 Buchpreisrezensionen 23 frei von jeglicher, 26 frei von ernsthafter Kritik. Die 16 Kritiken zu den drei konsensfähiges Werken entdecken praktisch keine Fehler. Das allein ist schon statistisch verstörend. Die größten Meisterwerke der Literaturgeschichte haben ihre Schwächen und immer wieder wurden die auch penibel herausgestellt. Allein die zeitgenössische Literatur soll makellos sein? Unwahrscheinlich: Amazon zeigt: es ist durchaus möglich und berechtigt, fundierte Kritik an den Kandidaten zu leisten. Und es handelt sich bei den 1,2 und 3 Sterne-Rezensionen nicht um versprengte Dan Brown Leser, die sich aus Versehen einmal in die „hohe Literatur“ verirrt haben, sondern um ausgearbeitete Kritiken. Nicht immer geschliffen vielleicht, aber inhaltlich das, was ich von gestandenen Feuilletonisten erwarten würde.

Es stimmt: in der Kunst sollte man nichts auf die Meinung der Masse geben. Ästhetik verwirklicht sich nicht demokratisch. Aber: während das Sternesystem verschiedener Onlineportale fast zwangsläufig dazu führt, dass Harry Potter „besser“ bewertet sein wird als etwa Die satanischen Verse (die Leser des zweiten Werks sind im Mittel einfach kritischer), lassen sich gerade aus den negativen Laienrezensionen Informationen ziehen, die uns die Professionellen vorenthalten. Denn da wird noch aus dem Werk zitiert und kommentiert. Wird mit anderen Texten verglichen. Werden teils harsche Werturteile gefällt und begründet, denen sich die Professionellen größtenteils verweigern; es sei denn, es wird gerade einmal zum kollektiven Sturm auf einen bestimmten Autoren geblasen.

Es ist verständlich. Mit der sehr kritischen Besprechung zu Salzmann etwa tat ich mich verdammt schwer, weil es nun doch schon mehrfach vorkam, dass besprochene Autoren Feedback zu meinen (in diesen Fällen zum Glück positiven) Besprechungen gaben. Und so wie Journalisten bereits anonyme Kommentare der Leserschaft durchaus nahe gehen können (glauben Sie mir), können das mit Sicherheit auch, wiewohl sachlich gemeinte, negative Besprechungen bei den Autoren. Vielleicht trägt neben dem generellen Streamlining des ästhetischen Bewusstseins also auch die schlichte Tatsache, dass Autoren und Kritiker, die es bis in die höchste Klasse ihrer Zunft geschafft haben, einander recht nahe sind, und entsprechend bemüht sind, freundlich miteinander umzugehen, dazu bei, dass das kritische Handwerkszeug steckengelassen wird.

Daraus folgt aber auch: Der elitäre Schnösel, der aus den Kieseln, die auf dem Massenmarkt der gehobenen Literatur feilgeboten werden, die wenigen Perlen fischen möchte, vertraut im Zweifel auf Rezensionen in Amazon. Das kritische Vergleichen einer Handvoll negativer Besprechungen dort (in die wird meist mehr Arbeit gesteckt als in Lobgesänge) ergibt ein plausibleres Bild als die Hymnen, die die großen Presseorgane publizieren.

Sören Heim

Sören Heim ist Journalist, Übersetzer und Schriftsteller. Er ist Träger des kosovarischen Preises für moderne Dichtung „Pena e Anton Pashkut“ (Stift des Anton Pashku) und des Sonderpreises „Favorit von Daniel Glattauer“ der art.experience 2014. In HeimSpiel schreibt Sören Heim mit Heimvorteil zu den Schnittpunkten von Kunst, Kultur und Gesellschaftspolitik. Er beleuchtet die unerwartete Bedeutung ästhetischer Fragestellungen für zeitgenössische Debatten, die mit Kunst auf den ersten Blick kaum Berührungspunkte haben. Und wo immer, sei es in der Politik, sei es in der Ökonomie, sei es gar im Sport, er auf geballten Unsinn und Unverstand trifft, wagt der Kolumnist auch das ein oder andere Auswärtsspiel. Bisher erschien die Kolumne HeimSpiel im Online-Debattenmagazin The European. Daneben veröffentlicht Heim in mehreren Literaturzeitschriften vornehmlich Lyrik und dichte Kurzprosa, und bloggt auf der eigenen Homepage aus seinem Zettelkasten. Monographien: Kleinstadtminiaturen: Ein Roman in 24 Bildern. Girgis Verlag: 2016 – ISBN: 978-3939154181.Cover nur Front Gewogene Worte: Nachdichtungen aus dem Chinesischen. edition maya: 2016 – ISBN: 978-3930758463.cover kathaStrophen. Experimente in Rhythmus und Melodie. Chiliverlag: 2017 -ISBN: 978-3943292541.FrontCover 2_bleu Algenhumor: Gedichte für das dritte Jahrtausend. Girgis Verlag: 2016 – ISBN: 978-3939154228.algen Audio-Exklusiv: La vie! La jeunesse! – Hörmordkartell 2017

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