Von „Aphorismen zur Liebesweisheit“ oder dem „Zauber des Zufalls“
Bruno Schulz stöbert im Antiquariat und versinkt dabei in Aphorismen, die von Don Juan und der Kunst „richtig zu lieben“ handeln. Wer nicht zu viel erwartet, tut sich leichter damit
Trouvaillen
Crash into me! (Dave Matthews)
Vor einiger Zeit trafen die seltsam schöne Fibel „Aphorismen zur Liebesweisheit“ von Carl Hagemann aus dem Jahr 1921 und meine Wenigkeit in einem Antiquariat überraschend, doch eher beiläufig aufeinander. Nicht wirklich aufgepasst, kein Rechts vor Links: Frontal!
Zufall? Was sonst. Allein der Titel hat mich zugreifen lassen. Und der Wunsch, der Aufmerksamkeit des Moments Gewicht zu schenken, dieses seltsame Fenster zum Nirvana zu öffnen und dann auch noch hindurchzuschauen. Dem Zufall nachzugehen und irgendwie auch nachzugeben. Also las ich rein und was ich las, gefiel mir gut. Ein Zeichen? Vielleicht. Man sollte das ruhig öfter mal tun, das mit den unerwarteten Überraschungen und dem nachspüren. Es tun sich immer wieder ganz neue, interessante Perspektiven auf. Nach außen wie nach innen. Und beide Richtungen lohnen es immer wieder, aufs neue besehen zu werden.
Rolle rückwärts
Wer ist dieser Carl Hagemann? Oder vielmehr wer war das? 1867 bis 1940. Hier ein paar knappe und wie ich finde, interessante Notizen zur Person: Hagemann studierte Philosophie und Chemie und promovierte in Letzterer an der Universität Tübingen. Eine spannende, interdisziplinäre Kombination, bei der man einen ganzheitlichen Bildungs- und Wissensanspruch durchschmeckt, der heute leider ziemlich unmodern und unpopulär geworden zu sein scheint. Hagemann war dann bis zu seiner Pensionierung 1932 ein einflussreicher Manager in verschiedenen Unternehmen. Zuletzt im Vorstand der IG Farben. Aufschrei! Richtig, das waren doch Verbrecher! Ja, aber später. Erst nach seinem Ausscheiden ging die IG Farben mit ihrer grausamen Unternehmenspolitik im 3. Reich für immer in die Weltgeschichte ein.
Kunst ist Risiko
Der Philanthrop Hagemann war einer der bedeutendsten Kunstsammler und Mäzene seiner Zeit und hinterließ nach seinem Tod eine erstaunliche Sammlung von knapp zweitausend Objekten: Ernst Ludwig Kirchner, Karl Schmidt-Rottluff, Erich Heckel, Otto Mueller und Emil Nolde und noch einige andere mehr. Ein „who is who“ des Expressionismus in einzigartiger Dichte. Alles Künstler, die die Nazis kurz nach seinem Ableben zu entarteter Kunst erklärten. Die Rettung der Sammlung ist dem ehemaligen Direktor des Frankfurter Städel, Ernst Holzinger zu verdanken. Der ging ein extrem hohes, persönliches Risiko ein, die Sammlung Hagemann vor dem Zugriff zu bewahren und in ihrer Komplexität der Nachwelt zu erhalten. Dafür erhielt das Städel später die Grafiken und Zeichnungen aus der Sammlung als Anerkennung.
IG Farben und Don Juan
Hagemanns Vita liest sich in großem Maßstab. Die Welt hat sich massiv verändert in jenen Jahren. Es gibt viele Eckpunkte in Hagemanns Leben, an denen man tief in den historischen und auch kunsthistorischen Kontext einsteigen möchte und könnte.
Ich bleibe heute bei seinen eigenen Aphorismen. Mir gefallen seine Gedanken zum Don-Juan-Mythos, die man einem nüchternen Naturwissenschaftler so gar nicht zuordnen mag. Der Archetypus des Weiberhelden Don Juan ist das Herz fast aller Geschichten im Sujet. Und normalerweise geht es dann immer gleich um Maßlosigkeit im Lebensgenuss, die miefigpiefig unterstellte Verwerflichkeit und die immer wieder schadenfroh herbeigesehnte Vergänglichkeit. Ermüdend.
Liebesfroh bleiben
Nicht so Hagemann. Der sinniert ganz unkonventionell: „Don Juan lehrt, sich in Liebesdingen über nichts zu wundern: möglichst wenig zu erwarten und auf alles gefasst zu sein. Nur so ist es möglich, Enttäuschungen zu vermeiden. Auch dann liebesfroh zu bleiben, wenn einmal etwas misslingt.“
Das Glas ist mehr als halbvoll. Danke und Prost, Herr Doktor Hagemann, da hatten Sie recht.
Der Zauber des Zufalls
Mein Text ist NICHT das Ergebnis einer Wette oder eines dieser seltsamen Gesellschaftsspiele für gelangweilte Akademikerpaare, wo es hätte darum gehen können, fünf unvereinbar scheinende Vokabeln in eine halbwegs plausible Story einzubetten: „3. Reich (immer gerne strapaziert)“, „Don Juan“, „Naturwissenschaften“, „Emil Nolde“ und „Optimismus“.
Nein, hier geht es um die Konsequenzen einer beiläufigen Berührung und um ein Plädoyer für den Zauber des Zufalls.
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