Logopädie ist mehr

Logopäde Uwe Fischer gibt tiefere Einblicke in seine Tätigkeit.


 

Ich bin als Logopäde immer wieder erstaunt, wie wenig den meisten Menschen über unsere Arbeit bekannt ist. „Logopädie? Das ist doch das mit den Füßen!“ „Nein, ist es nicht!!!“ (Klatsch) „Logopädie? Das ist doch Ergotherapie, oder?“ „Nein, Logopädie ist Logopädie, sonst würde es doch Ergotherapie heißen, oder?“ „Logopädie ist doch das, wenn man mit Kindern spielt weil die so lispeln!“ Na, jetzt kommen wir der Sache langsam näher. Langsam zwar, aber es ist ein Lichtblick. Ja, wir spielen auch mit den Kindern, das stimmt. Aber erstens nicht nur und zweitens nicht ohne dabei zu therapieren. Der Ernst des Lebens kommt noch früh genug, oft zu früh.

Also geht es uns darum, Patienten bei
• Ess- und Fütterstörungen
• Artikulationsstörungen
• Dysgrammtismus
• eingeschränkten Wortschatz
• Hörstörungen
• Autismus
• Mutismus
• Morbus Down
• geistige Behinderungen
• Stottern
• Poltern
• Lippen-Kiefer-Gaumenspalte
• Rhinophonie (Näseln)
• Stimmstörungen
• LRS (u.U. als Selbstzahlerleistung)
• Schlaganfall
• Morb. Parkinson
• MS
• ALS
• verschiedenen Muskelerkrankungen
• Tumoren im Hals-Kopf-Bereich
• Schädelhirntrauma
• Demenz

und weiteren bei aller Seriosität spielerisch zu behandeln, wenn es um Kinder und Jugendliche geht. Aber auch bei der Arbeit mit Erwachsenen dürfen Spaß und Humor nicht zu kurz kommen, die meisten unserer Patienten sind bei all dem oft mit der Erkrankung verbundenen Leid dankbar für etwas Leichtigkeit im Alltag. Es heißt ja nicht ohne Grund, dass Lachen die beste Medizin ist. Für unsere Arbeit steht uns eine Vielzahl an hochwertigen Materialien zur Verfügung, sei es als Datei, als Spiel oder als App, hinzu kommt die Kreativität unserer Berufsgruppe wenn es um die Nutzung von Dingen geht, die in jedem Haushalt zur Verfügung stehen.

Ich versuche mich mal mit einem sehr kleinen Einblick in unseren Arbeitsalltag in dem Bewusstsein, dass ich der wertvollen Arbeit meiner Kolleginnen und Kollegen in vielen anderen Therapiebereichen damit nicht gerecht werden kann. Wenn Euch dieser Ausschnitt aber Anlass ist, unseren Beruf neu kennenzulernen, dann ist schon viel erreicht.

 

1) Logopädisches Thema: Pragmatik, Anwendung von Sprache im Alltag

Es war ein Versuch, bei dem ich nicht wirklich die Hoffnung hatte, dem Therapieziel nahe zu kommen. Schizophrenie, ein junger Mann mit vielen Aufenthalten in der Psychiatrie. Eines seiner Probleme bestand in den häufigen sehr direkten, teils unflätigen Äußerungen vor allem Frauen ähnlichen Alters gegenüber. „Weißt Du, wo ich gerade war? Auf dem Klo, da habe ich an Dich gedacht und gewixxxt!“ Warum also nicht den Versuch unternehmen, der Kommunikation ein wenig Feinschliff zu verpassen und alternative Ausdrucksmöglichkeiten erarbeiten? Etwas anderes als der nächste Aufenthalt auf der geschlossenen Abteilung der Psychiatrie war nicht in Sicht, sonst ging er in den Tagen, in denen er nicht in der Klinik war, in einer Einrichtung für Menschen mit psychischen und/oder kognitiven Beeinträchtigungen arbeiten. Aber genau da kam er trotz engmaschiger Betreuung nicht zurecht, weil ihm seine „ungewöhnliche“ Ausdrucksweise im Weg stand. Das Problem in solchen Fällen ist, dass eine sehr enge Zusammenarbeit mit parallel behandelnden Psychotherapeuten unverzichtbar ist, solche Plätze leider nur mit langen Wartezeiten zu bekommen sind und so gut wie nie zeitnah.

Auch wenn ich nun dort arbeitenden Menschen auf die Füße trete – ich hatte bislang noch keinen Anlass, von Therapien in Kliniken begeistert zu sein, da gibt es auch lange Erfahrungen mit Menschen aus meinem unmittelbaren Umfeld. Individuelle Therapien sind meist Fehlanzeige, Patienten kommen oft mit komplett anders gelagerten Störungsbildern auf eine Station. Wer wegen seiner Depressionen oder wegen des Alkoholentzugs auf einer solchen Station ein Zimmer mit schweren psychiatrischen Fällen teilen muss wird sich durch einen solchen Aufenthalt schwerlich besser fühlen. Aber das ist ein anderes Thema.

Die ersten Stunden liefen recht gut, der Patient war klar und offen, wir konnten über seine besondere Art der Kommunikation sprechen und uns Alternativen überlegen. Dann gelangten wir recht bald in einen Bereich, für den ich nicht zuständig bin und die so wichtige therapeutische Kooperation fehlte. Der Patient driftete zusehends ab, erzählte erst von sehr persönlichen Problemen und dann von Raumschiffen, die bald kämen um ihn abzuholen und auf einen anderen Planeten zu bringen. Die einzige Bezugsperson, die mir zur Verfügung stand, war der sehr motivierte, dennoch mit der Situation überforderte Vater und so fand das Experiment mit einer erneuten Einweisung ein Ende. Schaden entstand keiner, erfolglos war der Versuch im Alleingang allemal. Ob der Therapieverlauf mit der entsprechenden interdisziplinären Zusammenarbeit erfolgreicher gewesen wäre lässt sich nur der Glaskugel entnehmen, die Chance wäre aber da gewesen.

2) Logopädische Themen: Wortschatzerweiterung, Artikulation, Grammatik

Ein Junge von 4 Jahren, mit klassisch logopädischen Themen. Familiäre Situation oberflächlich gut mit Zuverlässigkeit, Höflichkeit, scheinbarem Interesse an der Förderung des Kindes. Der Zugang zu dem verunsicherten und oppositionellen Kind gelang, die Therapie lief. Nach ein paar Wochen kamen merkwürdige Äußerungen: im Keller sei es dunkel, da wären Spinnen, er sei böse, er habe Angst im Keller. Es gab Vermutungen zu den Gründen, keine Belege. Es folgten Infos zum Vater: arbeitslos, der König vom Dorf, dicke Protzkarren, viel Geld, vermutlich alles nicht von der Arge finanziert.

Erste Berichte, das Kind habe Erwachsene mit dem Blick fixiert, während er mit aller Kraft die Fingernägel in deren Arm presste – er wollte ein „Nein!“ nicht akzeptieren. Dem folgte ein Tritt auf den Kopf eines am Boden liegenden Kindes, der Wurf eines schweren Türstoppers in Richtung des Kopfes einer Frau. Ich hatte immer die Assoziation zur gut bekannten Familie Ritter aus der TV Doku.

Es folgte ein Umzug, ein Praxiswechsel, andere pädagogisch-therapeutische Bezugspersonen. Weiterer Verlauf unbekannt.

3) Logopädisches Thema: Stottern

Ein stotternder Jugendlicher, ein sehr bemühter Vater, eine Mutter in nahezu dauerhaftem psychischen Ausnahmezustand. Das Stottern extrem, während gezielter Übungen nicht mehr, kein Transfer in den Alltag möglich. Zu den aufrechterhaltenden und verstärkenden Faktoren beim Stottern gehört auch das soziale Umfeld, das war bei allem Bemühen des Vaters äußerst schwierig. Blutverkrustete Unterarme präsentierte die Mutter regelmäßig, sprach offen und vor dem Sohn über Suizidversuche, kündigte diese in seinem Beisein an. Irgendwann dann die längerfristige Unterbringung der Mutter in der Psychiatrie, der Vater hatte Probleme bei der Alltagsbewältigung, die Therapie pausierte. Zu einer geplanten stationären Therapie über ein paar Wochen kam es nicht mehr. Weiterer Verlauf unbekannt.

4) Logopädische Themen: Wortschatzerweiterung, Artikulation

Der Sohn gerade vor der Einschulung, Mutter äußert attraktiv, gepflegt und mit einer sehr guten Ausdrucksweise. Erzählte von tollen Projekten, die sie plante und kam dabei sehr überzeugend rüber. Die erste Irritation kam auf, als sie mit dem Gyrosteller vom Imbiss ins Wartezimmer marschierte und Besteck orderte – manchmal fehlen auch einem Logopäden die Worte. Die nächste, als der fast Siebenjährige sich zwingend mit einem Kuss auf den Mund verabschieden musste, als er in den Therapieraum ging. Die Erklärung, dass sie ihn abends immer gründlich wäscht, auch unter der Vorhaut. Nach und nach wurde bekannt: prophylaktische Gabe von Medikamenten gegen alles, woran er erkranken könnte, organisch war das Kind mittlerweile schon belastet. Konflikte mit dem Ex-Mann mit Beleidigung, Denunzierung, abstrusen und erfolglosen Anschuldigungen gegenüber seinen Vorgesetzten, Love & Peace, wenn sie Geld brauchte. Das Jugendamt war involviert, sah aber noch keine Handlungsgrundlage. Therapie wurde erfolgreich beendet weil keine Indikation mehr. Monate später die Obdachlosigkeit der Mutter. Weiterer Verlauf unbekannt.

5) Logopädische Themen: Wortschatzaufbau, Artikulation, Grammatik, Mutismus

Schulkind in der Eingangsklasse. Mutter getrennt lebend, Akademikerin, Opa vormals in einer sehr hohen Position in der Region. Das Kind wirkte immer verschreckt und verschlossen, hatte einen gehetzten oder leeren Blick. Emotionen waren außer Ängsten selten erkennbar. In Rollenspielen wurde immer jemand in einen Turm gesperrt oder in ein Gefängnis. Eines Tages kam die Mutter in einem seltsamen Zustand – und zwar ziemlich betrunken. Auf der Straße warteten Freundinnen, ebenfalls nicht sehr klar wirkend. Das Outfit weckte den Verdachts eines Jobs, der überwiegend im Liegen ausgeübt wird. Eines Tages packte der Junge seine Brotdose aus – der Inhalt war völlig verschimmelt. Berichtete, dass er nicht in seinem Bett schlafen kann, weil die Hunde da reingemacht haben und die Mutter das noch nicht sauber gemacht hat. Kinder- und Jugendpsychiater war involviert. Irgendwann wurde er nicht mehr gebracht, die Mutter war nicht mehr zu sehen. Weiterer Verlauf unbekannt.

6) Logopädische Themen: Wortschatzaufbau, Grammatik

Die in Trennung lebenden Eltern, die abwechselnd das Kind brachten und abholten und eines Tages vor dem Kind eine Prügelei in der Praxis begannen.

7) Logopädisches Thema: juvenile Stimmstörung

Der kleine Stimmpatient aus der streng religiösen Familie, der eines Tages ziemlich verstört sagte, dass er unbedingt mehr üben müsse, weil er sonst Krebs bekommen und sterben würde. Die Eltern aufgrund der religiöse Strenge nicht empfänglich für eine Beratung. Vorsichtshalber sei erwähnt, dass es sich um eine christliche Glaubensgemeinschaft handelte und nicht um eine muslimische, die Zeiten machen diese Erklärung leider nötig.

8) Logopädische Themen: Dysphagietherapie, Anbahnen des Schluckens von Flüssigkeiten

Die Palliativpatientin, deren letzte Lebenstage etwas erleichtert werden sollten durch ein Schlucktraining. Zuhause gepflegt von einem emotional sehr belasteten Mann, der mich bei der ersten Begegnung drohend mit dem Zeigefinger fast durchbohrte, weil es alleine von mir abhängig sei, dass es seiner Frau besser ginge. Der mich Wochen später als Sadist beschimpfte, der Freude daran habe, seine Frau zu quälen um mir dann heulend und sich entschuldigend in den Armen zu liegen. Die Patientin verstarb erwartungsgemäß bald darauf.

9) Logopädische Themen: querbeet

Die Kinder mit glasklar erkennbaren geistigen Beeinträchtigungen, deren Eltern sich der Erkenntnis mit allen Mitteln verweigern und einer wirklich konsequenten Förderung im Weg stehen. Konflikte bei Gesprächen darüber, oft auch mit plötzlichem Wechsel von Ärzten, Kitas, Therapeuten, wenn dem Thema nicht mehr ausgewichen werden kann. Oft ist eine geistige Behinderung vor bestimmten kulturellen Hintergründen schambehaftet und ich bin dankbar für alle Familien, die sich dieser schweren Erkenntnis stellen

10) Logopädische Themen: Wortschatzaufbau, Grammatik, auditive Merkfähigkeit, Zahlen- und Mengenverständnis, phonologische Bewusstheit u.a.m.

Das Mädchen mit einer Lernbehinderung und einer Mutter, die daran seelisch erkrankte (oder deren Erkrankung dadurch zum Ausbruch kam). Mit einer ärztlich verordneten Therapiefrequenz, wie ich sie in 16 Jahren nie mehr erlebt habe – fünfmal wöchentlich (üblich ist eine Frequenz von ein bis zwei Stunden wöchentlich, selten mehr und dann auch nur zeitlich begrenzt, wurde bei uns umgehend reduziert). Das Leben des Mädchens drehte sich nur ums Lernen, Geschenke zu Weihnachten und zum Geburtstag waren Schulsachen oder Kleidung. Auch die Lehrerin wurde so bearbeitet, dass es für die Sommerferien 100 DIN A 4 Seiten mit Matheaufgaben gab, die es alleine nicht im Ansatz bewältigen konnte, während es zuhause keine Hilfe gab. Selbstredend kamen die anderen Fächer obendrauf. Freizeit in den Ferien – Fehlanzeige.

Vor nahezu jeder Stunde wurde das Kind viel zu früh in die Praxis geschoben und am Ende viel zu spät abgeholt, es sollte mit den anderen Kindern zusammen lernen. Das ging natürlich nicht, das Kind wurde im Wartezimmer oder in der Ecke des Therapieraums mit Spielsachen geparkt, bis es endlich abgeholt wurde. Die meisten Kolleginnen und Kollegen werden verständlicherweise fragen, warum wir die Therapie nicht einfach beendet haben. Die Antwort lautet: weil das Kind bei uns einen Schutzraum hatte und bei einem Praxishopping alles von vorne begonnen hätte, bis die neue Praxis das Problem erkannt hätte. Dann ein erneuter Wechsel, alles von vorne, der nächste Wechsel usw. War das richtig oder falsch? Wir wissen es nicht, uns schien es die beste Lösung zu sein.

Gegen Ende einer Therapiestunde wurde das Kind einmal nicht abgeholt, niemand aus der Familie war erreichbar und wir hatten Feierabend. Was tun? Die Polizei anzurufen wäre eine Möglichkeit gewesen, aber auch für das Kind? Der Polizei hätten wir ohne Frage vertraut, aber eine solche Situation wollten wir dem ohnehin so verletzlichen Wesen ersparen. Wir fuhren also mit dem Kind im Gepäck zu ihm nachhause, erwischten irgendwo in der Nachbarschaft einen der älteren Brüder und konnten es übergeben. Das Ende einer langen Geschichte: das Kind selbst bat in der Schule um den Kontakt zum Jugendamt und wurde letztlich in einer Pflegefamilie untergebracht. Die Mutter kam gelegentlich noch in die Praxis, bat uns um Hilfe und befand sich in einem äußerst schlechten emotionalen Zustand. Weiterer Verlauf unbekannt.

11) Logopädische Themen: Stimmtherapie, Atemtraining, Dysphagietherapie

Da war der Bekannte mit den Tumoren, ähnlich wie bei meinem Vater. Brauchte eine Stimm- und Schlucktherapie, genau wie mein Vater. Hat weiter geraucht, genau wie mein Vater (der seine Lage richtig eingeschätzt hatte und in den letzten Lebenswochen keine unnötigen Abstriche an der verbliebenen Lebensqualität machen wollte). Von Urlaub und neuem Auto wurde gesprochen, genau wie bei meinem Vater. Und ich wusste, dass er alles nicht erreichen wird, genau wie mein Vater. So kam es nur wenige Wochen später auch. Es war nicht leicht, aber es ist meine Arbeit und da kann ich mit solchen Dingen den Umständen entsprechend gut umgehen.

12) Logopädische Themen: Stimmtherapie, Artikulationstherapie, Dysphagietherapie

Der Patient von der AfD, ebenfalls mit Tumoren im Mund- und Rachenraum. Was ich von der AfD halte, wissen die meisten, aber solche Gefühle haben bei meiner Arbeit außen vor zu bleiben. Religiöse oder politische Einstellungen bleiben bei den Patienten mit der Jacke an der Garderobe und bei mir werden sie bis zum Ende einer Stunde komplett ausgeblendet. Wir haben nie über Politik geredet und erstaunliche Gemeinsamkeiten entdeckt, in einem anderen Leben hätten wir gute Bekannte, gute Nachbarn sein können (ähnliche Erfahrungen konnte ich während der Flut machen, wenn Menschen derartige Inhalte ausblenden kommt es ganz plötzlich zu einem wunderbaren Verständnis untereinander). Er machte eine Therapiepause, weil weitere Untersuchungen anstanden und wollte danach wiederkommen. Ich ahnte, dass er nicht wiederkommen würde. Er kam nicht wieder.

13) Logopädische Themen: Wortfindung, Artikulation, Dysphagietherapie

Die Übernahme einer älteren Patientin von einer Kollegin, ebenfalls von Tumoren befallen. In der zweiten Stunde sagte ich, wie ich weiter vorgehen möchte, welche Materialien ich mir überlegt hatte. Sie lächelte und meinte, dass sie gar nicht so viel Zeit habe, das alles zu schaffen, die Krankheit sah man (ich jedenfalls) ihr nicht an und ich dachte noch: ‚Ach, komm, wir haben noch etwas vor uns!‘. In der dritten Stunde saßen wir bei traumhaftem Wetter in ihrem traumhaften Wintergarten mit Blick auf den traumhaften Garten. Auf meine Bitte hin, zu unseren Stunden immer hier zu sitzen, lächelte sie. Es war das letzte Lächeln, was ich von ihr sah und der letzte Tag an diesem wunderschönen Ort.

14) Logopädisches Thema: Stimmtherapie bei Transsexualität

Einen besonderen Eindruck hinterlassen hat eine transsexuelle Stimmpatientin. Als Mann geboren, im falschen Körper gefangen und den ganzen Spießrutenlauf bis zur Geschlechtsanpassung. Durch diese Patientin habe ich erstmals das ganze Drama um Selbstfindung, Annahme der Identität, das entwürdigende Rennen von Beratung zu Beratung, von Arzt zu Arzt, von Therapie zu Therapie erfahren. So sollte sie z.B. körperlich noch vollständig als Mann, vor einer Hormonbehandlung bei starkem Bartwuchs, im Frauenlook und geschminkt einen Tag in einer Stadt in der Umgebung verbringen und sich in dieser Rolle ausprobieren. Dumm nur, wenn einer Frau nach ein paar Stunden die Barthaare im Gesicht sprießen. Als besonders Bonbon fragte sie mich einmal, ob ich gerne mal OP Fotos sehen möchte, ein Krankenhausfotograf habe die OP dokumentiert. Ich glaube, dass es auch eine Art von Test war, wie ich auf diese Aufnahmen reagieren würde, vermutlich habe ich mich tapfer gehalten. Wir müssen uns oft Aufnahmen z.B. von Tumoren im Hals-Kopf-Bereich ansehen, von geschädigten Stimmlippen und auch an solchen Stellen manuell arbeiten. Je nach

Aus- und Weiterbildungsstand saugt man ein Tracheostoma ab, reinigt mal vereiterte Wunden, arbeitet mit Fingern im verkrusteten oder verschleimten Mund, entfernt Essensreste aus dem Mund und wird dabei auch schon mal entsprechend betröpfelt.

Aber diese Fotos waren grenzwertig, ich hatte noch Tage danach Schmerzen im Schritt von dem Anblick der ersten operativen Schnitte vom Mann zur Frau. Diesen ganzen Leidensweg zu gehen, von den ersten Ahnungen bis hin zum letzten Schritt erfordert mehr, als anderen Menschen klar ist. Umso schlimmer empfinde ich die Hetze von empathielosen Gestalten, wenn es um das Thema Transsexualität geht, diese Stärke, einen solchen Weg zu bewältigen, geht diesen Menschen vermutlich völlig ab.

Wer möchte, kann mal einen Blick auf die Eingruppierung von Transsexualität in den ICD10 Codes werfen um zu sehen, wo das steht. Nicht unter den körperlichen Störungen, so viel vorweg.
(Hier könnt Ihr Euch mal kurz durch die Diagnosegruppen mit F60.xx lesen und sehen, mit welchen anderen Diagnosen Transsexualität benachbart ist. Ich finde das entwürdigend: https://www.icd-code.de/icd/code/ICD-10-GM.html)

Und meine Patientin? Wie ein anderer Patient von mir so gerne sagt: „Ein schwieriges Unterfangen!“ Es schien wenig Energie vorhanden zu sein, an der klar männlichen Stimme zu arbeiten, keine Abmachung wie „Ich werde Dich immer mal spontan anrufen und erwarte, dass Du dich mit der Stimme meldest, die wir hier erarbeitet haben!“ wurde eingehalten, Outfit, Gestik, Bewegung blieben klassisch-männlich geprägt. Sie zog um und ward nie mehr in der Stadt gesehen. Weiterer Verlauf unbekannt.

Erfüllende Arbeit

Ist unsere Arbeit immer so deprimierend? Nein, keineswegs, sonst wäre sie ja nicht auszuhalten. Was ich besonders schätze ist einmal die Arbeit mit Stimmpatienten, dann die mit den sog. besonderen Kindern. Geistige Behinderung, Morbus Down, Autismus und besonders frühkindlicher Autismus. Aber auch die Schlaganfallpatienten, die endlich wieder sprechen oder schlucken können, geben unserer Arbeit die wirkliche Bedeutung.

Bei den Stimmpatienten ist es ein wunderbares Gefühl, sie von der Stimmlosigkeit zurück zum normalen Sprechen, manchmal auch zurück zum Gesang im Chor zu begleiten. Die Angst, nie wieder halbwegs normal sprechen zu können und dann die Freude, wenn es nach anfänglich mühseligen Versuchen plötzlich funktioniert, ist berührend. Auch wenn die sozialen Medien unsere Kommunikationsgewohnheiten nachhaltig verändern, kommen wir doch nie ohne das gesprochene Wort aus (weil wir im Gegensatz zur Gehörlosen damit aufgewachsen sind). Natürlich müssen die organischen Voraussetzungen gegeben sein für das Wiedererlangen der Stimme, aber auch ohne diese kann Kommunikation funktionieren.

Besondere Kinder

Ja, die besonderen Kinder! Es ist schon beeindruckend, manch einem kindlichen Patienten als Jugendlichem oder als Erwachsenen zu begegnen und den Werdegang seit unserer letzten Stunde zu erfahren. Gestern noch eingeschult, heute schon im Berufsleben. Aber was bedeutet es erst, wenn ein Kind mit einer kognitiven Beeinträchtigung das erste Wort oder den ersten kleinen Satz spricht! Wenn so ein Kind es erstmals schafft, einen kleinen Turm aus Bausteinen zu bauen und sich vor Freude nicht mehr einbekommt! Wenn niemand ihm zugetraut hat, Lesen zu können und es den Zweiflern endlich beweisen kann! Wenn ein Kind mit ausgeprägtem frühkindlichen Autismus nach Monaten die erste Stunde vollständig mitmacht, sich von einem „Nein!“ nicht aus der Bahn werfen lässt! Eine Abweichung der gewohnten Rituale akzeptiert! Spielregeln erkennt und anwendet! Erste Worte eigenintiativ spricht und nicht als Echolalie! Es gibt unglaublich viele Erfolgserlebnisse dieser Art und alle Logopäden sind glücklich, diese bewirken zu können. Stolz ist in unserer Gesellschaft meist negativ konnotiert. Wer aber stolz darauf ist, schwerstkranken Menschen auf ihrem Weg zurück in und durch das Leben geholfen oder einem abgeschriebenen Kind die ersten Worte beigebracht zu haben, einem Säugling die Nahrungsaufnahme angelernt oder einen Patienten mit neurologischer Erkrankung von der Sondennahrung zum normalen Essen und Trinken geführt hat, der hat sich diesen Stolz mehr als verdient. Wir können mit unserer Arbeit so unglaublich viel bewirken, vielen Menschen ist das leider nicht bekannt und im Gesundheitswesen führen wir nach wie vor ein Dasein im Schatten anderer Berufsgruppen.

Wir sind mehr…..

……. als nur Logopäden oder Sprachtherapeuten (aber viel zu wenige, um alle Patienten versorgen zu können, die dringenden Therapiebedarf haben). Ich möchte unsere Berufsgruppe nicht einfach nur als Logopäden oder Sprachtherapeuten verstanden wissen, das verengt den Blick auf den Umfang unserer Arbeit zu sehr. Etwas wie „Kommunikationstherapeut“ halte ich für passender. Nie bleiben wir unberührt von sozial-kommunikativen Aspekten, ob es nun die Akzeptanz von Diagnosen ist, die Sterbebegleitung, die Beratung von Angehörigen und oder die Vermittlung bei Konflikten, wenn das Gefüge zwischen gesundem und erkranktem Partner durcheinander gerät. Nicht selten sind wir eine Schnittstelle zum Jugendamt, zur Schulberatung, zu Familienhilfen, zu Schulbegleitungen, Betreuern, Frühförderstellen, Autismuszentren u.ä. Wir gehen mit Patienten unter Menschen, trainieren deren Sprechen im täglichen sozialen Umfeld, üben Telefonieren oder Einkaufen, zeigen den idealen Umgang mit der Stimme bei Vorträgen, am Arbeitsplatz, in der Kita, in der Schule, im Amt, im Verkauf, in Kundengesprächen.

Wir erfahren von Trennungschaos, von Krankheiten der Angehörigen und von Sterbefällen, von Alkohol- und Drogenabhängigkeit, von häuslicher Gewalt und sexuellem Missbrauch, von ungerechtfertigtem Kindesentzug, von Arbeitslosigkeit oder Ausgrenzung, von Mobbing, von allen möglichen Schicksalen. In einem geschützten Rahmen alleine mit Patient und Therapeuten öffnen sich Menschen und fassen Vertrauen, gerade bei Hausbesuchen sind wir oft die einzigen Ansprechpartner, die ein wenig Zeit mit den Menschen verbringen. Wir erfahren also von Problemen, die wir nicht lösen können, bei denen wir aber mindestens am Rande dabei sind, wirkt sich das alles doch auf das Verhalten unserer Patienten und somit auf unsere Arbeit aus. Manchmal ist es uns auch möglich, durch unsere Vernetzung die geeigneten Ansprechpersonen zu vermitteln und die erforderliche Hilfe auf den Weg zu bringen. Auch wenn das nicht unser Standardprogramm ist, kommt es häufig genug vor.

Wir arbeiten neben der Sprach-, Sprech-, Stimm- oder Schlucktherapie aber auch noch mit der Schriftsprache, mit Apps, mit Computerprogrammen, mit Lautgesten, mit Gebärdensprache, mit Piktogrammen, mit Kommunikationsbüchern, mit Talkern, mit elektronischen Sprechhilfen, mit der Ruktus- oder Ösophagusstimme. Das alles ist Kommunikation, das geht in der öffentlichen Wahrnehmung verloren wenn wir nur die sind, die Füße machen und dabei mit den Kindern spielen, wenn die lispeln.

Logopädie ist mehr. Sehr viel mehr.

Uwe Fischer

Nach 18 Jahren als Kundenbetreuer im Außendienst, 15 Jahre davon bei einem mittelständischen Unternehmen aus der Lebensmittelbranche, hieß es „back to the roots“ mit einer späten Ausbildung zum Logopäden. Heute betreibt Fischer seit 2008 gemeinsam mit seiner Partnerin eine Praxis für Logopädie in der Eifel.

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