Über die Lebensdauer von Ampeln oder …

… was antike Eingeweide-Schau und Kartenlegen mit der heutigen Meinungsforschung zu tun haben. Eine Sonntagsfrage-Kolumne am Sonntag von Henning Hirsch.

Bild von cansecotarot auf Pixabay

Gestern veröffentlichte Kolumnistenkollege Heinrich Schmitz einen Text mit der Überschrift Ampelmüdigkeit – Die Koalition hängt durch, in der die teils katastrophale Außendarstellung der Regierung und die (Nicht-) Führung des Kanzlers im Mittelpunkt stehen. Daraus resultiert wiederum eine Wert- (strenggenommen eigentlich: Gering-) Schätzung der aktuell praktizierten Staatskunst durch die Bürger von historisch niedrigen 35 Prozent. Man muss nicht 40 Semester Politikwissenschaften studiert haben, um zu ahnen, dass es sich, sollte nicht alsbald das Ruder herumgeworfen werden, bei der Ampel um ein 1-Legislaturperiode-Phänomen handelt.

Schweres Erbe angetreten

Völlig zurecht weist Heinrich Schmitz darauf hin, dass Rot-Grün-Gelb ein schweres Erbe angetreten hat. Viele Gesetzes- und Modernisierungsvorhaben wurden in der langen Ära Merkel – speziell während deren Spätphase – entweder verschleppt oder gar nicht erst angepackt, woraus großer Reformstau vor allem beim Megathema „Klima“ und im Bereich „Digitales“ resultierte. Allein mit der Abarbeitung dieser Problemfelder wäre eine neue Regierung 4 Jahre lang 24/7 ausgelastet. Erschwerend hinzu kamen aber noch die Corona-Pandemie (okay, die gab’s auch schon zum Finale von Merkel IV) und der Ukrainekrieg. Während uns Covid-19 ne Menge Lock- & Shutdowns (-> u.a. Kneipen-, Sportstudio- und Theatersterben) und viele Tage zu Hause im Home Office bescherte, zeigte uns der russische Überfall aufs Nachbarland gnadenlos auf, dass wir zum einen wie ein Junkie abhängig vom sibirischen Gas sind, und unsere Bundeswehr nicht nur mit veraltetem Gerät hantiert, sondern überwiegend kampfunfähig ist. Beides lange bekannt, von Experten wurde – falls man sie überhaupt mal fragte – periodisch auf diese Missstände hingewiesen; bloß im politischen Berlin interessierte sich bis zum Frühjahr 2022 niemand dafür. Ist allerdings ein Versäumnis nahezu aller Parteien; kann mich nicht daran erinnern, dass die damalige Opposition lautstark vor russischen Energielieferungen gewarnt hatte. Am 24. Februar 22 wurden uns schlagartig die Augen geöffnet, wir erwachten aus unserem Die-Welt-ist-gut-Schlaf und begriffen binnen weniger Tage, dass dringender Handlungsbedarf sowohl bei der Stärkung unserer militärischen Verteidigungsfähigkeit als auch bei der Zusammenstellung des zukünftigen Energiemixes geboten ist.

Zwischenfazit an dieser Stelle: keine neue Regierung der Bundesrepublik war jemals mit so vielen Großbaustellen gleichzeitig konfrontiert wie die Ampel.

Niemand würdigt politischen Fleiß

So nehmen die Reaktionen der Kommentatoren unter der gestrigen Kolumne nicht Wunder:

(1) Die Ampel hat einen guten Job gemacht , schwierig in Krisen / Kriegszeiten, Holland kann sich schämen, bei uns werden Rechtspopulistische Parteien niemals gewinnen . Jeder von uns sollte die Verantwortung übernehmen, ich sehe keine Gefahr das 2025 die AFD das Ruder übernimmt , hatten wir Anno 1933 , jetzt ist nicht stärke , sondern ein absolutes Ausschlussverfahren gefragt. Volkshetze ist keine Demokratie, ich hoffe wir sind mehr.

(2) Was die Ampel angeht: man sollte schon auch sehen, die haben nur noch 35% Zustimmung – dabei stehen aber die Grünen ziemlich exakt bei ihrem Wahlergebnis von 2021. Rasant abgestürzt in der Gunst der Wähler sind SPD und FDP. Die Linderistas haben ihre Zustimmungswerte mal eben halbiert. Und Habeck bemüht sich ja durchaus, das zu leisten, was du zu Recht einforderst und der Kanzler eben nicht liefert: Erklärungen. Allerdings kranken die Grünen an zwei Problemen: einerseits gelingt es ihnen nicht, der von Union, FDP und rechter Presse geschürten Wahrnehmung etwas entgegenzusetzen, sie seien der eigentliche Grund aller Probleme. Und andererseits wollen sie so realpolitisch sein, dass sie mittlerweile ihre eigene Basis dauernd vor den Kopf stoßen, weil sie bei grünen Kernthemen wie Flucht oder Klima nicht das liefern, was die Basis erwartet, teils sogar das Gegenteil.

(3) Die Ampel hat fertig. Die Grünen versuchen mit immer mehr Geld die Probleme zu lösen, die mit weniger Intervention in den Markt erst gar nicht entstanden wären und erleben gerade ihren moralinsauren, ideologischen Kollaps; die ersten Stimmen in der SPD zweifeln, ob das als BGE ausgelegte Bürgergeld nicht doch mehr Probleme am Arbeitsmarkt schafft und weitere Löcher in die Sozialkassen reißt und die FDP hat so ziemlich jeden Wähler mit ihrer Umfallerei vergrault.

Eigentlich müsste die Ampel wegen des Fleißes, mit der sie Tag und Nacht, die o.g. Großbaustellen beackert, Minimum 80 Prozent Zustimmung in der Bevölkerung haben, meinen Sie? Theoretisch ja, aber praktisch sind es bloß 35, denn Fleiß alleine genügt dem Bürger nicht, wenn er sein Kreuz in der Wahlkabine macht. Da müssen noch andere Faktoren hinzukommen, um als Partei sexy zu erscheinen.

Die Prognosen (sog. Sonntagsfrage) der renommierten Forschungsinstitute ergeben seit Monaten ein nahezu identisches Stimmungsbild = SPD und Grüne beide weit unterhalb von 20 Prozent, die FDP kann froh sein, wenn sie die 5%-Marke überquert. In der Addition reicht es bei weitem nicht, um die Koalition in der jetzigen Konstellation fortzuführen. Und diese (aus Sicht der Ampel-Befürworter) trübe Aussicht wird von sämtlichen Instituten geteilt, völlig egal, wie groß die gezogene Stichprobe ist und mit welcher Erhebungsmethode die Antworten der Probanden in Erfahrung gebracht werden.

Prognosen = wie Kartenlegen?

Prognosen sind die moderne Variante der antiken Eingeweide-Schau und interessieren niemand, sagen Sie? Oder: selbst Kartenleger treffen öfter ins Schwarze als unsere Meinungsforscher? Oder: nichts ist so alt wie die Umfrage von gestern? Das stimmt alles nur bedingt, antworte ich. Zum einen achten die renommierten Institute darauf, dass sowohl Stichprobe als auch Erhebungsmethode den strengen Kriterien, die notwendig sind, um als repräsentativ zu gelten, genügen. Hat ja kein Experte was davon, wenn er sich dauernd irrt. Zum anderen ist weniger die einzelne, stichtagsbezogene Umfrage als vielmehr deren Zeitreihe von Relevanz. Wenn man sich die Ergebnisse regelmäßig betrachtet, fällt auf, dass:

(a) die ermittelten Werte sich institutsübergreifend ähneln
(b) die Änderungen (eine Partei rauf, eine andere runter) bloß in kleinen Schritten vonstattengehen.

Wollen wir uns interessehalber 4 aktuelle Umfragen anschauen.

Partei/Institut Allensbach Verian (Emnid) FG Wahlen INSA
CDU/CSU 32% 29 31 30
AfD 19 20 22 22
SPD 17 16 15 16
Grüne 13.5 17 15 12
FDP 6 5 5 6
Linke 3.5 4 4 4
FW 4 3
Sonstige 5 9 8 7%
Legende 23. Nov., 1.047 Teilnehmer, Face to face = Hausbesuche 25. Nov., Stichprobe = 1.452 Probanden. Telefon 24. Nov., 1.242 Teilnehmer, Telefon 25. Nov., 1.202 Teilnehmer, Mix aus Telefonbefragung und Online-Panel

(c) wahlrecht.de

Das Toleranzintervall (statistischer Fehler) beträgt (bis zu) plus/minus 3 Prozent. IdR. fällt es allerdings geringer aus. Die Vorhersagen sind, v.a. sobald der Wahltag näherrückt, in der Mehrzahl überaus exakt.

Die Zeitreihen-Analyse führt im Rahmen einer Kolumne zu weit. Hier würde man allerdings unschwer feststellen, dass sich die Union nach ihrem Wahldebakel im Herbst 2021 Schritt für Schritt erholt und mittlerweile bei nahezu allen Instituten stabil bei 30 steht. Tendenz weist eher nach oben als nach unten. Ihren Anteil in den vergangenen 2 Jahren verdoppelt hat die AfD; auch das geschah peu à peu und keineswegs sprunghaft. Das 2021-Niveau halten können bisher in etwa die Grünen (wenngleich es bei dieser Partei in den vergangenen 24 Monaten die größten Schwankungen zu beobachten gibt), während SPD und FDP stetig runtergehen. Die Linke wird mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht mehr im nächsten Bundestag sitzen, bei den Freien Wählern bleibt abzuwarten, wo deren momentaner Höhenflug endet. Im Bund wird’s für Aiwanger & Co. sicher schwieriger werden als in Bayern, die notwendigen 5% zu knacken.

Linke Mehrheit SEHR unwahrscheinlich

Aufbauend auf den oben gezeigten Zahlen – welche Konstellationen sind Ende 2025 möglich (und wahrscheinlich)?

möglich
(1) Union + AfD
(2) Union + SPD
(3) Union + 2 Juniorpartner (z.B. SPD + FDP oder Grüne + FDP)
(4) sollten die Freien Wähler reinkommen, dann wäre evtl. auch ein 3er-Bündnis Union+Liberale+FW denkbar.

Was – Stand heute – definitiv nicht möglich ist = linke Mehrheiten.

wahrscheinlich
Da ich optimistisch davon ausgehe, dass die Brandmauer gegen rechts bis 2025 hält (sprich: niemand gemeinsam mit den Hellblauen regieren wird), scheinen mir folgende Konstellationen die wahrscheinlichsten zu sein:

(1) Neuauflage der Groko (vermutlich mit einem Kanzler, der entweder Merz oder Söder heißt)
(2) Schwarz-Grün (setzt allerdings einen Kanzler Wüst oder Günther und ein paar Prozentpunkte mehr für die Grünen voraus)
(3) „Deutschland“ = Union + SPD + FDP
(4) Jamaika = Union + Grün + Liberale.

Wer aus (1) bis (4) mein persönlicher Favorit ist? Ganz klar (2) = Schwarz-Grün. Von 3er-Kombinationen halte ich wenig, die Groko gab’s schon zu oft. Schwarz-Grün funktioniert auf Länderebene tadellos, läuft dabei nahezu geräuschfrei und wäre für den Bund mal was Neues.

Die Umfragen können 2025 völlig anders aussehen als heute, meinen Sie? Stimmt, jedoch müsste, damit der Trend sich signifikant wendet, ein mittelgroßes Wunder à la die Bevölkerung mutiert zu überzeugten Klimaschützern oder unser Kanzler wandelt sich in einen charismatischen Anführer (am besten beides zusammen) geschehen. Und dass die Deutschen den Grünen (mal abgesehen von deren Kern-Klientel, das sich auf ca. 15% beläuft) auf deren Wir-retten-den-Planeten-Marsch folgen werden, ist genauso unwahrscheinlich wie ein Olaf Scholz, der mit der Faust auf den Tisch haut und „Basta!“ ruft. Mal ganz abgesehen von der gelben Laus im rot-grünen Pelz, die man nicht abschütteln kann, weil ansonsten der Pelz zu sehr schrumpft.

Mit 98%-iger Wahrscheinlichkeit wird es deshalb in knapp 2 Jahren, wenn der nächste BT-Wahlgang ansteht, zu einem Wechsel der Koalition und ebenfalls der Kanzlerschaft kommen. Meine Prognose lautet = Schwarz-Grün & Hendrik Wüst.

Sie glauben weiterhin nicht an Umfragen? Das tut mir wirklich leid für Sie.

Henning Hirsch

Betriebswirt und Politologe, Comicleser, Filmjunkie, Bukowski- und FC- (es gibt nur einen FC: nämlich den aus Köln) Fan, trockener Alkoholiker. In die Abstinenz startete er mit einem Roman: Saufdruck. Seitdem tippt er abends Kurzgeschichten und Gedichte. Da die Schreiberei alleine nicht satt macht, verdient er tagsüber seine Kaltmiete und die Kühlschrankfüllung mit Marketing & Orga. Henning Hirsch lebt im Bonner Süden und ist Vater von drei Kindern ... Wer mehr von ihm lesen möchte: www.saufdruck.de

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