Binge Watching für Fortgeschrittene. Heute: 121 Episoden „Lost“

Auch Henning Hirsch hat sich endlich „Lost“ angeschaut. Serie mit starkem Beginn, die aber zu lang geraten ist und am Ende qualitativ abfällt, lautet sein Urteil. Oder: Weshalb es keine gute Idee ist, eine an und für sich spannende Handlung mit ständig neuen Themen zu überfrachten.

Bild von Stine86Engel auf Pixabay

„Wo hast du die letzten Wochen gesteckt? Du bist ja noch nicht mal ans Telefon gegangen“, fragt die alte Schulfreundin bei unserem letzten periodisch stattfindenden Kaffee- & Kuchentreffen.
„Ich hab ne Serie geguckt.“
„Ne Serie? Was für ne Serie?“
„Die hieß ‚Lost‘, diese Serie.“
„Die, die auf ner einsamen Insel spielt?“
„Ja.“
„Aber die ist doch schon uralt, diese Serie.“
„Stimmt.“
„Wer schaut denn uralte Serien?“
„Ich manchmal.“
„Also, ich kenne niemand, der freiwillig ne uralte Serie anschaut.“
„Jetzt kennst du 1, der freiwillig ne uralte Serie schaut.“
„Die war doch am Ende völlig verworren, diese Serie. Ich hab damals zur Hälfte hin aufgehört, mir die anzuschauen und bin zu „2 and a half men“ gewechselt. Das war unterhaltsamer … schreibst du was darüber? Wär ja schade, wenn du wochenlang ne verworrene Serie schaust und dann nix drüber schreibst.“
„Mal schau‘n.“

Rasanter Beginn

Und nun sitze ich 1 Tag nach dem periodischen Kaffee- und Kuchentreffen mit der alten Schulfreundin am Schreibtisch und werde versuchen, was zu Lost zu Papier zu bringen. Fange ich mal damit an, wie ich überhaupt zu dieser Serie gekommen bin: Vor ein paar Wochen las ich eine Rezension des Kolumnistenkollegen Sören Heim, in der er sich überwiegend positiv zu der Inselgeschichte äußerte – mit Schwerpunktsetzung auf dem Lost-Kafka-Vergleich –, was ich zwar recht interessant fand, jedoch für sich alleine genommen hätte es nicht ausgereicht, dass ich mir 121(!!) Folgen dieser Herr-der-Fliegen-Neuauflage reinziehe. Am selben Abend war ich zum Grillen in der Nachbarschaft eingeladen, wo mir ein Kumpel bei Spareribs und Nudelsalat davon erzählte, dass er gerade zum dritten Mal mit seiner absoluten Lieblingsserie begonnen hätte. „Wie heißt die Serie“, fragte ich ihn, „Lost“, antwortete er. Wenn das kein Zufall ist, dachte ich. Und da ich von ihm weiß, dass er einen ähnlichen Filmgeschmack wie ich hat, vertraute ich dem Doppelurteil von Sören Heim und meinem Kumpel und schaute mir zurück zu Hause direkt die beiden ersten Folgen an  Und ich wurde nicht enttäuscht.

Die erste Episode startet furios mit dem in 3 Teile zerberstenden Flugzeug und der Panik der 324 Passagiere. Knapp 50 überleben und richten sich notdürftig auf einem Strand einer in den unendlichen Wasserweiten des Südpazifiks gelegenen Insel ein. Zahlreiche Verletzte und noch mehr Tote liegen überall herum, müssen geborgen und provisorisch versorgt werden. Man lernt die späteren Protagonisten kennen: den Wirbelsäulen-Chirurg Jack, die wegen Mordes gesuchte Kate, den Trickbetrüger James, den vom Leben frustrierten John, das koreanische Ehepaar Sun & Jin, den unglücklichen Lotto-Millionär Hurley, den irakischen Verhörspezialisten Sayid, den drogensüchtigen Musiker Charlie und die hochschwangere Claire. Die Szenerie ist geprägt von ganz normalen Robinson-Crusoe-Aktivitäten: Zelte aufbauen, Lebensmittel aus dem Flugzeug rausholen, Trinkwasser suchen, Verletzte behelfsmäßig zusammenflicken und ein großes Feuer entfachen (um den alsbald erwarteten Rettungskräften den Weg zu weisen). Bei aller Niedergeschlagenheit wegen der vielen Toten überwiegt in diesem Augenblick die Hoffnung auf zeitnahe Evakuierung. Noch weiß niemand, dass es auf der Insel nicht mit rechten Dingen zugeht. Es werden bloß zarte Andeutungen gemacht: merkwürdige Geräusche aus dem Dschungel, Wunden, die schnell heilen, ein Lahmer, der plötzlich wieder laufen kann, der Pilot erklärt – kurz bevor er von einer schwarzen Rauchwolke verschluckt wird –, dass die Insel auf keiner Karte verzeichnet ist. Alles in allem ein rasanter Start, der keine Langeweile aufkommen lässt und einen ab Minute 1 in die Handlung hineinzieht. Gäbe es Bewertungen einzig für den Auftakt einer Serie, so kann man hier getrost 10 Punkte vergeben.

6 Themenkomplexe sind Minimum 2 zu viele für 1 Serie

Wie man den weiteren Verlauf bewertet (fehlen ja noch 119 Folgen bis zum Finale), hängt dann stark davon ab, was man von einer Geschichte erwartet. In Lost stehen folgende Themenkomplexe im Vordergrund:
(A) Sich einrichten in ungewohnter Umgebung: Wie organisieren sich Gruppen, wen küren sie zum Anführer?
(B) Zwischenmenschliches: Wer fühlt sich zu wem hingezogen, Wer gehört dazu, wer ist Außenseiter?
(C) Background Story: Wer sind die einzelnen Menschen am Strand, warum saßen sie im Flugzeug?
(D) Kampf gegen reale Gefahr: „The others“ auf der anderen Seite der Insel
(E) Das stückweise Entdecken der verlassenen Forschungseinrichtungen: Was suchten die Wissenschaftler auf der Insel, und weshalb sind sie alle spurlos verschwunden?
(F) Das allmähliche Begreifen des Mysteriums (iSv. spüren, dass man sich außerhalb der Gesetzmäßigkeiten der vertrauten Welt befindet).

Lost ist besonders stark bei (A) und (B): die Figuren überzeugend gezeichnet, die Protagonisten grundverschieden, die Zusammenarbeit gestaltet sich oft schwierig, ständig liegen Streit und Abspaltung von Teilgruppen in der Luft; trotzdem gelingt es den beiden Leadern Jack und John immer wieder, ihre Leute auf das 1 gemeinsame Ziel – die baldige Rettung – einzuschwören. Die Romanzen bleiben ein bisschen blass, etwas mehr Palmenstranderotik hätte der Geschichte nicht geschadet. Warum Jack und Kate, zwischen denen es 70 Episoden lang laut knistert, auf der Insel nicht mal für 1 ONS zusammenfinden, versteht außer dem Drehbuchautor niemand. Vielleicht stand dabei die Vorstellung, dass ein wahrer Held und Anführer keinen Sex mit Schutzbefohlenen haben darf, im Weg. Keine Ahnung. Sobald die beiden das Eiland verlassen haben, holen sie das dort Versäumte in Los Angeles jedenfalls ausgiebig nach.

Rückblenden: zu hohe Dosierung

Die Rückblenden (C) sind anfangs okay, da man die Akteure so näher kennenlernt und ihr Handeln besser einsortieren kann. Besonders hervor sticht dabei die Geschichte von Sayid, der als Verhörexperte aka Folterspezialist bei Saddams Republikanischer Garde gedient hatte, bevor er über die Zwischenstationen Kuwait, Paris, London, Sydney auf der namenlosen Insel strandete. Auch die Story von Kate, die ihr Elternhaus abfackelte, während der eigene Vater drin schlief, ist nicht schlecht. Aber: die hohe Dosierung sorgt für Ermüdung. Es sind schlichtweg zu viele Individualerzählungen, die z.T. auch deutlich zu lang gerieten. Weshalb bspw. die Beziehung von Sun und Jin derart breitgetreten wurde, kann ich mir nur mit einem Faible des Showrunners für den südkoreanischen Film erklären. Ob Sun mal außerehelichen Sex hatte und Jin, wenn er deprimiert ist, gemeinsam mit seinem Vater angeln geht, ist mir als Zuschauer einer Tropeninsel-Odyssee völlig wurscht. Diese Sequenzen – und von denen gibt es ne Menge – blähen die Handlung unnötig auf. Was man allerdings nach Rückblick Nr. 50 begreift = alle überlebenden Passagiere waren auf die ein oder andere Weise bereits in ihrem früheren (also: Prä-Insel-) Leben irgendwie verloren (lost). Das trifft für Hurley natürlich mehr zu als für Jack, John war orientierungsloser als Sun, Charlie ein aufgrund Drogenkonsums abgestürzter Ex-Rockstar, Claire will ihr Baby zur Adoption freigeben, weil sie sich überfordert fühlt und James und Kate wissen auch beide nicht so richtig, wohin sie gehören. Ab Staffel 2 fragt man sich deshalb, warum sie überhaupt alle vom Campingplatz wegwollen (Ausnahme = John) und nicht lieber auf der Insel bleiben und dort ein neues Leben beginnen.

Story überzeugt immer dann, wenn sie sich auf ihren Kernstrang besinnt

Pfiffig ist die Idee mit den verstreut im Dschungel befindlichen Forschungs-einrichtungen. Die – zumeist von John – peu à peu aufgespürt werden. Die sog. Orientierungsfilme, die dort im Regal stehen, vermitteln ein schönes 70-er-Jahre-Feeling. Wo sind die Wissenschaftler (der Dharma-Initiative) abgeblieben, haben sie die Insel verlassen, oder ist ihnen was zugestoßen? Woran forschten sie? Jack, John, James & Kate beim Lösen bzw. Nichtlösen dieser Fragen zu begleiten, ist durchgängig spannend. So wie die Serie immer dann am unterhaltsamsten ist, wenn sie sich auf ihren Kernstrang konzentriert = die lineare Erzählung der Ereignisse auf der Insel.

Ab Staffel 2 schälen sich endlich die Konturen der Widersacher – eine Gruppe, die der Einfachheit halber als „the others“ bezeichnet wird – heraus: Wissenschaftler (allerdings nicht der Dharma-Initiative), die an merkwürdigen Dingen experimentieren (z.B. Überlebenschancen von Schwangeren auf der Insel testen). Deren Anführer Benjamin/Ben entpuppt sich schnell als blitzgescheiter Kopf, notorischer Lügner und ebenbürtiger Antagonist von Jack & John. Die Folgen, in denen Ben dabei ist, sind die, die den Zuschauer am meisten fesseln: man weiß zu keiner Sekunde, welche neue Wendung die Geschichte unvermittelt nimmt, wird immer wieder überrascht. Staffel 2 ist höchst gelungenes Serien-Entertainment. Es startet ein Katz- und Mausspiel: ich entführe deinen Boss, im Gegenzug kassierst du meine Anführer ein. Im Anschluss machen wir einen Gefangenenaustausch und danach beginnen wir von vorne. Es gibt Tote auf beiden Seiten; allerdings entwickeln sich auch Verständnis und Respekt für die jeweils andere Gruppe, es wird sogar ein bisschen über den Grenzzaun hin und her geflirtet. Diese Scharmützel erinnern an die Kriege zwischen kulturell höher entwickelten Zivilisationen und Nomadenstämmen, bei denen die Erstgenannten auf ihre Technik zurückgreifen können, während die Jäger kampferprobter und leidensfähiger sind. Am Ende (von Staffel 3) gibt es allerdings keinen Sieger, die Angelegenheit geht unentschieden aus. So lange sich auf der Insel nur diese 2 Gruppen gegenüberstehen, ist das durchaus spannend. Stark getragen vom schillernden Charakter Ben, der alle und jeden manipuliert und gegeneinander ausspielt.

1 Mysterium ist 1 Mysterium, bleibt 1 Mysterium

Kommen wir nun zum schwierigsten Themenkomplex: dem Mysterium. Dass im Dschungel seltsame Dinge geschehen, wird schon im Verlauf von Staffel 1 klar: Eisbären laufen frei herum, schwarzer, spiralförmiger Rauch (genannt: „das Monster“) quillt plötzlich zwischen den Bäumen hervor und verschlingt Menschen, Schusswunden heilen außergewöhnlich schnell, der querschnittsgelähmte John kann wieder laufen, sporadisch erscheinen Verstorbene und reden mit den Überlebenden, welche Bewandtnis hat es mit der geheimnisvollen Zahlenfolge 4, 8, 15, 16, 23 und 42? Warum kommt nie Rettung, weshalb findet man die Insel auf keiner Landkarte? Beruht das alles auf einer außer Kontrolle geratenen magnetischen Anomalie? Wirken hier urzeitliche Zauberkräfte? Befinden wir uns eventuell in einem Paralleluniversum? Hat vielleicht Gott seine Hand im Spiel? Mir gefiel die Episode, in der suggeriert wird, dass sich der im Lorazepam-Rausch befindliche Hurley das alles bloß zusammenfantasiert, recht gut. Aber, wie wir Lost-Zuschauer alle wissen: Hurley war stocknüchtern und die Insel real. Wie also die Absonderlichkeiten des Dschungels erklären? An dieser Stelle leihe ich mir das in diesem Zusammenhang gebrachte Zitat von Sören Heims Kolumne aus:

Mysterium = geheimnisvolles, mit dem Verstand nicht ergründbares Geschehen; unergründliches Geheimnis, besonders religiöser Art.

Hier trennen sich die Erwartungshaltungen derjenigen, denen es reicht, dass eine gute Geschichte erzählt wird von denen, die für alles eine Erklärung benötigen. Der zweiten Fraktion empfehle ich Detektivromane und Wissenschaftsdokus. Die erste kann Lost als das genießen, was es ist = spannende und unterhaltsame Fiktion.

Würde Lost nach Staffel 3 – bis hierhin hat der Zuschauer immerhin schon 72 Folgen absolviert – stoppen, wär’s ne nahezu perfekte Serie. Und es wäre dabei egal gewesen, ob die Überlebenden gerettet werden (iSv. von der Insel runtergebracht) oder dort bis zum Lebensende verbleiben. Ob die Nicht-Auffindbarkeit des Eilands auf Erdmagnetismus, Zaubersprüchen der Urbewohner oder Gottes Plan beruht, muss niemand wissen. Es hätte gereicht, wenn sich Jack und Kate glücklich in die Arme fallen und Benjamin einen immerwährenden Frieden zwischen den 2 Gruppen verkündet. Wäre das Finale mit Staffel 3 eingeläutet worden, gäb’s für Lost 9 Punkte (1 Punkt Abzug von der Höchstbewertung wg. der teils doch sehr ermüdenden Rückblicke).

Zweite Halbzeit fällt qualitativ ab

Allerdings wurden drei weitere Staffeln produziert, die das Seherlebnis schmälern. Diese Fortsetzung um zusätzliche knapp 50 Episoden ist nicht durchgängig schlecht, einige Folgen sind überaus gelungen; jedoch erreicht die zweite Halbzeit nicht mehr das Qualitätsniveau der ersten. Woran liegt dieser Abfall?

Zum einen wird die Geschichte zu sehr in die Länge gezogen. Der Zuschauer kennt die Figuren, weiß, wie die in bestimmten Situationen reden und handeln, hat auch so langsam vom ständigen Ich-liebe-dich-ich-liebe-dich-nicht-hin-und-her zwischen Kate und Jack genug. Die 25ste Rückblende nach Seoul langweilt. Die zahlreichen Vorgeschichten der nun neu eingeführter Figuren sind nicht zwingend notwendig. Als Konsequenz stellten sich erste Erschöpfungssymptome bei mir ein. Zum anderen werden jetzt neue Themen aufgegriffen, die für die bisherige Handlung vernachlässigbar waren. Auf einmal haben wir es mit dem Zeitparadoxon zu tun. Die Insel befindet sich nicht mehr nur im geografischen Niemandsland, sondern beherbergt gleichzeitig Menschen in unterschiedlichen Zeitabschnitten, von denen einige munter zwischen den Jahrzehnten hin und her springen. Das führt dann dazu, dass der erwachsene Miles (ein neu hinzugekommener Charakter) seinem in etwa gleichaltrigen Dharma-Wissenschaftler-Vater begegnet, der gerade Baby-Miles auf dem Arm schaukelt. David (ein Physiker) wird in die 50-er Jahre zurückkatapultiert und verhindert in letzter Sekunde eine Wasserstoffbombenexplosion. Ein Vierteljahrhundert später wird er an derselben Stelle von seiner Mutter erschossen, der er (in diesem Moment älter als seine Mutter) mit dem finalen Atemzug entgegenseufzt: „Ich bin dein Sohn“. Jack, Sayid und Kate stehen derweil vor der Frage, ob sie den jungen Benjamin töten sollen, bevor der sich zum Superschurken entwickelt. Das altbekannte Zeitreise-Dilemma: Kann man den Verlauf der Geschichte positiv ändern, wenn man den Bösen rechtzeitig vorher aus dem Weg räumt, oder würde die Geschichte dennoch übel ausgehen oder sich evtl. noch schlimmer entwickeln? Lost kann darauf keine befriedigende Antwort liefern. Wie auch? Sonst wär’s ja kein Dilemma.

Rein vom dramaturgischen Blickwinkel aus betrachtet ist die Zeitspringerei überflüssig (genauso überflüssig wie das Auftauchen ständig neuer feindlicher Gruppen, bei denen man sich immer wieder fragt: wo hatten die sich denn bisher auf der Insel versteckt gehalten? Das Mikro-Atoll weist mitunter eine Bevölkerungsdichte wie Rimini in der Hochsaison auf). Am unterhaltsamsten zu Beginn von Staffel 6, als es zwei zeitgleiche Realitäten gibt: die Überlebenden campierend auf der Insel und im selben Moment als Spiegelbilder im Flugzeug über sie hinweg fliegend. Die 2-Realitäten-Idee prägt dann auch die gesamte letzte Staffel, im 5-Minuten-Takt wird zwischen Jack & Co. im Südpazifik und ihren Alter Egos in Los Angeles hin und her geswitcht. Die nicht abgestürzten Doppelgänger führen ihre normalen Leben zwar fort, laufen sich jedoch auch in Kalifornien ständig über den Weg -> spannende Frage = ist die Romanze von Jack & Kate einzig auf die Insel beschränkt, oder werden die beiden ebenfalls in L.A. zusammenfinden? Bewirkt die nachträgliche Korrektur eines Ereignisses (Flugzeug zerbricht nicht in 3 Teile, sondern landet sicher am Zielort) automatisch eine positive Veränderung für alle Beteiligten? Die Drehbuchautoren entscheiden sich für eine Hybrid-Lösung = einige Protagonisten führen ihr herkömmliches (glückliches) Leben weiter, während andere in Konflikt mit dem Gesetz oder sogar in Lebensgefahr geraten. Allen gemeinsam ist aber, dass sie sich bruchstückhaft an die alternative Realität auf der Insel erinnern. Was für den nicht-relativitätstheorie-geschulten Zuschauer die Frage aufwirft: haben wir es (a) mit 2 gleichberechtigten Realitäten zu tun oder (b) ist das 1 (z.B. die Insel) real und das andere (Los Angeles) Illusion (oder verhält es sich gar umgekehrt)? Oder aber (c) spielt L.A. zeitlich nach der Insel (unwahrscheinlich, weil in L.A. Charaktere gezeigt werden, die aufgrund des Absturzes tot sein müssten). Die „Lösung“, die die Serie in den letzten 10 Minuten der 121sten Episode anbietet, soll hier nicht gespoilert werden, hat mich persönlich aber nicht so richtig überzeugt bzw. empfand ich als schwach.

Zu viel Erklärung, zu viele Vorgeschichten

Das größte Manko von Lost liegt jedoch darin, am Ende alles erklären zu wollen. Was es bei einem Mysterium nicht braucht, und was folglich in die Hose geht. Plötzlich sind alle Figuren miteinander verbunden, haben sich vor der Bruchlandung schon mal gesehen oder Besuch von dem sagenumwobenen – aber bisher unsichtbar gebliebenen – Insel-Wächter Jakob erhalten. Mütter, Väter, Onkels und Tanten der Überlebenden arbeiteten bei der Dharma-Initiative, was aber deren Nachkommen anscheinend nie jemand erzählt hatte, andernfalls würden sie nicht 100 Episoden lang derart ahnungslos durch den Dschungel irren. Und die, die keine Verwandten in der 70er-Jahre-Wissenschaftscrew hatten, wurden von Jakob animiert, sich ins Flugzeug zu setzen.

Dieser Jakob wurde vor LANGER Zeit auf der Insel geboren – die Leute redeten Latein, was für die Südpazifikregion ja eher ungewöhnlich ist, aber vielleicht lag das Eiland damals ja auch im Mittelmeer und wurde mittels Kontinentaldrift Richtung Tahiti verschoben. Wer weiß das schon? – und gemeinsam mit seinem namenlosen Zwillingsbruder von einer Quellnymphe aufgezogen. Die hütet seit Jahrhunderten (-tausenden?) ein geheimnisvolles Licht (wenn das in die falschen Hände gerät, droht das Ende der Menschheit) und sucht, weil langsam müde von dieser monotonen Tätigkeit einen würdigen Erben, dem sie die Wächterfunktion anvertrauen kann. Der eigentlich dafür vorgesehene namenlose Zwilling tötet, als ihm klar wird, dass er den verwunschenen Ort niemals wird verlassen können, im Zorn seine Adoptivmutter. Woraufhin Jakob seinen Bruder umbringt (der sich, statt ins Gras zu beißen, in das schwarze Spiralnebel-Monster verwandelt). Nun leben für Jahrhunderte bloß die beiden ungleichen Zwillinge auf der Insel: der unsterbliche Jakob (als neuer Hüter der Flamme) und sein zwar irgendwie toter, aber immer noch durch den Dschungel geisternder Bruder.

Als in der frühen Neuzeit die ersten Kolonisatoren an Land gehen, stellen die Brüder erstaunt fest, dass Leben auch außerhalb der Insel existiert. Beide versuchen nun, die Neuankömmlinge für sich zu gewinnen. Allerdings mit unterschiedlichen Zielsetzungen: Jakob würde gerne die Rente einreichen und den Lichthüter-Stab an einen Nachfolger übergeben. Der Spiralnebelmonster-Zwilling hingegen sucht eine Mitfahrgelegenheit, um der Insel-Langeweile zu entfliehen (und eventuell die Welt zu zerstören). Und so werden anfangs Schiffe und später Flugzeuge angelockt, um die möglichen Nachfolge- und Chauffeur-Kandidaten zu testen. Resultat seit 300 Jahren immer dasselbe = nach kurzer Zeit sind alle Kandidaten tot. Bis dann endlich Oceanic-Flug 815 vom Himmel stürzt und sich am Ende von Staffel 6 vier ernstzunehmende Bewerber aus dem anfänglichen 48-Überlebende-Pool herauskristallisieren, von denen 1 in Episode 121 die Wächterfunktion von Jakob übernimmt. Wer das sein wird, soll an dieser Stelle nicht verraten werden, denn vllt. hat der ein oder andere Leser „Lost“ ja bisher noch nicht gesehen und will nicht alles gespoilert haben. Deshalb stoppe ich jetzt mit der Nacherzählung.

Am Ende unnötige Trivialisierung der Handlung

Das Finale ist leider dramaturgischer Quark. Eine – bis zum Ende von Staffel 3 – weitgehend konsistente Handlung wird einerseits mit einem weiteren Themenkomplex (dem Zeitparadoxon) befrachtet und als ob das nicht schon neuer Stoff genug wäre, muss nun auch noch ein xy Jahrhunderte alter Insel-Schutzheiliger aus seiner Höhle heraustreten. Der eine Zauberin als Mutter und einen Mörder als (Zwillings-) Bruder hat. Klingt wie der 100ste Aufguss der Romulus- & Remus-Sage garniert mit einer Prise Calypso aus der Odyssee. Die 48 Überlebenden stiegen nicht zufällig ins selbe Flugzeug, sondern wurden vorher von Jakob handverlesen ausgewählt (okay, nicht alle 48, aber sämtliche Protagonisten). Von den restlichen Akteuren besaßen viele Verwandte, die mit den Dharma-Leuten in den 70-ern auf der Insel waren. Also: Kreuz- und Querverbindungen, wohin man auch schaut. Alles soll am Ende als zwingende Konsequenz 1 auslösenden Ereignisses (der Bruderzwist) erscheinen, alles, was vorher zufällig wirkte, ist nun vorherbestimmt und plausibel. Auch das Mysterium weitgehend von seinen Rätselzwiebelschichten freigelegt: übrig bleibt eine aus grauer Vorzeit stammende Lichtquelle, auf deren Boden sich ein steinerner Propfen befindet. Sobald man den löst, entweicht das Böse aus den Tiefen der D‘‘-Schicht des Erdmantels und zerstört die Insel (evtl. sogar unseren kompletten Planeten). Deshalb muss die Quelle seit Jahrtausenden von 1 Insel-Wächter (alle paar hundert Jahre wird der ausgewechselt) beaufsichtigt werden. Eine banale Fantasy-Erklärung für ein Phänomen, das eigentlich nicht erklärbar ist und deshalb auch gar nicht erklärt zu werden braucht. Die weitgehende, und völlig unnötige, Trivialisierung des Mysteriums stellt den wirklich größten Schwachpunkt der Geschichte dar. Auch mit den letzten 10 Minuten hadere ich, hätte mir ein anderes Ende gewünscht. Aber zumindest wurde jetzt nach 121 Folgen unwiderruflich der Schlusspunkt gesetzt. Die Story war in der lichtdurchfluteten Kirche mit der Wiederauferstehung von Jacks Vater definitiv ausgereizt. ENDE.

4 Wochen nächtliches Binge Watching vorüber. Puh!

Gut, aber definitiv zu lang geraten

Lost gehört ganz sicher in die Kategorie „gute Serien“. Stünde, wenn die Story nach Staffel 3 gestoppt hätte, auf demselben Level wie „Breaking Bad“, „Ozark“ und „The Wire“ (die alle mit deutlich weniger Episoden auskommen, um ihre Geschichten zu erzählen). Jedoch erlagen die beiden Show Runner Damon Lindelof und Carlton Cuse dem Irrglauben, dass man eine Handlung beliebig weiter fortspinnen kann, ohne Gefahr zu laufen, dass die Aufblähung zulasten der Qualität geschieht. Ich weiß nicht, ob 6 Staffeln von vornherein geplant waren, oder der Erfolg der ersten 3 die Verlängerung bewirkte. Ist auch egal. Kommerziell betrachtet mag es durchaus vernünftig gewesen sein, immer wieder eine weitere Episode dranzuhängen; die Einschaltquoten so lange melken, bis der letzte treue Zuschauer erschöpft vom Sofa plumpst oder zu ner anderen Serie weiterzappt. Rein dramaturgisch gesehen ist Lost allerdings definitiv zu lang geraten. Speziell Staffel 4 (die Vorbereitung der temporären Rückreise in die „normale“ Welt) mit den ständigen Rückblenden & Flash-forwards empfand ich als sehr zäh. Staffel 5 (der Zeitsprung zur Dharma-Initiative) war wieder unterhaltsamer, und die Idee mit den 2 zeitgleichen Realitäten in Staffel 6 gefiel mir anfangs außerordentlich gut, bis dann die ungleichen Zwillingsbrüder und deren Najade-Adoptivmutter auf der Bühne erschienen. Ab diesem Zeitpunkt gefiel mir Staffel 6 dann nicht mehr so richtig. Habe trotzdem bis zum Finale durchgehalten. Man will ja schon wissen, wie das Märchen am Ende ausgeht.

Das war VIEL Text. Gebe ich unumwunden zu. Es waren aber auch VIELE Episoden.

Ich mache eine dreigeteilte Bewertung:
(A) Auftakt (die ersten beiden Folgen) = 10 Punkte
(B) Staffeln 1 bis 3 = 9
(C) alle 6 Staffeln = 7.5.

Und jetzt trete ich auf jeden Fall in ne Phase einer längeren Serien-Abstinenz ein. 121 Episoden einer Tropeninsel-Survival-of-the-fittest-zzgl.-Monster-und-Lichtquelle-Story am Stück gebingt schlauchen doch mehr, als ich es beim rasanten Beginn geahnt hatte.

PS. die 6 Staffeln sind komplett bei Disney erhältlich.
PPS.
von Damon Lindelof gibt es eine weitere Mystery-Serie = „The Leftovers“. Die ist mit 3 Staffeln u insg. 28 Folgen deutlich schlanker dimensioniert & knackiger geraten. U.v.a. wird das Rätselhafte am Ende nicht erklärt, sondern bleibt geheimnisvoll. Wer genau hinschaut, erkennt hin u wieder eine Anleihe aus Lost.

Henning Hirsch

Betriebswirt und Politologe, Comicleser, Filmjunkie, Bukowski- und FC- (es gibt nur einen FC: nämlich den aus Köln) Fan, trockener Alkoholiker. In die Abstinenz startete er mit einem Roman: Saufdruck. Seitdem tippt er abends Kurzgeschichten und Gedichte. Da die Schreiberei alleine nicht satt macht, verdient er tagsüber seine Kaltmiete und die Kühlschrankfüllung mit Marketing & Orga. Henning Hirsch lebt im Bonner Süden und ist Vater von drei Kindern ... Wer mehr von ihm lesen möchte: www.saufdruck.de

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