Sperren’s die weg – Präventivgewahrsam in Bayern

In Bayern sitzen derzeit 27 Klimaaktivisten in Präventivgewahrsam, gerne auch Präventivhaft genannt. Was ist das eigentlich? Eine Kolumne von Heinrich Schmitz.


Bild von Werner Heiber auf Pixabay

Der Präventivgewahrsam ist ein Instrument, das in der deutschen Rechtsordnung zur Anwendung kommt, um potenziell gefährliche Personen vorbeugend festzusetzen, auch wenn ihnen noch keine konkrete Straftat nachgewiesen werden konnte. Besonders in Bayern, einem Bundesland mit einer starken konservativen Tradition, wird über die Präventivhaft kontrovers diskutiert.

In Bierzeltreden kommt es immer gut, wenn man rumblökt, die Idioten – meist sind Klimaaktivisten gemeint –. sollt mer einfach wegsperren. Rechtsstaatlich ist das aber ein gewaltiges Problem.

Historische Hintergründe

Die Präventivhaft hat ihre Wurzeln in einer Zeit, in der Sicherheitsaspekte eine entscheidende Rolle spielten. Nach schweren terroristischen Anschlägen in den 1970er Jahren wurde in Deutschland verstärkt darüber nachgedacht, wie potentzell gefährliche Personen rechtzeitig identifiziert und festgehalten werden können, um Schaden von der Gesellschaft abzuwenden. Die Einführung der Präventivhaft sollte dem Staat ermöglichen, frühzeitig auf mögliche Gefahren zu reagieren. Wohl gemerkt, es ging damals um die Verhinderung schwerer terroristischer Straftaten durch die RAF, nicht um die Verhinderung von Demonstrationen oder Straßenblockaden.

Aber wie das immer so ist: Hat die Exekutive einmal ein Instrument zur Verfügung, dann wird es ausgeweitet und letztlich pervertiert. Jetzt darf man auch Menschen wegsperren, von denen man lediglich Ordnungswidrigkeiten vermutet, die von erheblicher Bedeutung für die Allgemeinheit sein sollen.

Rechtliche Grundlagen

In Bayern wird die Präventivhaft durch das PAG (Gesetz über die Aufgaben und Befugnisse der Bayerischen Polizei (Polizeiaufgabengesetz – PAG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 14. September 1990 (GVBl. S. 397) BayRS 2012-1-1-I) geregelt.

Art. 17
Gewahrsam
(1) Die Polizei kann eine Person in Gewahrsam nehmen, wenn

1.
das zum Schutz der Person gegen eine Gefahr für Leib oder Leben erforderlich ist, insbesondere weil die Person sich erkennbar in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand oder sonst in hilfloser Lage befindet,
2.
das unerläßlich ist, um die unmittelbar bevorstehende Begehung oder Fortsetzung einer Ordnungswidrigkeit von erheblicher Bedeutung für die Allgemeinheit oder einer Straftat zu verhindern; die Annahme, daß eine Person eine solche Tat begehen oder zu ihrer Begehung beitragen wird, kann sich insbesondere darauf stützen, daß

a)
die Person die Begehung der Tat angekündigt oder dazu aufgefordert hat oder Transparente oder sonstige Gegenstände mit einer solchen Aufforderung mit sich führt; dies gilt auch für Flugblätter solchen Inhalts, soweit sie in einer Menge mitgeführt werden, die zur Verteilung geeignet ist,
b)
bei der Person Waffen, Werkzeuge oder sonstige Gegenstände aufgefunden werden, die ersichtlich zur Tatbegehung bestimmt sind oder erfahrungsgemäß bei derartigen Taten verwendet werden, oder ihre Begleitperson solche Gegenstände mit sich führt und sie den Umständen nach hiervon Kenntnis haben mußte, oder
c)
die Person bereits in der Vergangenheit mehrfach aus vergleichbarem Anlaß bei der Begehung von Ordnungswidrigkeiten von erheblicher Bedeutung für die Allgemeinheit oder Straftaten als Störer betroffen worden ist und nach den Umständen eine Wiederholung dieser Verhaltensweise zu erwarten ist;

3.
dies zur Abwehr einer Gefahr für ein bedeutendes Rechtsgut unerlässlich ist,
4.
dies unerlässlich ist, um Maßnahmen nach Art. 16 durchzusetzen, oder
5.
einer Anordnung nach Art. 34 Abs. 1 Satz 1 nicht Folge geleistet wird.

(2) Die Polizei kann Minderjährige, die sich der Obhut der Sorgeberechtigten entzogen haben oder sich an Orten aufhalten, an denen ihnen eine sittliche Gefahr oder Verwahrlosung droht, in Gewahrsam nehmen, um sie den Sorgeberechtigten oder dem Jugendamt zuzuführen.
(3) Die Polizei kann eine Person, die aus dem Vollzug von Untersuchungshaft, Freiheitsstrafen oder freiheitsentziehenden Maßregeln der Besserung und Sicherung entwichen ist oder sich sonst ohne Erlaubnis außerhalb der Vollzugsanstalt aufhält, in Gewahrsam nehmen und in die Anstalt zurückbringen.

Dieses Gesetz erlaubt es den Behörden, Personen, bei denen sie eine erhebliche Gefahr für die Allgemeinheit vermutet, vorübergehend festzusetzen, ergo einzusperren, auch wenn ihnen noch keine Straftat oder Ordnungswidrigkeit nachgewiesen wurden.

Vom ursprünglichen Sinn, der Verhinderung terroristischer Anschläge, ist man also schon meilenweit heruntergerückt bis zur Verhinderung bloßer Ordnungswidrigkeiten. Passt scho?

Die Festsetzung kann zwar nur auf richterliche Anordnung hin erfolgen und muss regelmäßig überprüft werden, um sicherzustellen, dass die Voraussetzungen weiterhin erfüllt sind. Aber was auch immer da geprüft wird, ich weiß es nicht. Eine geplante Störung z.B. der IAA durch Klimaaktivisten mag zwar für die Hochglanzveranstalter unangenehm sein, dass das aber für die Allgemeinheit eine erhebliche Bedeutung hätte, halte ich für reichlich übertrieben. Und zur Verhinderung solcher Protestaktionen Menschen einzusperren, hat für mich nichts mehr mit Verhältnismäßigkeit der Mittel zu tun.

Argumente für die Präventivhaft

Befürworter des Präventivgewahrsams argumentieren, dass sie ein notwendiges Instrument im Kampf gegen potenziell gefährliche Personen ist. Sie ermögliche es, Menschen, von denen eine erhebliche Gefahr ausgeht, frühzeitig zu identifizieren und von der Öffentlichkeit fernzuhalten. Dies könne insbesondere in Fällen von Personen, die aufgrund von extremistischen oder terroristischen Tendenzen auffällig geworden sind, von entscheidender Bedeutung sein. Jaja, das klingt vernünftig, wenn es um Terror geht – sonst aber nicht.

Kritik an der Präventivhaft

Auf der anderen Seite gibt es jedoch auch erhebliche Kritik am Präventivgewahrsam. Dessen Gegner argumentieren völlig zu Recht, dass er gegen grundlegende rechtsstaatliche Prinzipien verstößt. Das Prinzip der Unschuldsvermutung wird komplett untergraben, da Personen festgehalten werden können, denen noch gar keine Straftat nachgewiesen wurde. Und selbst, wenn jemand eine Menge Klebstoff gekauft hat, bedeutet das ja nicht zwingend, dass er sich auch wirklich dazu entschließt, den einzusetzen. Wenn man anfängt, bereits vor Eintritt in ein Versuchsstadium mit präventiven Inhaftierungen, oh sorry, vorbeugenden Ingewahrsamnahmen, Menschen einzusperren, dann ist das ein gefährlicher Weg. Was hätte Aiwanger gesagt, wenn man ihn damals wegen des Flugblatts in seinem Ranzen einfach mal weggesperrt hätte?

Es besteht eine große Gefahr des Missbrauchs durch die Behörden, da diese ein hohes Maß an Einschätzungsvermögen bei der Bewertung der potenziellen Gefahr haben müssen, was womöglich beim Einzelnen durch seine persönliche Meinung von Recht und Ordnung geprägt sein könnte. Sie wissen schon, Gillamoos ist Deutschland. Dass der Landesvorsitzende des bayerischen Landesverbandes der Deutschen Polizeigewerkschaft (DPolG), Jürgen Köhnlein, die Entscheidung des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs zum Präventivgewahrsam begrüßt hat, wundert mich kein bisschen. Wenn er sagt:

Gerade im Zusammenhang mit Aktionen von Klimaaktivisten hat sich diese Befugnis im Polizeiaufgabengesetz zur Verhinderung von weiteren Straftaten bewährt,

zeigt dies, das das Thema Terrorabwehr längst in weite Ferne gerückt ist und man den Präventivgewahrsam gerne nutzt, um die bayerischen Straßen von sogenannten Klimaklebern freizuhalten.

Auswirkungen auf die Betroffenen

Für diejenigen, die vom Präventivgewahrsam betroffen sind und die diesen Gewahrsam natürlich als Haft erleben, auch wenn es so schön heimelig Gewahrsam heißt, kann dies gravierende Auswirkungen auf ihr Leben haben. Sie werden von der Gesellschaft isoliert und stehen unter einem ständigen Generalverdacht. Dies kann – wie jede Haft – nicht nur zu erheblichen psychischen Belastungen in Form einer Traumatisierung führen, sondern auch die soziale Integration erschweren. Der Sepp hat gsessen, host mi. Mit dem hängst Du nimmer herum, Bua.

Kritik

Der Präventivgewahrsam ist ein staatliches Instrument, das in Bayern wie auch im Rest Deutschlands kontrovers diskutiert wird. In Bayern ist allerdings – man ist ja schließlich nicht Kreuzberg, wie der Dr. Maggus sagt – die Möglichkeit jemanden wegzusperren deutlich ausgeweiteter als in den anderen Bundesländern. Hier darf der Gewahrsam erst einmal einen Monat betragen und dann auch nochmal um einen Monat verlängert werden.

Es ist dabei entscheidend, dass der Präventivgewahrsam, sofern er überhaupt verfassungsgemäß sein sollte, mit großer Sorgfalt und unter strikter Beachtung der rechtsstaatlichen Prinzipien angewendet wird, um Missbräuche zu vermeiden. In der Theorie ist das möglich, in der Praxis kaum.

Der BayVerfGH hält das Gesetz mal wieder mit der bayerischen Verfassung für vereinbar, wie er in einer Entscheidung vom 14.6.2023 über eine Popularklage entschieden hat.

In der umfangreichen Entscheidung heißt es u.a._

cc) Die Ingewahrsamnahme erfolgt in den Fällen des Art. 17 Abs. 1 Nrn. 4 und 5 PAG auch nicht unmittelbar zur Abwehr einer drohenden Gefahr, selbst wenn die Maßnahmen, die durchgesetzt werden sollen, unter bestimmten Voraussetzungen bereits bei einer drohenden Gefahr im Sinn des Art. 11 a PAG angeordnet werden können; eine Ingewahrsamnahme wegen einer nur drohenden Gefahr sehen die verfahrensgegenständlichen Befugnisse nach Art. 17 Abs. 1 Nrn. 4 und 5 PAG nicht vor. Vielmehr ist maßgeblich, dass die Ingewahrsamnahme nach diesen Normen in erster Linie der Abwehr von konkreten Verstößen des jeweiligen Adressaten gegen die ihm gegenüber angeordneten Maßnahmen und damit der rechtsstaatlich gebotenen Durchsetzung wirksamer und vollziehbarer polizeilicher bzw. richterlicher Anordnungen dient, ohne die insoweit eine effektive Aufgabenwahrnehmung und Schutzpflichterfüllung nicht möglich wäre (vgl. auch Grünewald, a. a. O., Art. 17 PAG Rn. 76 b). Soweit der Betroffene, der es in den Fällen des Art. 17 Abs. 1 Nrn. 4 und 5 PAG in der Regel durch eigenes Verhalten jeweils selbst in der Hand hat, eine Ingewahrsamnahme zu vermeiden, die der Ingewahrsamnahme zugrunde liegende, auf der Grundlage einer drohenden Gefahr erlassene Maßnahme als solche für nicht gerechtfertigt hält, stehen ihm die gegen diese Maßnahme bestehenden Rechtsschutzmöglichkeiten einschließlich der Inanspruchnahme vorläufigen Rechtsschutzes offen.

dd) Allein die Möglichkeit einer fehlerhaften Anwendung des Art. 17 Abs. 1 Nrn. 4 und 5 PAG im Einzelfall macht die Regelungen nicht verfassungswidrig, zumal diese unter dem Gebot einer verfassungskonformen, freiheitssichernden Anwendung im Einzelfall stehen, die auch möglich ist, ohne dass noch gegen Art. 102 Abs. 1 BV verstoßende Schutzlücken verblieben (vgl. VerfGHE 43, 107/127). Eine verfassungskonforme Anwendung im Einzelfall ist bei Art. 17 Abs. 1 Nr. 4 PAG so-wohl auf der Ebene des Tatbestands („unerlässlich“) als auch auf der Ebene der
Rechtsfolge („kann“) möglich, wobei das Tatbestandsmerkmal „unerlässlich“ Geeignetheit und Erforderlichkeit im Sinn einer strikten Verhältnismäßigkeit bedeutet (vgl. BVerwGE 45, 51/56). Für Art. 17 Abs. 1 Nr. 5 PAG gilt, wie ausgeführt, ebenfalls das ultima ratio-Prinzip, im Übrigen hat die verfassungskonforme Anwendung auf der Rechtsfolgenseite („kann“) stattzufinden. Gegen dennoch verfassungswidrige Freiheitsentziehungen in fehlerhafter Anwendung des Art. 17 Abs. 1 Nrn. 4 und 5 PAG besteht hinreichender Schutz durch freiheitssichernde Verfahrensregelungen. Gemäß Art. 20 Abs. 1 Nr. 1 und Art. 96 Abs. 2 Satz 1 PAG sind Maßnahmen, die – wie Art. 17 Abs. 1 Nrn. 4 und 5 PAG (vgl. Art. 97 Abs. 1, Art. 94 Nr. 7 PAG) – eine richterliche Bestätigung oder Anordnung erfordern, unverzüglich zu beenden, sobald die Anordnungsvoraussetzungen entfallen, sie sind also von Amts wegen auch und gerade unter verfassungsrechtlicher Kontrolle zu halten. Gemäß Art. 96 Abs. 2 Satz 1 PAG kann auch jede davon betroffene Person jederzeit ohne besondere Voraussetzungen auf eine Beendigung ihrer Ingewahrsamnahme nach Art. 17 Abs. 1 Nrn. 4 oder 5 PAG hinwirken. Wird eine Person aufgrund von Art. 17 PAG festgehalten, hat die Polizei ferner nach Art. 18 und 97 Abs. 1 PAG unverzüglich eine richterliche Entscheidung über die Zulässigkeit und die Fortdauer der Freiheitsentziehung herbeizuführen, womit die verfassungskonforme Anwendung der Art. 17 Abs. 1 Nrn. 4 und 5 PAG spätestens dann auch zur Aufgabe der Judikative wird, gegen deren Entscheidungen für die in Gewahrsam genommene Person nach Maßgabe des Art. 99 PAG die Beschwerde und die Rechtsbeschwerde offenstehen.

Ich befürchte, die glauben wirklich an das, was sie da schreiben. Dass das in der Realität tatsächlich so wunderbar rechtsstaatlich geschieht, bezweifle ich allerdings.

Letztlich ist es die Kernfrage, ob die potenzielle Sicherheit, wovor auch immer, die durch den Präventivgewahrsam gewonnen werden soll, die potenziellen Risiken und Einschränkungen der individuellen Freiheit des Einzelnen rechtfertigt. Ich denke eher nein.

Solche Vorschriften sind ein großer Schritt in einen Polizeistaat, und ich möchte mir gar nicht ausmalen, was damit passiert, wenn Parteien, die schon jetzt keinerlei Respekt vor dem Staat und vor allem dem Rechtsstaat haben, ein solches Instrument in die Finger bekommen. Für wehret den Anfängen scheint es schon zu spät, die sind nämlich bereits gemacht. Jetzt kann es nur noch darum gehen, Schlimmeres zu verhindern. Bleibt zu hoffen, dass das Bundesverfassungsgericht diesen Wahnsinn irgendwann noch stoppen kann.

Heinrich Schmitz

Heinrich Schmitz ist Rechtsanwalt, Strafverteidiger und Blogger. In seiner Kolumne "Recht klar" erklärt er rechtlich interessante Sachverhalte allgemeinverständlich und unterhaltsam. Außerdem kommentiert er Bücher, TV-Sendungen und alles was ihn interessiert- und das ist so einiges. Nach einer mit seinen Freital/Heidenau-Kolumnen zusammenhängenden Swatting-Attacke gegen ihn und seine Familie hat er im August 2015 eine Kapitulationserklärung abgegeben, die auf bundesweites Medienecho stieß. Seit dem schreibt er keine explizit politische Kolumnen gegen Rechtsextreme mehr. Sein Hauptthema ist das Grundgesetz, die Menschenrechte und deren Gefährdung aus verschiedenen Richtungen.

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