„Profis“ machen nicht alles besser, oder:

Wenn ein Verlagslektor am Tag 24 Minuten hat, um 20 Manuskripte zu prüfen, mag das einiges erklären, ist aber deshalb noch lange nicht gut. Sören Heim über einen offenen „Autoren-Rundbrief“.


Ich bin selbst relativ radikal, was die Notwendigkeit, einen Text ganz zu lesen, um ihn bewerten zu können, betrifft. Ich habe nichts gegen Abbruchs-Rezensionen, denn es gibt ja normalerweise Gründe für einen Abbruch. Könnten wir unfertige Texte nicht beurteilen, alle Literatur, die über Kafka verfasst wurde, wäre obsolet. Und ja, nach ein paar Seiten kann man schon einen ganz guten Eindruck der ästhetischen Meriten eines Werkes haben. Texte werden oft schlechter, selten besser.

Trotzdem offenbart ein „Autoren-Rundbrief“, mit dem ein ehemaliger Verleger versucht für Verständnis für das Verlagswesen zu werben, das ganze Elend eben dieses Verlagswesens. Schon allein, dass einE LektorIn eine knappe Stunde mit der Prüfung eines Manuskriptes verbringt, wir darin als geradezu utopisch hingestellt.

“Versuchen wir es einmal mit mathematischer Logik. Wir haben damals im Verlag rund 20 Vorschläge am Tag erhalten. Wenn man – sagen wir mal – pro Manuskript eine Stunde Prüfzeit ansetzt, dann benötigt man für die Manuskripte eines Tages 20 Stunden Prüfzeit. Bei 8 Stunden Arbeitszeit wären also 2 bis 3 Lektoren damit ausgelastet, von morgens bis abends Manuskripte zu prüfen. Sie merken schon, es wird kurios.

Ein Lektor hat vielfältige Aufgaben: Er muss Programme zusammenstellen, Verlagsautoren betreuen, die Novitäten lektorieren, Herstellung anleiern, Marketing koordinieren, mit dem Controlling im Clinch liegen, Pressearbeit anstossen, Messen besuchen, mit Journalisten sprechen, sich weiterbilden. Für die Beurteilung von unaufgeforderten Neulings-Projekten bleibt so gut wie keine Zeit. Sagen wir sehr großzügig: 5 Prozent der Arbeitszeit eines Lektors bleiben für die Begutachtung von Einsendungen.

Um das eingangs genannte Beispiel aufzugreifen: Einem Lektor blieben also pro Tag 24 Minuten Zeit für die Prüfung von 20 Manuskripten. Und dazu muss man wissen, dass Verlagslektorate sehr schmal besetzt sind. Da laufen keine fünf Lektoren für ein Fachgebiet rum, höchstens einer, allenfalls zwei. So sieht die Rechnung aus, und die Wirklichkeit nicht viel anders.”

Und der Ex-Verleger geht noch weiter:

“Die Vorstellung, ein Lektor würde sich eine Stunde in die Prüfung eines unaufgefordert zugeschickten Manuskriptes reinbeißen, ist weltfremd. Ein Lektor schaut sich bestenfalls ein Kurz-Exposé an, beim Manuskript die Gliederung, liest vorne, in der Mitte und am Schluß ein wenig, schaut auf die Vita des Autors – und hat dann sein Urteil. So läuft es ab. Bestenfalls. Um nicht zu sagen, die Ausnahme.

Denn ein Lektor im Verlag ist eine Fachperson mit Erfahrung. Ähnlich einem Musik-Experten, der schon nach den ersten Takten merkt, ob jemand wirklich Klavier spielen kann. Genauso gut erkennt ein versierter Lektor, ob ein Manuskript etwas taugt oder nicht. Ob es von Stil und Aufbau gut ist, oder nicht. Ob es ins Programm passt, oder nicht.“

 

Sorry, nein. Auf einer Seite, oder von mir aus auch mit einer Seite von Vorne, aus der Mitte und vom Schluss kann ich vielleicht prüfen, ob ein Werk sich ungefähr an die Konventionen seines jeweiligen Mainstreams hält (also filmisches Erzählen für den Unterhaltungsbereich, Schreibschulen-Handbremsen-Modernismus für die sogenannte „ernsthafte“ Literatur), mehr aber auch wirklich nicht. Bei manchem poetischen Meisterwerk mag die erste Seite genügen, um für das Werk zu bürgen. Ich denke an Virginia Woolf, an Arno Schmidt, und Peter Kurzeck oder auch Arundathi Roy. Alles AutorInnen, bei denen ich fürchte, das so ein Verlagslektor diese Werke rundweg ablehnen würde, denn ich habe schon lange nichts mehr von dieser Qualität in der deutschen Verlagslandschaft gelesen. Und wie wird das begründet?

“Ein erfahrener Lektor, das Manuskript vor sich, weiß schon nach Lesen der ersten Seite, wie der Hase läuft. Ich behaupte mal ganz frech, schon nach dem ersten Satz kann man beurteilen, in welche Richtung ein Manuskript kippt. Und deshalb läuft es genau so in den Lektoraten. Prüfzeit für die allermeisten Manuskripte: minutenschnell, bisweilen sekundenschnell. Das ist nicht weiter schlimm. Es ist professionell.””

Verdammt, auch das noch. Es ist also schon ok, weil Profis am Werk sind. Also die gleichen Leute, die Christian Lindner gern mit dem Klimaschutz beauftragen würde, das aber dann doch nicht macht, weil echte Klima-Profis keine Nadelstreifenanzüge tragen. Nein, ich bin, wie auch in anderen Texten zum Thema erwähnt, kein Selbstverleger, ich arbeite jetzt mit dem dritten engagierten kleinen Verlag zusammen, der neben ausgewählten literarischen Texten auch noch eine Literaturzeitschrift herausgibt. Wir sprechen gemeinsam über die Texte und planen die Publikationen so, dass sie als Gesamtkunstwerk in Wort und teils in Bild funktionieren. Aber auch im Selbstverlag lässt sich das mit ein paar guten Freunden leisten, wie es Goethe, Schiller und Lenz in ihrer Jugend leisteten, wie es die Gruppe um Virginia Woolf leistete, wie es unter SchriftstellerInnen über Jahrhunderte Usus war. Wenn man sich nicht einmal eine Stunde Zeit für einen Text nimmt, vielleicht sogar auf Basis der ersten Seite entscheidet, dann kommt das Elend heraus, das sich die deutschsprachige (und zunehmend die weltweite) Gegenwartsliteratur nennt. Es mag sicher viele gute betriebswirtschaftliche Gründe geben, so zu verfahren, die jener ehemalige Verleger ja auch anreißt. Es gibt keinen, keinen einzigen, literarischen, keinen einzigen ästhetischen Grund dafür. Tatsächlich sagt in gewissem Sinne Philipp Lahm, wenn er über Fußball spricht, und versucht aufzuzeigen, dass es immer wieder Momente gibt, in denen das ökonomisch Sinnvolle und das Gute so weit auseinanderklaffen, dass die Regeln angepasst werden müssen, um das Gute überhaupt noch zu erhalten, mehr über das Verlagswesen und die Literatur, als dieser Autorenrundbrief.
Und sind wir ehrlich, hier haben wir noch gar nicht darüber gesprochen, wie viel vorteilhafter es für einen Autorenvertrag ist, SchauspielerIn, InfluencerIn oder MusikerIn zu sein, als einfach sein ganzes Leben hart an der eigenen Literatur gearbeitet zu haben. Liebe Autorinnen und Autoren, mittlerweile pfeifen es die Spatzen von den Dächern: Schämt euch nicht, nicht bei großen Publikumsverlagen zu publizieren, sondern bei den kleinen engagierten LiteraturliebhaberInnen-Verlagen oder gleich ganz auf eigene Faust. Es gibt die „Qualitätsstandards“ nicht, die das Verlagswesen behauptet, gegen die große weite Welt der Literatur aufrechtzuerhalten. Es gibt nur einen zunehmend härteren Kampf um Marktanteile.

Sören Heim

Sören Heim ist Journalist, Übersetzer und Schriftsteller. Er ist Träger des kosovarischen Preises für moderne Dichtung „Pena e Anton Pashkut“ (Stift des Anton Pashku) und des Sonderpreises „Favorit von Daniel Glattauer“ der art.experience 2014. In HeimSpiel schreibt Sören Heim mit Heimvorteil zu den Schnittpunkten von Kunst, Kultur und Gesellschaftspolitik. Er beleuchtet die unerwartete Bedeutung ästhetischer Fragestellungen für zeitgenössische Debatten, die mit Kunst auf den ersten Blick kaum Berührungspunkte haben. Und wo immer, sei es in der Politik, sei es in der Ökonomie, sei es gar im Sport, er auf geballten Unsinn und Unverstand trifft, wagt der Kolumnist auch das ein oder andere Auswärtsspiel. Bisher erschien die Kolumne HeimSpiel im Online-Debattenmagazin The European. Daneben veröffentlicht Heim in mehreren Literaturzeitschriften vornehmlich Lyrik und dichte Kurzprosa, und bloggt auf der eigenen Homepage aus seinem Zettelkasten. Monographien: Kleinstadtminiaturen: Ein Roman in 24 Bildern. Girgis Verlag: 2016 – ISBN: 978-3939154181.Cover nur Front Gewogene Worte: Nachdichtungen aus dem Chinesischen. edition maya: 2016 – ISBN: 978-3930758463.cover kathaStrophen. Experimente in Rhythmus und Melodie. Chiliverlag: 2017 -ISBN: 978-3943292541.FrontCover 2_bleu Algenhumor: Gedichte für das dritte Jahrtausend. Girgis Verlag: 2016 – ISBN: 978-3939154228.algen Audio-Exklusiv: La vie! La jeunesse! – Hörmordkartell 2017

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