Trug Russland zum Scheitern der Revolution von 1848 bei? Zum 175. Jahrestag der Auflehnung der Europäer gegen die „alte Ordnung“

Viele Verfechter der Revolution von 1848, die sich nun zum 175. Mal jährt, hielten das Zarenreich für den gefährlichsten Gegner der Revolution, die im Frühjahr 1848 noch ihre Triumphe feierte. Welche Rolle spielte aber Russland tatsächlich bei den Ereignissen von 1848/49?


„Es gibt in Europa nur zwei Mächte – Russland und die Revolution“

1812-1815 noch als Befreier Europas von einem Tyrannen gefeiert, wurde Russland kurz danach als Anwärter auf die Nachfolge des geschlagenen Napoleon angesehen. In der westlichen Öffentlichkeit galt es nun beinahe als Axiom, dass Russland, ähnlich wie Napoleon, die Errichtung einer Universal­monarchie anstrebe. Die Nachgiebigkeit vieler europäischer Regierungen gegenüber Petersburg rief bei den Gegnern der bestehenden europäischen Ordnung maßlose Empörung hervor. Nur die europäische Revolution war ihrer Ansicht der russischen Übermacht gewachsen. Friedrich Engels schrieb 1853 Folgendes in diesem Zusammenhang:

Seit (der Französischen Revolution von) 1789 gab es… bloß zwei Mächte auf dem europäischen Kontinent: Russland mit seinem Absolutismus auf der einen Seite, die Revolution auf der anderen

Ähnlich dachten übrigens auch manche Verteidiger der russischen Selbstherrschaft, z.B. der Dichter Fjodor Tjuttschew. Kurz nach dem Ausbruch der Revolution von 1848 schrieb er:

Es gibt in Europa nur zwei Mächte – Russland und die Revolution…Das Leben der einen ist der Tod der anderen. Vom Ausgang des Kampfes, der zwischen ihnen angehoben hat, hängt für Jahrhunderte die politische und die religiöse Zukunft der Menschheit ab.

Und in der Tat gehörte der Kampf gegen Russland – das „stärkste Bollwerk der Gegenrevolution“ – zu den wichtigsten außenpolitischen Forderungen der 1848 ausgebrochenen Revolution. Im Frühjahr 1848 befand sie sich in einem Siegestaumel. Die beinahe kampflose Kapitulation der mächtigsten Monar­chen des Kontinents berauschte die Gegner der alten Ordnung. Warum sollten sie ihren Siegeszug nicht weiter nach Osten fortsetzen? Die Zeit der vorsich­tigen, auf die Bewahrung des Status quo ausgerichteten Politik der europäi­schen Kabinette schien nun zu Ende, das Zeitalter der Dynamik war angebro­chen. Das auf Erstarrung und Bewegungslosigkeit angelegte Regime des Zaren Niko­laus I. mutete angesichts dieser neuen Entwicklung besonders anachronistisch an. Die territoriale Umgestaltung Europas – eines der wichtigsten Ziele der Revolution – wäre ohne die entscheidende Schwächung der russischen Posi­tion in Ostmitteleuropa kaum zu erreichen gewesen. Abgesehen davon galt der Sieg der Revolution ohne die Bezwingung Russlands nicht als endgültig gesichert. Der Schicksalskampf zwischen der Revolution und der letzten Bastion des Ancien Régime schien nun unausweichlich.

Der nationale „sacro egoismo“

Dennoch kam es zur allgemeinen Überraschung nicht zu einem solchen Kampf. Um das Zarenreich in seiner Funktion als der wichtigsten Stütze der europäischen alten Ordnung erfolgreich zu bekämpfen, hätte die Revolution entsprechende universale Prinzipien und eine länderübergreifende Strategie entwickeln müssen. Dies ist allerdings kaum geschehen. Das Jahr 1848 wird in der historischen Literatur übereinstimmend als das Jahr des Triumphs der nationalen Egoismen bewertet. Besonders deutlich spiegelte sich dies am Schicksal Polens wider.

Seit etwa 1830 (seit dem polnischen Novemberaufstand) stellte die Solidarität mit dem unterdrückten Polen eine Art Prüfstein für die revolutionäre Gesin­nung dar. Dieses Solidaritätsgefühl sollte jedoch nach dem Sieg der Revolution deutlich abkühlen. Vor die Wahl zwischen der Prinzipien- und der Interessenpolitik gestellt, wählten die revolutionären Regierungen und Bewe­gungen in der Regel das letztere. Der erste Außenminister der Ende Februar 1848 in Paris entstandenen Provisorischen Regierung, Lamartine, wollte auf keinen Fall wegen Polen einen Krieg riskieren. Wir lieben Polen, Italien und alle anderen unterdrückten Völker, erklärte er am 27. März 1848, aber über alles andere lieben wir Frankreich.

Für Deutschland seinerseits bedeutete, sich für die polnische Unabhängigkeit einzusetzen, nicht nur internationale Verwicklungen zu riskieren, sondern auch territoriale Verluste hinzunehmen. Als dies erkannt wurde, nahm die Polenbegeisterung der deutschen Revolution rapide ab. Denn das, wonach sie strebte, war nicht nur die Freiheit, sondern in einem vielleicht noch stärkeren Ausmaß die nationale Macht. Bei der Polendebatte,  der Paulskirche vom Juli 1848  sprach sich die Mehrheit der Abgeordneten für den „gesunden Volksegoismus“  und gegen den „sentimentalen, kosmopolitischen Idealismus“, d.h. gegen Polen.

Für die polnische Unabhängigkeit und damit auch für einen revolutionären Krieg gegen Russland trat von nun an lediglich die radikale Linke ein, und zwar sowohl in Deutschland als auch in Frankreich. Mit dieser ihrer Forderung vermochte sie sich aber genauso wenig durchzusetzen, wie mit ihren anderen Postulaten.

Das Zarenreich und die europäische Revolution

So wurde das Zarenreich, trotz aller entgegenlautenden Voraussagen, von einem revolutionären Interventionskrieg verschont. Es ist indes zu bemerken, dass auch die Außenpolitik des Petersburger Kabinetts einiges dazu beitrug, eine solche Konstellation zu verhindern.

Dem ersten, in kriegerischen Tönen abgefassten Manifest des Zaren vom 14. März 1848, in dem vom unversöhnlichen Kampf mit der Revolution die Rede war, folgte eine Woche später eine wesentlich mildere Erklärung. Der Zar ließ sich von seinem zur äußersten Vorsicht neigenden Außenminister Nessel­rode überreden, die europäische Öffentlichkeit nicht derart stark zu provozie­ren. Das Manifest vom 20. März 1848 sprach von der Nichteinmischung Russlands in die inneren Angelegenheiten Deutschlands und Frankreichs. Die vorsichtige Politik der zarischen Regierung wird vom britischen Historiker Lewis B. Namier als einer der wichtigsten Gründe dafür angeführt, dass der Ost-West-Konflikt im Jahre 1848 nicht eskalierte.

Seinen ohnmächtigen Hass gegen die Revolution ließ Nikolaus I. nur dort austoben, wo dies keinen europäischen Krieg heraufbeschwören konnte. So intervenierte er z.B. im September 1848 in den von den europäischen Zentren weit entfernten Donaufürstentümern, um die dortige Revolution zu unterdrüc­ken. Auch die Verfolgung der regimekritischen Kräfte in Russland selbst sollte sich infolge der Revolution im Westen zusehends verschärfen. Das ohnehin repressive Regime Nikolaus I. nahm nach 1848 beinahe despotische Züge an. Viele Zeitzeugen berichten, wie unerträglich das innenpolitische Klima im damaligen Russland war. Die kritisch denkenden Untertanen des Zaren, die 1848 noch kaum eine Gefahr für das Regime darstellten, mussten dafür büßen, dass Nikolaus I. zur außenpolitischen Passivität gezwungen war, dass ihm die Kraft fehlte, der siegreichen westlichen Revolution Paroli zu bieten.

Stellte die russische Intervention in Ungarn vom Mai 1849 eine Abkehr von der bis dahin geübten außenpolitischen Vorsicht des Petersburger Kabinetts dar? Keineswegs. Die Intervention erfolgte auf ausdrücklichen Wunsch des österreichischen Kaisers. Der sowjetische Historiker Nifontov berichtet zwar, mit welcher Ungeduld Nikolaus I. auf diesen Hilferuf Franz Josephs wartete; dies nicht zuletzt wegen der äußerst aktiven Beteiligung seiner Erzfeinde – der Polen – an der ungarischen Revolution. Dennoch hätte der Zar sicher nicht gewagt, ohne die Aufforderung des Wiener Kabinetts in Ungarn einzugreifen.

Abgesehen davon sollte die Bedeutung der russischen Intervention in Ungarn nicht überbewertet werden. Es handelte sich hier keineswegs um eine der entscheidendsten Schlachten der Revolution, um den vielbeschworenen schick­salhaften Kampf zwischen dem mächtigsten Verteidiger des europäischen Ancien Régime und seinen radikalen Kontrahenten. Man darf nicht vergessen, dass die ungarischen Ereignisse sich zu einer Zeit abspielten, als das Schicksal der Revolution bereits längst entschieden war. In den wichtigsten europäi­schen Zentren (Paris, Wien, Berlin) war sie damals schon besiegt. Ungarn stellte lediglich eine kleine, isolierte Insel im gegenrevolutionären Meer dar. Auf die Dauer wäre dieser revolutionäre Posten kaum zu halten gewesen.

Die Angst vor dem Vierten Stand (Proletariat), vor einem neuen jakobinischen Terror verdrängte bei den liberalen Urhebern der Revolution von 1848 in West- und Mitteleuropa beinahe gänzlich die Russlandfurcht. Die wahnhafte Angst der Franzosen vor dem Sozialismus habe sie in die Hände eines Despoten (Louis Bonaparte) getrie­ben, klagte Alexis de Tocqueville im Dezember 1851. All das geschehe ungeachtet der offensichtlichen Schwäche der „roten“ Partei. So scheiterte die Revolution in Europa in erster Linie an den Ängsten des europäischen Mittelstandes. Erst nach der Überwindung der revolutionären Gefahr begann die europäische Öffentlich­keit sich erneut mit Russland zu beschäftigen und rückte vom Primat der Innenpolitik ab. Nicht der Sieg der Revolution also, wie dies die europäischen Radikalen gemeint hatten, sondern ihr Scheitern schuf die Voraussetzungen für den seit Jahrzehnten propagierten Kampf gegen Russland.

Die Harmlosigkeit der Revolution von 1848 hat Europa von dem jakobinischen Trauma befreit, aber das hegemoniale, napoleonische Trauma blieb immer noch bestehen. Und wer außer dem Zaren wäre imstande gewesen, den napoleonischen Versuch zu wagen, ganz Europa – vom Atlantik bis Moskau – unter seinem Zepter zu einigen?

Die westliche Russlandfurcht nach dem Scheitern der Revolution von 1848/49

Visionen über den Untergang des Abendlandes und Ängste vor einer eventu­ellen russischen Weltherrschaft, die bereits vor 1848 am Selbstbewusstsein der Westeuropäer stark genagt hatten, erreichten nach der Revolution von 1848/49 einen neuen Höhepunkt. Der französische Historiker Michel Cadot berichtet z.B., wie verbreitet die Angst vor einer russischen Invasion in Frankreich im Jahre 1849 war. Der Alptraum vom Einzug der Kosaken in Paris habe Teile der französischen Öffentlichkeit in Atem gehalten. Die Ereignis­se, die 1848/49 Mittel- und Westeuropa so stark erschütterten, ließen Russland praktisch unberührt. Deshalb waren viele Westeuropäer von der scheinbaren Stabilität des russischen Regimes tief beeindruckt. Gerade die Rückständig­keit der sozialen Strukturen Russlands erschien ihnen als Garantie für die Immunität des Zarenreiches gegenüber revolutionären Ideen, gegenüber den gleichen Ideen, die den Westen zu zerstören schienen. Auch in der industriel­len Revolution, die damals die westlichen Länder mit voller Wucht erfasste, sahen viele Denker keineswegs etwa die Quelle künftiger Stärke, sondern eher ein schwächendes Moment. Die soziale Frage schien damals unlösbar. Der proletarische Juniaufstand von 1848 in Paris mit seinen Tausenden von Toten galt nur als Vorbote künftiger erbitterter Klassenkämpfe. Russland dagegen hatte praktisch kein Proletariat, die industrielle Revolution hatte es nur am Rande gestreift. Und so wirkte dieser innerlich homogene Koloss auf den von inneren Spannungen zerrisse­nen Westen um so bedrohlicher.

Die Katastrophe des napoleonischen Heeres gerade im rückständigen Russland trug nur zur Stärkung der These von der russischen Überlegenheit über den hochentwickelten Westen bei. Napoleon selbst hat auf Sankt Helena, sicher­lich zur eigenen Entlastung, die These von der Unbesiegbarkeit Russlands vertreten. Seine Worte, in zehn Jahren werde Europa entweder republika­nisch oder kosakisch sein, waren um die Mitte des 19. Jahrhunderts in aller Munde.

Es soll in diesem Zusammenhang auch auf ein in der Geschichte des Abend­landes relativ neues Phänomen hingewiesen werden, nämlich auf das Nachlas­sen des europäischen Sendungsbewusstseins. Man begann nun im Westen über die Gefahren zu sprechen, die die Europäisierung von Ländern außerhalb des Abendlandes mit sich bringen könne. Im optimistischen, fortschrittsgläubigen 18. Jahrhundert galt die Übernahme westeuropäischer Modelle durch Russland als ein Beweis für die Überlegenheit der abendländischen Kultur. Nicht zuletzt deshalb verlief damals die Eingliederung Russlands in das europäische Staatensystem relativ reibungslos. Nach 1815 begann man indes diese Vorgänge ganz anders zu bewerten. Die Europäisierung Russlands, so viele westliche Autoren, habe lediglich dazu geführt, dass die russische Oberschicht nun über die neuesten westlichen Herrschaftsmittel und Technologien verfüge, die sie ihrerseits gegen den Westen anwende. Zugleich stehe den russischen Herr­schern eine anspruchslose und gehorsame, von den europäischen Ideen unbe­rührte Volksmasse zur Verfügung, die beliebig eingesetzt werden könne, auch für das Ziel einer Weltherrschaft. Der deutsch-österreichische Orientalist und Publizist Jakob Philipp Fallmerayer schrieb 1850 in diesem Zusammenhang (in Anlehnung an den russischen Exildenker Alexander Herzen):

Der Occident kann das soziale Problem nicht mehr lösen, er ist am äußersten Endpunkt seiner geistlichen und weltlichen Hilfsmittel ange­kommen … Ausgemacht und sicher ist nur, dass jetzt im Gegensatze zum westlichen, von langem Leben abgezehrten und welkenden Europa ein Volk erscheint, … welches unter der harten äußeren Rinde des Zarismus … herangewachsen ist; ein Volk, … das blind glaubte, sich passiv dem fremden Willen unterwarf …

Die Dekabristen und ihre Nachfolger

Nur wenige Beobachter erkannten damals, dass die Europäisierung Russlands nicht auf die Oberfläche beschränkt werden könne. Dass eine Übernahme westlicher Technologien und Entwicklungsmodelle zwangsläufig auch eine Übernahme westlicher Geisteshaltungen nach sich ziehen müsse. Dass es nur eine Frage der Zeit sei, bis die russische Bevölkerung ähnliche Forderungen an die Herrschenden stellen würde, wie die westlichen Völker dies schon länger getan hatten. Diese Zeit kam in Russland im Jahre 1825 – mit dem Aufstand der Dekabristen. Unter dem Einfluss der europäischen, vor allem der französischen Ideen sagten die Dekabristen der uneingeschränkten Selbstherrschaft den Kampf an, und versuchten die russische Autokratie mit Hilfe einer verfassungsmäßig verankerten Gewaltenteilung zu zähmen. Die Auflehnung der Dekabristen scheiterte zwar, sie eröffnete aber ein neues Kapitel in der Entwicklung der politischen Kultur Russlands. Der Freiheitsdrang, der sich auch in früheren Epochen der russischen Geschichte immer wieder manifestiert hatte, war nun untrennbar mit dem Begriff „Dekabristen“ verbunden. Die russische Autokratie, die auf der Bevormundung ihrer Untertanen basierte, wurde nun in einem immer stärkeren Ausmaß durch Kräfte herausgefordert, die sich dieser Bevormundung entziehen wollten.

 

 

Leonid Luks

Der Prof. em. für Mittel- und Osteuropäische Zeitgeschichte an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt wurde 1947 in Sverdlovsk (heute Ekaterinburg) geboren. Er studierte in Jerusalem und München. Von 1989 bis 1995 war er stellvertretender Leiter der Osteuropa-Redaktion der Deutschen Welle und zugleich Privatdozent und apl. Professor an der Universität Köln. Bis 2012 war er Inhaber des Lehrstuhls für Mittel- und Osteuropäische Zeitgeschichte an der KU Eichstätt-Ingolstadt. Er ist Geschäftsführender Herausgeber der Zeitschrift Forum für osteuropäische Ideen- und Zeitgeschichte.

More Posts

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert