Der „postume Tyrannensturz“ – Zum 70. Todestag von Josef Stalin

Stalins Tod am 5. März 1953 stellte eine der tiefsten Zäsuren in der neuesten Geschichte Russland bzw. in der Geschichte der UdSSR dar. Dieser Einschnitt setzte der beinahe 40jährigen Gewaltspirale, die die Entwicklung des Landes seit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges, mit einer kurzen Unterbrechung in den 1920er Jahren geprägt hatte, vorübergehend ein Ende.


Stalins Endkampfszenarien

Zu Beginn der 1950er Jahre hat sich der ohnehin äußerst repressive politische Kurs Stalins zusätzlich radikalisiert. Dies betraf nicht zuletzt Stalins Politik gegenüber den Juden im Machtbereich Moskaus. Die im Januar 1949 begonnene, vor allem gegen die Juden gerichtete „antikosmopolitische Kampagne“, erreichte zu Beginn der 1950er Jahre, nach einem verbalen Prolog, eine viel radikalere Dimension.  Im Mai 1952 begann unter Ausschluss der Öffentlichkeit vor dem Obersten Militärgericht in Moskau ein Prozess gegen die bereits 1948/49 inhaftierten Mitglieder des 1942 gegründeten Jüdischen Antifaschistischen Komitees. Dem Vorsitzenden des Gerichts, A. Tschepzow, wurde noch vor dem Beginn der Verhandlung ein Beschluss des Politbüros mitgeteilt – von 14 Angeklagten seien 13 zum Tode zu verurteilen. Im August 1952 wurde die vom Politbüro genannten Personen hingerichtet. Ende 1952 fand im Ostblock der erste antisemitische Schauprozess statt. Er war gegen den ehemaligen Generalsekretär der tschechoslowakischen KP, Rudolf Slánský, gerichtet. Die jüdische Herkunft der Mehrheit der Angeklagten wurde während der Gerichtsverhandlungen wiederholt hervorgehoben. Slánský wurde vorgeworfen, die „zersetzende Tätigkeit der Zionisten unterstützt zu haben“. 11 der Angeklagten wurden zum Tode verurteilt und hingerichtet. Während der Vorbereitung des Slánský-Prozesses begannen auch die Verhaftungen prominenter Kreml-Ärzte, von denen die Mehrheit Juden waren. Das gesamte „sozialistische Lager“ stellte so einen einheitlichen Mechanismus dar, jedem seiner Einzelteile wurden vom Lenker im Kreml bestimmte Funktionen angewiesen. Stalin interessierte sich für alle Einzelheiten sowohl des Slánský-Prozesses als auch der sogenannten „Ärzte-Verschwörung“ und gab fortlaufend Regieranweisungen. Mit Recht bezeichnet der Prager Historiker Karel Kaplan den Slánský-Prozess als einen sowjetischen Prozess.

Während der Hetzkampagne gegen die Ärzte wurde immer wieder angedeutet, dass diese Verschwörer, Komplizen in den höchsten Parteigremien hätten. Das Zentralorgan der Partei „Prawda“ schrieb am 13. Januar 1953:

Die Tatsache, dass die aus ´Männern der Wissenschaft´ bestehende Gruppe verachtenswerter Ausgeburten eine gewisse Zeitlang ungestraft ihr Handwerk treiben konnte, zeigt, dass einige unserer Sowjetorgane und ihre Leiter die Wachsamkeit vergaßen.

Für die alten Parteigefährten Stalins, die die „Säuberungen“ der 1930-er und 1940er Jahre Jahren mitorganisiert hatten, war der Sinn dieser Beschuldigungen klar.  Sie sollten eine neue, gigantische Säuberungswelle einleiten.

Stellte also die Ärzte-Affäre bloß eine Begleiterscheinung des Machtkampfes im engsten Umfeld des Kreml-Despoten dar, wie dies gelegentlich behauptet wird? Sicherlich nicht. Stalins Feldzug gegen die Juden hatte eine eigene innere Logik, deren Ergründung immer noch große Schwierigkeiten bereitet.

Eines steht fest: Stalins Tod am 5. März 1953 rettete nicht nur vielen Juden, sondern auch zahlreichen Vertretern der sowjetischen Machtoligarchie das Leben.

Der Fall Berija

Die engsten Gefährten Stalins, die seit Jahren vom Diktator gedemütigt und terrorisiert worden waren, begannen bereits an seinem Todestag mit der Revision vieler Beschlüsse, die Stalin in seinen letzten Regierungsjahren gefasst hatte. Es stellte sich nun heraus, wie eng das voll ausgebildete stalinistische System mit der Person seines Gründers verflochten war und wie wenig Chancen es hatte, seinen Schöpfer zu überleben. Die von Stalin kurz zuvor entmachteten Wjatscheslaw Molotow und Anastas Mikojan kehrten in die engste Parteiführung zurück. Molotow übernahm erneut die Leitung des Außenministeriums, Lawrentij Berija, der in den letzten Regierungsjahren Stalins um sein Leben hatte bangen müssen, übernahm die Leitung des Innenministeriums, wobei das Innenministerium mit dem bisherigen Sicherheitsministerium zusammengelegt wurde. So stand Berija ein gigantischer Terror- und Unterdrückungsapparat zur Verfügung.

Welchen politischen Kurs verfolgte nun der langjährige Leiter der Terrororgane, der direkt oder indirekt für den Tod von unzähligen Menschen verantwortlich war? Zur allgemeinen Verblüffung liefen seine damaligen Aktivitäten auf eine weitgehende Demontage des terroristischen Systems hinaus, an dessen Errichtung er selbst seinerzeit derart aktiv mitgewirkt hatte. Am 13. März ordnete Berija die Überprüfung der Fälle der verhafteten Ärzte und vieler anderer Untersuchungshäftlinge an. Am 4. April wurde das Verfahren gegen die Ärzte eingestellt und als Provokation der ehemaligen Leitung der Sicherheitsorgane bezeichnet.

Aber nicht nur die Willkür der Terrororgane geriet nun unter den Beschuss der neuen Führung, sondern auch die zweite Säule des stalinistischen Systems – der Personenkult. Bereits einige Wochen nach Stalins Tod wurden in einem der Leitartikel der „Prawda“ jene Persönlichkeiten kritisiert, „die Prinzipien der kollektiven Führung dadurch verletzten, dass sie wichtige Fragen einzig durch ihre persönliche Entscheidung regelten, ohne die anderen Mitglieder des Politbüros zu Rate zu ziehen“.

Am 9.5.1953 fasste das ZK-Präsidium auf Anregung Berijas einen Beschluss, der das Tragen von Porträts lebender Partei- und Staatsführer während feierlicher Demonstrationen untersagte.

Am 26.6.1953 wurde Berija indes auf einer Sitzung des ZK-Präsidiums in staatsstreichähnlicher Manier verhaftet. Sogar der enge Verbündete Berijas, Georgij Malenkow, nahm an dieser Aktion teil. Für viele Vertreter der sowjetischen Machtelite ging Berija mit der Demontage des von Stalin geschaffenen Systems einfach zu weit. Aber ausschlaggebend für ihr Verhalten war die Angst vor einem neuen Tyrannen. Die Parteioligarchie, die seit Mitte der 1930er Jahre von den Sicherheitsorganen terrorisiert worden war, wollte sich nicht erneut in Abhängigkeit von ihnen begeben, sich von ihrem Leiter entmündigen lassen. Das Gleiche galt auch für die Militärführung, die sich an der Verschwörung gegen Berija aktiv beteiligte.

Die Fortsetzung des „Neuen Kurses“

Welche Politik wurde von den Bezwingern Berijas verfolgt? Es war im Grunde die Fortsetzung des bereits im Frühjahr 1953 begonnenen „Neuen Kurses“, der auf die Demontage des „voll ausgebildeten Stalinismus“ hinauslief. Bezeichnend für die Fortsetzung des von Berija eingeschlagenen Kurses war die Einstellung der maßgeblichen Parteiführer zum „Personenkult“ um Stalin. So warfen z.B. einige Parteiführer auf dem ZK-Plenum vom Juli 1953 Berija vor, er habe sich wiederholt despektierlich über Stalin geäußert. Er habe es abgelehnt, Stalin als Fortsetzer des Werkes von Marx, Engels und Lenin zu bezeichnen.

Dieser Stalin-Apotheose wurde aber auf dem Plenum entschieden widersprochen, und zwar von dem damals offiziell ersten Mann in der sowjetischen Machthierarchie, nämlich vom Ministerpräsidenten Malenkow, der sagte:

Sie müssen wissen, Genossen, daß der Personenkult Stalins pathologische Formen und Ausmaße angenommen hatte. Die höchsten Parteigremien ließen keine Kritik mehr zu. Wir dürfen es vor Ihnen nicht verbergen, dass dieser hässliche Personenkult zu apodiktischen Entscheidungen führte, die der Partei und dem Lande in den letzten Jahren großen Schaden zugefügt haben.

Auch im Ost-West-Verhältnis begann sich unmittelbar nach dem Tode Stalins eine Entspannung anzubahnen. In den letzten Regierungsjahren Stalins hatte sich nämlich nicht nur seine Innen-, sondern auch seine Außenpolitik radikalisiert. Wiederholt hatte er versucht, seine engsten Gefährten davon zu überzeugen, dass eine bewaffnete Konfrontation mit den Westmächten unmittelbar bevorstehe.

Im Oktober 1952 schrieb Stalin in der „Prawda“:

Um die Unvermeidlichkeit der Kriege zu beseitigen, muß man den Imperialismus beseitigen.

Stalin rechnete also mit dem unmittelbar bevorstehenden Ausbruch eines Krieges. Ganz anders wurde diese Frage von seinen Nachfolgern bewertet. Bereits am 9. März 1953 sprach Malenkow von den „Möglichkeiten einer dauernden Koexistenz und eines friedlichen Wettbewerbs der beiden verschiedenen Systeme“. Im August 1953 bediente sich der sowjetische Ministerpräsident bereits in diesem Zusammenhang des Begriffs „Entspannung“ und im März 1954 fügte er hinzu:

Die sowjetische Regierung … wendet sich entschieden gegen die Politik des Kalten Krieges, denn diese Politik läuft auf die Vorbereitung eines neuen Weltkrieges hinaus und ein solcher Krieg würde, angesichts der neuesten Vernichtungsmittel, das Ende der Weltzivilisation herbeiführen.

Der XX. Parteitag der KPdSU

Die Paradoxie des Entstalinsierungsprozesses bestand darin, dass es langjährige Gehilfen Stalins waren, die ihn durchführten. Der Sowjetologe Isaac Deutscher schrieb, all diejenigen Kommunisten, die sich am Stalinschen Terror nicht beteiligen wollten, seien von Stalin bereits längst liquidiert worden. Daher sei die gesellschaftlich unerlässliche Aufgabe der Entstalinisierung den Stalinisten zugefallen.

Es bestand allerdings innerhalb der sowjetischen Führung keineswegs Übereinstimmung über das Ausmaß der Entstalinisierung und vor allem über die Frage, ob man Stalin offen angreifen dürfe oder nicht. Chruschtschow, dessen Position innerhalb der kollektiven Führung immer stärker wurde, trat am Vorabend des für Februar 1956 geplanten XX. Parteitages – des ersten Parteitages nach dem Tode Stalins – für die öffentliche Enthüllung der Stalinschen Verbrechen und für die Rehabilitierung der Opfer des Stalinschen Terrors ein. Seine Kritiker im ZK-Präsidium, in erster Linie Molotow, teilten diese Ansicht nicht. Sie fürchteten, dass das sowjetische Regime solche Enthüllungen nicht überleben werde. So forderte Molotow, man müsse auf dem Parteitag unbedingt die Rolle Stalins als großen Führers und Nachfolgers Lenins hervorheben. Auch Chruschtschow meinte, dass Stalin der Sache des Sozialismus treu geblieben sei:

Aber er machte alles mit barbarischen Methoden. Er vernichtete die Partei, … er hat alles Heilige, was der Mensch hat, vom Erdboden hinweggefegt. Er hat alles seinen Launen untergeordnet.

Schließlich setzte sich Chruschtschow mit seinem Vorschlag durch, den Parteitag auf einer geschlossenen Sondersitzung über die Verbrechen Stalins zu informieren. Zu den Parteiführern, die Chruschtschows Vorschlag mit Nachdruck unterstützten, gehörte Dmitri Schepilow, der über seine Gefühle sagte:

Das Herz plagt sich mit tiefen Zweifeln, wenn ich mich an die Ereignisse von 1937 erinnere. Man muss der Partei die Wahrheit sagen, sonst wird uns nicht verziehen.

Kontroversen über das Ausmaß der Entstalinisierung und über die Form, in welcher sie geschehen sollte, fanden ausschließlich innerhalb der höchsten Parteigremien statt und wurden der Öffentlichkeit vorenthalten. Trotz ihrer Rebellion gegen das Erbe des Vorgängers waren Chruschtschow und seine Anhänger letztendlich Zöglinge Stalins, die manche Denkmuster des Diktators verinnerlicht hatten und als unantastbare Dogmen ansahen. Dazu zählte z.B. die Ablehnung jeglicher gesellschaftlicher Spontaneität bzw. das Verbot einer offenen Austragung von Konflikten. So wurde letztlich die Entstalinisierung in stalinistischer Manier durchgeführt; von oben und mit bürokratischen Mitteln, wie Isaac Deutscher schrieb.

Dies ist allerdings nur ein Teil der Wahrheit. Man muss sich zugleich vergegenwärtigen, in welchem Zustand sich das Land am Vorabend des XX. Parteitages befand. Die Bevölkerung war nach zweieinhalb Jahrzehnten permanenten Terrors völlig atomisiert und jeder Möglichkeit politischer Einflussnahme beraubt. Die Partei war damals im Grunde der einzige maßgebliche politische Faktor im Lande. Der Kampf um den „Neuen Kurs“ bildete also zunächst eine weitgehend innerparteiliche Angelegenheit. Dabei darf man aber nicht vergessen, um was für eine Partei es sich dabei handelte. Nach unzähligen Säuberungen und Disziplinierungskampagnen, die sie unter Stalin erlebt hatte, hatte sie sich in ein willfähriges Organ der Führung verwandelt, das lediglich Befehle von oben nach unten weitergab. Parteiführer, die dem ursprünglichen Bolschewismus mit seinem Hang zur innerparteilichen Polemik treu geblieben waren, waren größtenteils bereits in den 1930er Jahren von Stalin liquidiert worden. Mit Hilfe der Terrororgane hat Stalin den Bolschewiki eingeimpft, schon die kleinste Abweichung von der Generallinie der Partei stelle ein kriminelles Delikt dar. „Monolithisches“ Auftreten, Einstimmigkeit der Beschlüsse und „inbrünstige Verehrung“ der Führung gehörten zum Wesen dieser einst revolutionären Partei. Zur Durchführung von Demokratisierungsprozessen war sie völlig ungeeignet. Der Stalinkult galt jahrzehntelang als Faktor, der das System stabilisierte – ungeachtet der Tatsache, dass viele seiner Verkünder selbst ins Räderwerk der von ihnen mitaufgebauten Terrormaschinerie gerieten. So reagierten viele Parteiführer mit Panik auf die Absicht Chruschtschows, der Götzenverehrung einen offenen Kampf anzusagen. Der Chruschtschow-Biograph Roy Medwedew schreibt hierzu: Bei den Gefährten Stalins, die ihren Aufstieg ausschließlich dem Diktator verdankt hätten, seien allmählich ähnliche Ermüdungserscheinungen aufgetreten, wie seinerzeit bei den Marschällen Napoleons. Die letzteren hätten sich nicht mehr den Gefahren der fortwährenden Kriege aussetzten wollen, die stalinistischen Würdenträger ihrerseits seien der ewigen Angst vor Säuberungen müde geworden. Eine offene Auseinandersetzung mit Stalin hätten sie jedoch rundweg abgelehnt, um die Grundlagen ihrer Herrschaft nicht zu erschüttern.

Gab es angesichts dieser Stimmung innerhalb der Machtelite und des Zustandes der Partei eine Alternative zum autoritären, staatsstreichähnlichen Vorgehen, das Chruschtschow im Kampfe gegen den verstorbenen Tyrannen wählte? Wohl kaum.

Was die Motive Chruschtschows anbetrifft, die ihn zu seinem Schritt im Februar 1956 bewogen hatten, so wird darüber noch heute ungeachtet einer Fülle neuer Analysen und Quellen ähnlich gerätselt wie in den vergangenen Jahrzehnten. Chruschtschow habe gewusst, dass die überwiegende Mehrheit der Kongressteilnehmer gegen eine Abrechnung mit Stalin sei, schreibt der Publizist und ehemaliger Mitarbeiter Chruschtschows Fjodor Burlazki, und fragt:

Was hat ihm den Mut und die Zuversicht gegeben …? Dies war einer der seltenen Fälle in der Geschichte, bei denen ein politischer Führer seine persönliche Macht und sogar sein Leben auf eine Karte setzte, um höhere gesellschaftliche Ziele zu erreichen.

Das persönliche Risiko Chruschtschows sei am Vorabend des XX. Parteitages nicht geringer gewesen als seinerzeit bei der Verhaftung Berijas, fügt Roy Medwedew hinzu. Der Historiker fasst dann die Erklärungen für die Beweggründe Chruschtschows zusammen: 1. Mit seiner Abkehr vom stalinistischen Willkürsystem habe Chruschtschow die Sicherung und Festigung der Herrschaft der Parteielite angestrebt. Sie sollte nicht mehr in ständiger Angst vor Repressionen leben. Man könnte aber einwenden, dass solche Gegner Chruschtschows wie Molotow das gleiche Ziel angestrebt hätten.

2. Chruschtschows Rede habe eine entscheidende Episode im Machtkampf um die Nachfolge Stalins dargestellt, so Medwedew. Durch seine Abrechnung mit dem verstorbenen Tyrannen habe Chruschtschow enge Mitarbeiter des Diktators wie Molotow, Malenkow u.a., die sich wesentlich länger in dessen Nähe befunden hätten als er selbst, endgültig diskreditieren wollen.

Aber auch diese Erklärung ist völlig unbefriedigend. Chruschtschow, dessen Aufstieg auf den Parteiolymp ausgerechnet Mitte der 1930er Jahre begonnen hatte, der während der Säuberungen zunächst in Moskau und dann in der Ukraine das Amt des Ersten Parteisekretärs bekleidete, war in die damalige Terrormaschinerie nicht weniger verstrickt als seine späteren Kontrahenten. Ihre Warnungen, er säge den Ast ab, auf dem er selbst sitze, waren nicht von der Hand zu weisen.

Wie dem auch sei: Der “postume Tyrannensturz“, den Nikita Chruschtschow auf dem 20. Parteitag der KPdSU vollzog, leitete einen eigendynamischen Prozess der Erosion der bestehenden Herrschaftsstrukturen und Methoden ein, der, ungeachtet aller Restaurationsversuche der herrschenden Oligarchie, nicht mehr einzudämmen war. Die Tatsache, dass die höchste Instanz der KPdSU – der Parteitag – den Politiker, der das Wesen des sowjetischen Systems im Verlauf eines Vierteljahrhunderts verkörpert hatte, als einen Massenmörder entlarvte, musste zwangsläufig die Fundamente des Regimes erschüttern. Warum wurde diesem Prozess der Befreiung Russlands vom verhängnisvollen Stalinschen Erbe ausgerechnet nach der Entmachtung der KPdSU im August 1991 ein Ende bereitet? Warum sind unzählige Nachkommen der Opfer Stalins nun bereit, diesem wohl brutalsten Tyrannen der russischen Geschichte seine Untaten zu verzeihen? Dieser Sachverhalt gibt Rätsel auf, und scheint die vielzitierte Verszeile der russischen Dichters Fjodor Tjuttschew zu bestätigen: „Russland ist mit dem Verstand nicht zu begreifen“.

Leonid Luks

Der Prof. em. für Mittel- und Osteuropäische Zeitgeschichte an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt wurde 1947 in Sverdlovsk (heute Ekaterinburg) geboren. Er studierte in Jerusalem und München. Von 1989 bis 1995 war er stellvertretender Leiter der Osteuropa-Redaktion der Deutschen Welle und zugleich Privatdozent und apl. Professor an der Universität Köln. Bis 2012 war er Inhaber des Lehrstuhls für Mittel- und Osteuropäische Zeitgeschichte an der KU Eichstätt-Ingolstadt. Er ist Geschäftsführender Herausgeber der Zeitschrift Forum für osteuropäische Ideen- und Zeitgeschichte.

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