Die Buchpreis-Longlist war diesmal gar nicht so schlecht…

… aber der Jury gelang es trotzdem, daraus eine sehr schwache Shortlist zusammenzustellen, so Literaturkolumnist Sören Heim. Allerdings ist noch ein Roman im Rennen, der den Preis tatsächlich verdienen würde.


Auch wenn es normalerweise jedes Mal in Selbstquälerei ausartet, habe ich dieses Jahr doch wieder zahlreiche Bücher von der Shortlist zum Deutschen Buchpreis gelesen. Wir erinnern uns: Die versammeln meist eine eher unterwältigende Mischung aus Handzahmem, politisch Thesenhaftem und einigen wenigen schlechten Imitationen früherer moderner Meisterwerke. Letztes Jahr dürfte ein Tiefpunkt erreicht gewesen sein.

Die ordentliche Longlist

Entsprechend überrascht mich, für dieses Jahr verkünden zu können: Das Feld zum Deutschen Buchpreis, zumindest die Longlist, war ziemlich gut aufgestellt. Mit einigen richtig starken Texten und ansonsten zumindest zum Großteil gut lesbaren. Das soll nun nicht heißen, dass die deutsche Literatur plötzlich einen Drang zu echter Innovation oder wenigstens Konservation des Besten der Vergangenheit auf höchstem Niveau entdeckt hätte. Es dominiert weiterhin der konsumierbare Modernismus mit Handbremse, den ich anderswo auch als „Suhrkamp-Intellektualismus“ bezeichnet habe. Der Schreibschulen-Stil, die Literatur für den kleinsten gemeinsamen (formalen) Nenner des Bildungsbürgertums. Die Sache ist nur einfach in diesem Jahr in der Breite deutlich besser ausgeführt bzw. ausgewählt, und es gab in diesem Feld dann auch noch zwei oder drei Texte, die herausragen.

Besonders gilt das für das sprachlich/kompositorisch/konzeptionell fordernde Freudenberg, einen Roman, der rund um den Tod eines Jugendlichen ein faszinierendes, kaum aufklappbares Verwirrspiel aufführt, dessen Unsicherheit immer auch sprachlich gespiegelt wird. Des Weiteren für den Fragen von Gender und Sex ergründenden Roman Blutbuch von Kim de L’Horizon, der zugleich eine weit zurückschauende Familienbiografie ist. Weniger auf der sprachlichen Ebene als auf der des Settings und der ungewöhnlichen Entscheidung, das „Unerhörte“ eines psychiatriekritischen Romans als Seitenthema eines sehr persönlichen Textes über eine Krankenpflegerin mitlaufen zu lassen, überzeugt Ein simpler Eingriff von Yael Inokai. Thematisch ungeheuer spannend, und ebenfalls dieses Thema gekonnt sprachlich umsetzend, obwohl dem Text auch drei oder vier Missgriff unterlaufen, ist zuletzt Eine Liebe in Pjöngjang, ein ungeheuer dichter Roman über Liebe/Freundschaft, Misstrauen, Systemkonflikt und das „richtige Leben im Falschen“.

Die Shortlist-Katastrophe

Während es von diesen herausragenden Texten nur einer auf die Shortlist geschafft hat, die im Großen und Ganzen mal wieder eine Katastrophe ist, war der Rest der Longlist nicht unbedingt schwach aufgestellt. Nebenan von Kristine Bilkau erzählt gekonnt die Geschichten zweier Familien und vermittelt ein ganzes Dorf rund um eine Lehrstelle herum. Dschinns von Fatma Aydemir wirkt sehr routiniert, vielleicht etwas zu routiniert, in seiner Behandlung einer Familie mit türkischen Wurzeln, die für eine Beerdigung nach Istanbul zurückkehrt; ist aber dennoch eine kurzweilige Lektüre. Spitzweg von Eckhart Nickel ködert mit einer spannenden Idee, hält mit interessanten Diskussionen über Kunst bei der Stange, und verstolpert das Ende ein wenig. Und Kangal erzählt von zwei jungen türkischen Oppositionellen, von denen eine nach Deutschland flieht und dort mit ihrer gar nicht oppositionellen Cousine in Kontakt tritt, während der andere in Istanbul bleibt. In unglaublich raschen Szenenwechseln wird die Hektik von Flucht, Misstrauen und Unsicherheit spürbar gemacht. Rombo von Esther Kinsky ist ein Poem in Prosa über ein abgelegenes Alpental und ein Erdbeben, Dagegen die Elefanten ein sanfter Text über einen Mann, der Beobachtungen macht.

Natürlich sind auch wieder ein paar Texte dabei, deren Erscheinen auf der Liste ich mir kaum erklären kann. Strunk bleibt Strunk, also Houellebecq für Arme. Anna Kims Geschichte eines Kindes ist eigentlich ein überdurchschnittlicher Roman, wären da nicht etwa 100 Seiten reines Aktenstudium, durch die man sich zu den erzählenden Passagen kämpfen muss. Trottel von Jan Faktor ist höchstwahrscheinlich ein Stunt von Böhmermann, um den Literaturbetrieb zu entblößen. Und Auf See von Theresia Enzensberger ist ein Text, der mehrmals die Entscheidung treffen könnte, ein interessanter dystopischer Roman zu sein, und sich jedes Mal für den Infodump und gegen das Erzählen entscheidet.

Mittlerweile liegt die Shortlist vor, und es scheint, als habe die Jury sich bei der Auswahl ein paar Witze erlaubt. „Blutbuch“ ist nun zumindest ohne Konkurrenz und sollte locker den Sieg davontragen. Der Roman hätte es in jedem Fall verdient, wie auch die schon ausgeschiedenen
„Eine Liebe in Pjönjang“ und „Freudenberg“. So schade es ist, dass die meisten starken Texte schon aussortiert wurden, von der Longlist wären dieses Jahr nur vier Titel an meinem Ork-City-Benchmark gescheitert (vier weitere habe ich noch nicht gelesen). Unfall oder Fortschritt?

Sören Heim

Sören Heim ist Journalist, Übersetzer und Schriftsteller. Er ist Träger des kosovarischen Preises für moderne Dichtung „Pena e Anton Pashkut“ (Stift des Anton Pashku) und des Sonderpreises „Favorit von Daniel Glattauer“ der art.experience 2014. In HeimSpiel schreibt Sören Heim mit Heimvorteil zu den Schnittpunkten von Kunst, Kultur und Gesellschaftspolitik. Er beleuchtet die unerwartete Bedeutung ästhetischer Fragestellungen für zeitgenössische Debatten, die mit Kunst auf den ersten Blick kaum Berührungspunkte haben. Und wo immer, sei es in der Politik, sei es in der Ökonomie, sei es gar im Sport, er auf geballten Unsinn und Unverstand trifft, wagt der Kolumnist auch das ein oder andere Auswärtsspiel. Bisher erschien die Kolumne HeimSpiel im Online-Debattenmagazin The European. Daneben veröffentlicht Heim in mehreren Literaturzeitschriften vornehmlich Lyrik und dichte Kurzprosa, und bloggt auf der eigenen Homepage aus seinem Zettelkasten. Monographien: Kleinstadtminiaturen: Ein Roman in 24 Bildern. Girgis Verlag: 2016 – ISBN: 978-3939154181.Cover nur Front Gewogene Worte: Nachdichtungen aus dem Chinesischen. edition maya: 2016 – ISBN: 978-3930758463.cover kathaStrophen. Experimente in Rhythmus und Melodie. Chiliverlag: 2017 -ISBN: 978-3943292541.FrontCover 2_bleu Algenhumor: Gedichte für das dritte Jahrtausend. Girgis Verlag: 2016 – ISBN: 978-3939154228.algen Audio-Exklusiv: La vie! La jeunesse! – Hörmordkartell 2017

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