Winnetou oder was braucht es alles für einen kleinen Shitstorm?

Der Kampf der Traditionalisten gegen die Woken folgt einer ständig gleichbleibenden Choreografie. Das ist auf Dauer ermüdend, sagt Kolumnist Henning Hirsch

Bild von prawny auf Pixabay

In den Plattformen des sich täglich hochschaukelnden Wahnsinns wird seit 48 Stunden ein neuer Mega-Aufreger durch die digitale Ödnis gejagt = die in Kürze bevorstehende Verbrennung sämtlicher Karl-May-Romane mit Schwerpunkt auf der Winnetou-Trilogie.

Was war geschehen?

Zeitgleich zum Kinostart von „Der junge Häuptling Winnetou“ wollte der altehrwürdige Verlag Ravensburger zwei Begleitbücher und ein paar Gimmicks auf den Markt bringen. Unter der entsprechenden Ankündigung in Instagram erhob sich alsbald ein mitteldimensionierter Shitstorm, wo dem Verlag so böse Sachen wie Nutzung rassistischer Stereotype & verharmlosender Klischees, Verwendung kolonialistischer Vorurteile, kulturelle Aneignung und Unterschlagung historischer Fakten um die digitalen Ohren gehauen wurden. Die Verantwortlichen entschieden sich deshalb für den sofortigen Stopp des Vertriebs und begründeten diesen 180°-Schwenk – wiederum in Instagram – mit folgenden Sätzen:

Wir haben die vielen negativen Rückmeldungen zu unserem Buch „Der junge Häuptling Winnetou“ verfolgt und wir haben heute entschieden, die Auslieferung der Titel zu stoppen und sie aus dem Programm zu nehmen.

Wir danken Euch für Eure Kritik. Euer Feedback hat uns deutlich gezeigt, dass wir mit den Winnetou-Titeln die Gefühle anderer verletzt haben. Das war nie unsere Absicht und das ist auch nicht mit unseren Ravensburger Werten zu vereinbaren. Wir entschuldigen uns dafür ausdrücklich.

Unsere Redakteur*innen beschäftigen sich intensiv mit Themen wie Diversität oder kultureller Aneignung. Die Kolleg*innen diskutieren die Folgen für das künftige Programm und überarbeiten Titel für Titel unser bestehendes Sortiment. Dabei ziehen sie auch externe Fachberater zu Rate oder setzen „Sensitivity Reader“ ein, die unsere Titel kritisch auf den richtigen Umgang mit sensiblen Themen prüfen. Leider ist uns all das bei den Winnetou-Titeln nicht gelungen. Die Entscheidung, die Titel zu veröffentlichen, würden wir heute nicht mehr so treffen. Wir haben zum damaligen Zeitpunkt einen Fehler gemacht und wir können euch versichern: Wir lernen daraus!

Als diese Erklärung die Runde gemacht hatte, stürmte rasend schnell der nächste – nun eher großdimensionierte – Shitstorm heran, in dem von Cancel Culture, Orwells Neusprech und Bücherverbrennungen à la 1933 schwadroniert wurde. „Wir lassen uns den Helden unserer Kindheit nicht nehmen!“, „Winnetou war ein Guter, und wir alle wollten wegen ihm an Rosenmontag Indianer sein“ und ähnlich klare Kante konnte man da lesen.

Der junge Winnetou = Episode 327 des immerwährenden Kampfs der Traditionalisten gegen die Woken.

Worum geht es eigentlich?

Zwar ging es, wie man, wenn man den Instagram-Verlauf unter der Neuankündigung überfliegt und die Erklärung von Ravensburger studiert, nie um die 3 Winnetou-Originale von Karl May, sondern einzig um das 125 Jahre später nachgereichte Prequel aus der Feder von Thilo Petry-Lassak. Mit der dazugehörigen Frage: Müssen idealisierende Klischees und Auslassungen (wie die brutale Unterdrückung der indigenen Bevölkerung durch die weißen Kolonisatoren), wie sie May am Ende des 19. Jahrhunderts zu Papier (bzw. nicht zu Papier) brachte, Anfang des 21. Jhrd.s eins zu eins wiederholt werden? Die Frage ist eine völlig berechtigte. Welche Schlussfolgerungen man aus ihrer Beantwortung zieht, ist ein Kapitel für sich. Dazu kommen wir etwas weiter unten in dieser Kolumne.

Wir wollen an dieser Stelle erst mal bloß festhalten: Das, was zur Zeit von May okay war, muss heutzutage nicht zwingend ebenfalls okay sein, bloß weil wir alterssenil auf dem Standpunkt beharren, dass ein Buch, das wir als Kinder (unkritisch) gelesen und geliebt haben, ebenfalls aus dem Blickwinkel des Jahres 2022 supermegatoll sein muss. Die Geschmäcker und Wahrnehmungen ändern sich. Wenn schon das Original nicht mehr als supermegatoll durchgeht, passagenweise sogar als kritisch anzusehen ist – umso mehr muss ja die Frage erlaubt sein, ob man diesen Wildwest-Kitsch durch ein unreflektiertes Prequel fortschreiben muss. Man kann es tun; muss dann aber auch mit der entsprechenden Kritik rechnen und damit leben können.

Jetzt wird mir sicher gleich die Frage gestellt werden, ob ich „Der junge Häuptling Winnetou“ überhaupt gelesen habe. Weil Kolumnisten ja eh nie das lesen, worüber sie nachher schreiben. Darauf lässt sich einfach antworten: Nein, habe ich nicht, weil der Verlag die Bücher praktischerweise vor Veröffentlichung schon wieder eingestampft hat. Ich kenne bloß ein paar Zusammenfassungen und Vorab-Rezensionen. Ich wollte mir alternativ spontan den Film anschauen, stellte aber beim Check in „Wer streamt es?“ fest, dass der Streifen im Moment nirgendwo, außer im Kinopolis in Bonn zu sehen ist. Und so weit geht meine Liebe zu Kinderfilmen jetzt nicht, dass ich mich dafür bei 32 Grad im Schatten ins Auto setze, 10 Kilometer fahre, 30 Minuten einen Parkplatz suche und mir dann zwei Stunden lang eine Geschichte anschaue, deren Zielgruppe ich seit 45 Jahren entwachsen bin. Da tippe ich lieber auf meinem Balkon eine Kolumne.

Das heißt, Sie haben wie immer keine Ahnung, worüber Sie schreiben, Herr Hirsch, sagen Sie jetzt? Stimmt. Ich habe – liegt allerdings knapp ein halbes Jahrhundert zurück – jedoch alle 3 Winnetou-Originale gelesen und die Filme mit Pierre Brice als edelstem aller Häuptlinge und Lex Barker als treuestem aller Blutsbrüder mehrmals gesehen. War sogar während eines Jugoslawienurlaubs mit meinen Eltern in den 70-er Jahren an den Plitvicer Seen, wo die Außenaufnahmen gedreht wurden. An Karneval wollte ich immer Indianer sein (okay, 1x war ich Astronaut; aber das war ein blödes Kostüm) u in Nscho-tschi war ich als Zehnjähriger ein bisschen verliebt. Das reicht natürlich bei Weitem nicht aus, um als Karl-May-Experte durchzugehen; es reicht jedoch völlig aus, diese Kolumne zu schreiben.

Karl May schrieb so, wie man vor 125 Jahren halt schrieb

Kommen wir jetzt zum Grundsätzlichen: Was ist verkehrt daran, die Welt der indigenen Ureinwohner Amerikas idealisiert, mitunter haarscharf unterhalb der Schwelle zum Kitsch, zu präsentieren? Bzw. warum darf man das in den Augen der Hyperkorrekten nicht tun? Bloß, weil Winnetou am Reißbrett entworfen wurde und mit einem realen Apachen so viel zu tun hat wie Raumschiff Enterprise mit Apollo 11, bedeutet das ja nicht zwangsläufig, dass die kindlichen Leser dieser Rothaut-Romantik zu späteren Rassisten mutieren, nur weil man Rothaut heute nicht mehr sagt. Sind wir mit grob fahrlässiger kultureller Aneignung konfrontiert, sobald ein Deutscher, ohne je die Schauplätze seiner Bücher betreten zu haben, einen Indianer-Roman schreibt? Bedeutet es einen literarischen Sündenfall, wenn ein Protagonist allenfalls bruchstückhaft einem Menschen aus Fleisch und Blut gleicht, sondern als Hochglanz-Kunstprodukt der Fantasie seines Schöpfers entsprungen ist? Muss ich als Autor in einer fiktiven Geschichte, die sich hart an der Grenze zum Märchen bewegt, zwingend sämtliche unschönen Umweltbedingungen, die in jener Epoche herrschten, erwähnen? Wer all dies von Karl May fordert, beweist damit vor allem 1: nämlich, dass er von Literatur und deren Zeitbezug keine Ahnung hat. May hat so geschrieben, wie man Ende des 19. Jahrhunderts eben schrieb. Und nicht so, wie wir das 125 Jahre später gerne hätten.

Bevor nun wieder vorschnell von Zensur geredet wird – dass der junge Winnetou in Buchform nicht erscheint, ist eine Entscheidung des Verlags. Der hat vor dem Instagram-Shitstorm kapituliert. Hätte er nicht tun müssen. Auch, wenn sich die nachgeschobene Erklärung sehr edel anhört. Wobei man sich fragt, weshalb all das angebliche Kritische, das diese zwei Bücher beinhalten, erst ganz am Ende auffiel, und das kein Lektor Monate vorher beim Studium des Manuskripts geschnallt hat. So, wie es gelaufen ist, wirkt es wenig glaubwürdig. Wer publiziert, muss negatives Feedback abkönnen. Das gilt für Kolumnisten genauso wie für Ravensburger.

Das Recht auf schlechte Bücher

Das Recht, oberflächlich recherchierte, idealisierte, romantisierende, mit Auslassungen operierende, kitschige etc. etc. Stories zu publizieren, muss auf jeden Fall erhalten bleiben. Niemand wird gezwungen, den alten oder neuen/jungen Winnetou zu lesen oder für diese Bücher gar Geld auszugeben. Das Instrument, sich gegen schlechte Literatur zu wehren, existiert seit der griechischen Antike = Ich schreibe eine gepfefferte Kritik. Der Kritiker muss dann jedoch damit leben, dass andere es abweichend sehen und ihn den Kritiker wegen seiner Ahnungslosigkeit kritisieren. Kritik und Verriss sind lang erprobte Mittel, um Schund öffentlich anzuprangern und völlig legitim. Von Buchstürmerei, die sich des Shitstorms bedient und die Nichtveröffentlichung ungeliebter Werke fordert, halte ich hingegen gar nichts. Zum einen gibt es auch eine Daseinsberechtigung für schlechte Romane, zum anderen ist das, was an bösem Inhalt angeblich drin sein soll, bei unvoreingenommener Prüfung oft gar nicht drin. Bloß, weil alter und junger Winnetou nicht der Realität entsprechen, bedeutet die Romantisierung/Stereotypisierung nicht zwangsläufig, dass damit rassistischen Klischees Vorschub geleistet wird. Es kann auch ganz im Gegenteil zur Identifikation mit den Anliegen der amerikanischen Ureinwohner führen. Die Korrelation Winnetou & Rassismus ist eine ganz schwache; wahrscheinlich überhaupt nicht existent.

Ob es ebenfalls ein Recht für die Veröffentlichung von schlechten Kolumnen gibt, wollen Sie wissen? Selbstverständlich gibt es das. Meine schlechten Kolumnen gibt’s – und das ist das besonders Perfide daran – sogar gratis.

Die Gesetzmäßigkeit des sich gegenseitig hochschaukelnden Bullshits

Die aktuelle Winnetou-Debatte zeigt exemplarisch, wie Streit“kultur“ in den Sozialen Netzwerken funktioniert: Zuerst ein mal brauche ich einen Aufreger. Kann auch was Kleines sein. Ich mein‘, ein Film/Buch über die Kindheit eines Apachen-Häuptlings ist ja nun wirklich kein Riesenthema à la „Wie sollen wir im kommenden Winter unsere Heizkosten bezahlen?“. Dann interpretiere ich da Rassismus, kulturelle Aneignung und Verharmlosung rein, entfache unter der Instagram-Seite des Verlags einen mittelgroßen Shitstorm, in dem ich zum Boykott aufrufe, das Unternehmen knickt schließlich ein und stoppt zähneknirschend zzgl. reumütige Entschuldigung die Auslieferung. Pünktlich 5 Minuten später erhebt sich das Geschrei der Gegenseite, die das komplette Œuvre Mays von alsbaldiger Verbrennung bedroht sieht.

Man kann das als Shitstorm-Folklore oder sich gegenseitig hochschaukelnden Bullshit bezeichnen. Keine der beiden Parteien tut sich einen Gefallen damit, wenn von Anfang an mit Falschbehauptungen operiert wird. Trotzdem wird es in ermüdender Monotonie immer wieder getan. Eine seriöse Diskussion über die Frage „Wie viel Realitätsbezug sollte ein guter (Kinder-) Roman aufweisen?“ wird damit unmöglich. Aber bei den Bullshit-Prügeleien geht es eh nicht um Erkenntnisgewinn oder gar Wahrheitsfindung. Es soll einzig Empörungsdampf produziert und auf den Gegner eingedroschen werden. Der Shitstorm ist nichts anderes, als die Schmähgesänge der Südkurve in den virtuellen Raum verlegt. Und das gilt für ALLE Shitstorms: sowohl die der Hypersensiblen als auch die der Ich-hasse-die-Woken-aus-tiefstem-Herzen-Fraktion.

Bleibt nur zu hoffen, dass sich beim jungen Winnetou nicht allzu viele Ich-fühl-mich-unwohl-Aktivisten mit Sekundenkleber an die Kinostühle dranpappen. In diesem Fall wäre 5 Minuten später mit dem nächsten Kriegsgeheul der Karl-May-Traditionalisten zu rechnen. In Facebook & Co. folgt letztlich alles immer derselben Dramaturgie. Wär’s ein Film, würde man sagen: lasst euch mal was Neues einfallen; ist ständig die gleiche Sülze, die wir hier zu sehen bekommen.

Henning Hirsch

Betriebswirt und Politologe, Comicleser, Filmjunkie, Bukowski- und FC- (es gibt nur einen FC: nämlich den aus Köln) Fan, trockener Alkoholiker. In die Abstinenz startete er mit einem Roman: Saufdruck. Seitdem tippt er abends Kurzgeschichten und Gedichte. Da die Schreiberei alleine nicht satt macht, verdient er tagsüber seine Kaltmiete und die Kühlschrankfüllung mit Marketing & Orga. Henning Hirsch lebt im Bonner Süden und ist Vater von drei Kindern ... Wer mehr von ihm lesen möchte: www.saufdruck.de

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