Kulturelle Aneignung ist auch nichts anderes als geistiger Diebstahl
Nicht alles, was als kultureller Austausch daherkommt, hält bei genauer Betrachtung diesem Urteil stand. Mitunter handelt es sich dann doch bloß um ordinäre Aneignung, um schnelle Kohle mit geklauten Ideen zu scheffeln. Kolumne von Henning Hirsch
Mein werter Kolumnistenkollege Heinrich Schmitz veröffentlichte gestern einen Text, der mit Kulturelle Aneignung und Unwohlsein überschrieben ist, in dem er seine Sichtweise auf den erzwungenen Abbruch eines Reggaekonzerts in der Schweiz schildert.
Um die in Bern vermutete – und in woken Kreisen verfemte – kulturelle Aneignung ins Absurde zu ziehen, listet Heinrich Schmitz in seinem Beitrag ein paar spontan gewählte Beispiele auf: Kann ein Chinese die Fugen von Bach spielen? Durfte Roberto Blanco sich Blanco nennen? Mit welchem Recht setzt sich Billy Mo einen Tirolerhut auf?
Hier werden völlig unterschiedliche Begebenheiten munter durcheinander gewürfelt. Denn auch der Berufsstand der Kulturwächter erkennt durchaus den Unterschied zwischen Aneignung und Austausch, weshalb es von Vorteil ist, diese beiden Phänomene erst mal voneinander zu trennen, bevor man darüber schreibt oder redet. Das linker Identitätspolitik eher unverdächtige Wikipedia definiert den Sachverhalt folgendermaßen:
Mit dem Begriff Kulturelle Aneignung (englisch cultural appropriation) wird die Übernahme eines Bestandteils einer Kultur von Trägern einer anderen Kultur oder Identität bezeichnet. Die ethische Dimension kultureller Aneignung wird in der Regel nur dann thematisiert, wenn die angeeigneten Kulturelemente einer Minderheit angehören, die als sozial, politisch, wirtschaftlich oder militärisch benachteiligt gilt. Die Kultur werde somit in der Tradition historischer Unterdrückung ihrem Kontext entrissen.
Kulturelle Aneignung ist gemäß dieser Definition von kulturellem Austausch abzugrenzen: Bei kultureller Aneignung würden die angeeigneten Bestandteile kultureller Identität zur Ware gemacht und damit trivialisiert. Zudem würden die angeeigneten Kulturelemente oftmals falsch, verzerrt oder übertrieben reproduziert, was zur Förderung von Stereotypen führen kann. Kultureller Austausch dagegen basiert auf Wertschätzung und Respekt und findet meist im Rahmen eines gegenseitigen Kennenlernens der Träger der unterschiedlichen Kulturen statt.
© Wikipedia, Stichwort: Kulturelle Aneignung
D.h. ob es sich um (guten) Austausch oder (böse) Aneignung handelt, hängt von drei Faktoren ab:
(1) Der Diebstahl (oder weniger StGB-relevant ausgedrückt: die Übernahme) geschieht durch die herrschende Mehrheit
(2) Die Aneignung gründet (oft) auf kommerzieller Absicht (-> Simplifizierung des Ursprunggedankens)
(3) Mitunter liegen diffamierende Ursachen zugrunde.
Die Grenzen sind natürlich fließend ,und die Beurteilung des konkreten Falls ist stark subjektiv gefärbt. Dort, wo für den Normalkonsumenten „Austausch“ draufsteht, kann für den Sensiblen bereits „Aneignung“ drin sein.
Reggae: Weltkulturgut oder Jamaikafolklore?
Um beim aktuellen Auslöser „Weiße Band spielt Reggae und die Musiker tragen Dreadlocks“ zu bleiben, müsste man den Vorgang strenggenommen zweiteilen:
(A) Reggae ist mittlerweile Weltkulturgut. Kann überall und zu jeder Uhrzeit gespielt werden. Wie Jazz in Dinkelsbühl, Beethoven auf Bali, Blues spätabends in ner Dortmunder Kneipe und deutsche Schlager auf dem New Yorker Oktoberfest. Reggae gehört allen; wobei es hinsichtlich der Qualität der musikalischen Präsentation natürlich große Unterschiede gibt.
(B) Bei den Dreadlocks hingegen kommt es drauf an: Trägt man die, weil einem die Kultur und das Gedankengut, die sie verkörpern, gefallen, trägt man sie, weil’s einem modisch gerade in den Kram passt oder flicht man sich Zöpfchen, um als weißer Musiker, der grottigen Reggae spielt, zumindest optisch als Urenkel von Bob Marley erkannt zu werden?
Soll heißen: klar kann eine Schweizer Schülerkapelle Reggaesongs auf einer öffentlichen Bühne darbieten; ob die Musiker sich dafür jedoch zusätzlich mit Filzlocken kostümieren müssen, ist zumindest diskutierenswert. Das Argument, Dreadlocks seien ebenfalls universell, da schon die alten Wikinger sich ungerne die Haare wuschen und deshalb Zöpfchen trugen, zieht nicht. Dieses Argument ist genauso dämlich wie den Italienern die Spaghetti abzusprechen, weil die Chinesen ein paar hundert Jahre früher die Glasnudeln kannten. Dreadlocks sind Jamaika, sind Reggae und nichts anderes. Der Eindruck, den Musikern der Band Lauwarm (hoffentlich spielen sie besser, als sie heißen) ginge es v.a. um ein kommerziell stimmiges Gesamtkonzept (Frisur passt zur Musik) und weniger um die Beschäftigung mit der jamaikanischen Kultur, lässt sich nicht ganz von der Hand weisen.
Aber das ist doch völlig legitim, Herr Hirsch, sagen Sie? Natürlich ist es legitim. Dass Kulturelle Aneignung keinen juristischen Straftatbestand darstellt, worauf Heinrich Schmitz in seiner Kolumne zurecht hinweist, darüber brauchen wir nicht ernsthaft zu diskutieren. Eine Sache bzw. Handlung kann jedoch formaljuristisch durchaus okay, aber moralisch betrachtet trotzdem gleichzeitig Scheiße sein. Wie z.B. Ich zeige als Chef einer Praktikantin meinen Schwanz, fordere sie jedoch nicht dazu auf, ihn in den Mund zu nehmen (die Sache mit der Praktikantin hätte ich völlig frei erfunden? Vielleicht).
Was nicht so in Ordnung ist:
Wikipedia listet im o.g. Abschnitt Kulturelle Aneignung ein paar Beispiele formaljuristisch einwandfreier, moralisch jedoch eher bedenklicher kultureller Übernahmen auf:
Bo Derek trägt im Film „10“ (1979) Zöpfe mit eingeflochtenen Muscheln. Frisur geklaut von den Bewohnerinnen der Sahelzone. Der Streifen ist ein Kassenschlager
Jackson Pollock kopiert die Malstile der indianischen Urbevölkerung und wird damit reich
Scarlett Johansson spielt die Hauptrolle in „Ghost in the shell“ (2017) und streicht dafür ne fette Gage ein. Weshalb man für die Figur der Motoko Kusanagi (die komplette Handlung – basierend auf dem Kult-Manga von Masamune Shirow – ist in Tokio angesiedelt) eine weiße Hollywood-Akteurin ausgewählt hat, bleibt das Geheimnis von Produzent und Regisseur.
Das Problem der unzulässigen Aneignung beschäftigt uns schon seit vielen Jahren im Kölner Karneval. Kann ich mein Kind mit gutem Gewissen in ein Indianer- oder Scheichkostüm stecken? mMn ja, denn hier geschieht die Übernahme fremder Kleidung nicht aus Gründen der Kommerzialisierung (okay, der Hersteller von Pfeil & Bogen verdient daran) u/o der Herabsetzung einer anderen Kultur. Es steht vielmehr eindeutig der kindliche Spaß am Kostümieren im Vordergrund. Niemand wird Indianer, weil er die Apachen, Sioux oder Kiowa dissen möchte. Ganz im Gegenteil ist eher Bewunderung für den (Edel-) Mut Winnetous und Sitting Bulls der Auslöser. Beim Blackfacing wird es bereits kritischer (war in meiner Jugend okay; aber Geschichten aus der eigenen Jugend fallen in die Kategorie „anekdotische Evidenz“, wie mir eine strenge Kommentatorin vor einigen Tagen unter einen Beitrag schrieb; weshalb ich hier nichts über meine Jugend schreiben werde), und „Südstädter Negerköpp“ gehen im 21. Jhrd. halt überhaupt nicht mehr. Völlig egal, aus welchem (evtl harmlosen) Beweggrund heraus dieser Name irgendwann in der Karnevalssteinzeit ausgeheckt wurde.
Absurde Beispiele machen den Diebstahl auch nicht ungeschehen
Die Ich-bin-besonders-vernagelt-Fraktion, von der man besonders viele in den sozialen Netzwerken trifft, versucht, das Phänomen der Kulturellen Aneignung mittels absurd gewählter Beispiele ins Lächerliche zu ziehen.
Darf ich als Deutscher noch Pizza essen? (umgekehrt: darf ein Italiener sich in einer neapolitanischen Osteria ein deutsches Bier bestellen?)
Hat Mozart Dreadlocks getragen? (falls ja: müssen dann alle seine Opern vom Spielplan genommen werden?)
Darf ein Schwarzer deutsche Volkslieder trällern?
Solche Fragestellungen beleidigen die Intelligenz, was natürlich voraussetzt, dass man nach jahrelangem massiven Facebook- & Twitter-Missbrauch noch über einen Rest davon verfügt (ja ja, mit meiner eigenen Intelligenz ist es nach 12 Jahren Facebook auch nicht mehr allzu weit her; falls Sie sich jetzt danach erkundigen wollen). Denn etwas zu essen oder zu trinken, was der Nachbar isst oder trinkt, ist nicht dasselbe wie ihm seine Musik zu klauen. Dass Mozart keine Dreadlocks, sondern eine Second-Hand-Rokoko-Perücke trug, darüber ist sich die Wissenschaft einig. Und natürlich darf ein schwarzer Deutscher auch unsere Volkslieder singen (und sich zusätzlich in Lederhose und Trachtenjacke kleiden). Warum auch nicht? Er entwendet uns ja damit nicht unser Liedgut, sondern integriert sich in die Gesellschaft. Das ist was völlig anderes, als den Reggae und die Dreadlocks aus Jamaika zu entführen, um damit woanders Kohle zu machen.
Im Zweifelsfall ist es Austausch. Etwas mehr Gelassenheit wäre nicht verkehrt
Ob man, wenn man Kulturelle Aneignung wittert, nun immer sofort in Alarmismus und Unwohlsein verfallen muss, steht auf einem anderen Blatt. Wem Reggaekonzerte von weißen Musikern nicht gefallen, der sollte da halt nicht hingehen oder alternativ – falls es ihn versehentlich dorthin verschlagen hat – leise den Saal verlassen. Man muss nicht immer alles, was einen persönlich ärgert, gleich verbieten wollen. Zumal die SHG „Ich bin hypersensibel und stolz darauf“ in Blickrichtung auf den Reggae sich eh auf dem Holzweg befindet. Der ist halt nun mal seit Bob Marley Weltkulturgut. Wenn alles untersagt würde, was mir auf den Sack geht, dann gäbe es 90 Prozent der TV-Werbespots und 7 von 10 Fernsehsendungen nicht mehr, da ich die so unfassbar dämlich finde. Weil ich aber ein toleranter (oder aufgrund jahrzehntelangen TV-Konsums abgehärteter/abgestumpfter. Suchen Sie sich gerne aus, was besser zu mir passt. Mir persönlich ist es wurscht) Zeitgenosse bin, zappe ich dann einfach weiter und rufe nicht beim Sender an, er möge bitte sofort den Bergdoktor aus dem Programm entfernen, andernfalls würde ich Anzeige wg. grob-fahrlässiger Volksverblödung stellen. Ein bisschen mehr Gelassenheit täte den Woken gut.
Lange Kolumne, kurzer Sinn: Kulturtransfer, der nicht dem Austausch auf Augenhöhe, sondern der kommerziellen Bereicherung (und damit einhergehend der Trivialisierung des Ursprungsgedankens) dient, gibt es selbstredend. Wer anderes behauptet, hat sich mit dem Thema entweder nicht beschäftigt oder findet Diebstahl halt nicht weiter schlimm (Ausnahme: es handelt sich um die eigenen Sachen. Da wird dann immer umgehend die Polizei gerufen). Ob Diebstahl oder freiwilliger Austausch vorliegt, ist nicht immer klar zu erkennen, die Grenzen sind fließend, weshalb man im Zweifelsfall auf unschuldig plädieren und ein Konzert weißer Reggaemusikanten weiterlaufen lassen sollte. Merke: Ständiger Alarmismus ist ermüdend und schadet einer – an und für sich berechtigen – Sache mehr, als er nützt.
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Und nun werde ich in den Keller gehen und in meinen alten Umzugskartons nachschauen, ob ich da noch die 3 Marley-Alben „Natty Dread“, „Rastaman Vibration“ und „Exodus“ aufstöbern kann. Die hatte ich mir in den 70-ern im damals bestsortierten Plattenladen Kontinentaleuropas – Saturn am Kölner Hansaring – gekauft und habe die Scheiben lange nicht mehr aufgelegt. Das werde ich, nachdem ich hinter diesen Satz den finalen Punkt setze, heute mal wieder tun. PUNKT