Ukrainekrieg und unterlassene Hilfeleistung
Es mehren sich Stimmen, die dem sogenannten Westen, insbesondere aber Deutschland, im Ukrainekrieg unterlassene Hilfeleistung vorwerfen. Aber ist das berechtigt? Und was ist das überhaupt? Eine Kolumne von Heinrich Schmitz
Bild: OpenClipart-Vectors (pixabay)
Der völkerrechtswidrige Krieg gegen die Ukraine wird täglich unerträglicher. Längst reiht sich ein russisches Kriegsverbrechen an das andere. Je weniger die Russen vorankommen, um so brutaler bombardieren sie zivile Ziele, um die Moral der ukrainischen Bevölkerung zu brechen. Es sieht allerdings nicht danach aus, dass das so schnell passieren wird. Dennoch steigen die Opferzahlen täglich und der Druck wird größer. Millionen, überwiegend Frauen und Kinder, sind geflüchtet, während die Männer sich dem Aggressor entgegenstellen.
Selenskyj fordert
Und da ist es kein Wunder, dass der ukrainische Präsident vom Westen Hilfen erbittet, ach was, dass er sie – garniert mit heftigen Vorwürfen – einfordert. Teile seiner Rede vor dem Bundestag:
In drei Wochen des Krieges für unser Leben, für unsere Freiheit haben wir uns davon überzeugt, was wir zuvor gespürt haben – und was Sie vielleicht nicht alle merken. Sie befinden sich wieder hinter einer Mauer. Nicht hinter der Berliner Mauer. Sondern mitten in Europa. Zwischen Freiheit und Unfreiheit. Und diese Mauer wird mit jeder Bombe stärker, die auf unseren Boden fällt – auf die Ukraine. Bei jeder Entscheidung, die nicht für den Frieden getroffen wurde. Die nicht von Ihnen getroffen wurde, obwohl sie helfen könnte.
Und etwas später:
Ich wende mich an euch im Namen aller Ukrainer. Ich wende mich an euch im Namen der Einwohner von Mariupol – Zivilisten einer Stadt, die von russischen Truppen blockiert und praktisch dem Erdboden gleichgemacht wurde. Sie vernichten alles dort. Alles und alle, die dort sind. Hunderttausende Menschen stehen rund um die Uhr unter Beschuss. 24 Stunden am Tag ohne Essen, ohne Wasser, ohne Strom. 24 Stunden ohne Kommunikation. Wochenlang.
Und am Ende der Rede:
Deshalb spreche ich Sie an und sage: Wir brauchen Hilfe, auch für Europa. Europa kann nicht überleben und seine Werte bewahren. Ein ehemaliger Schauspieler, ein Präsident der Vereinigten Staaten, Ronald Reagan, hat mal in Berlin gesagt: „Mister Gorbatschow, tear down this wall!“ Zerstören Sie diese Mauer!
Und das sage ich Ihnen: Lieber Herr Bundeskanzler Scholz, zerstören Sie diese Mauer. Geben Sie Deutschland die Führungsrolle, die Deutschland verdient. Damit ihre Nachfahren stolz auf Sie sind. Unterstützen Sie den Frieden, unterstützen Sie die Ukrainer, stoppen Sie diesen Krieg. Helfen Sie uns, diesen Krieg zu stoppen. Es lebe die Ukraine!
Und ja, es macht einen wütend mitzuerleben, wie in unmittelbarer räumlicher Nähe ein Volk ermordet wird. Haben wir da nicht die verdammte Pflicht einzugreifen und wie Selenskyj fordert, den Krieg zu stoppen? Ist das nicht unterlassene Hilfeleistung unter Staaten?
Der Tatbestand
Schauen wir erst einmal, was unterlassene Hilfeleistung im normalen Strafrecht überhaupt ist.
Die unterlassene Hilfeleistung ist in § 323c Strafgesetzbuch ( StGB) geregelt. Dort heißt es:
§ 323c
Unterlassene Hilfeleistung; Behinderung von hilfeleistenden Personen
(1) Wer bei Unglücksfällen oder gemeiner Gefahr oder Not nicht Hilfe leistet, obwohl dies erforderlich und ihm den Umständen nach zuzumuten, insbesondere ohne erhebliche eigene Gefahr und ohne Verletzung anderer wichtiger Pflichten möglich ist, wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft.
(2) Ebenso wird bestraft, wer in diesen Situationen eine Person behindert, die einem Dritten Hilfe leistet oder leisten will.
Es handelt sich bei der unterlassenen Hilfeleistung um ein echtes Unterlassungsdelikt, d.h. im Gegensatz zu den üblichen Strafvorschriften, die eine Strafbarkeit vorschreiben, weil man etwas Verbotenes tut, wird man hier bestraft, weil man nichts tut.
Die Vorschrift hat eine interessante Geschichte. Die Ursprünge stammen aus § 360 Nr. 10 des preußischen StGB. Allerdings wurde damals nur die Nichtbefolgung einer polizeilichen Aufforderung zur Hilfeleistung bestraft und die Strafe betrug höchstens sechs Wochen Haft. Der Grundsatz, wer nichts tut, kann auch nichts Böses tun, galt da noch uneingeschränkter, denn bestraft wurde damals im Prinzip nur, dass man die Weisung der Polizei missachtet hatte, nicht, dass man nichts gegen die Notlage getan hatte. Hätte es keine Aufforderung zur Hilfeleistung gegeben, dann wäre man auch nicht bestraft worden.
Volksempfinden
Das änderte sich 1935. Da wurde dann unter der Vorschrift § 330c die Nichtbefolgung einer auf „gesundem Volksempfinden“ beruhenden Hilfeleistungspflicht- auch ohne polizeiliche Aufforderung mit bis zu zwei Jahren Gefängnis bestraft.
Erstaunlicherweise galt diese Vorschrift trotz MRG Nr. 1 Art. III Nr. 4 und Art. IV Nr. 7 fort, da der BGH meinte, die Formulierung „gesundes Volksempfinden“ verweise lediglich auf das nach rechtsstaatlichen Maßstäben zu interpretierende Erfordernis der Zumutbarkeit der Hilfeleistung. Nun ja. Die Justiz war da noch mit dem Begriff des „gesunden Volksempfindens“ recht vertraut. Und viele Richter hatten schon im Dritten Reich Karriere gemacht, ohne dafür je zur Rechenschaft gezogen worden zu sein.
Erst 1953 bekam die Vorschrift die heutige Fassung und 1980 eine neue Ziffer im StGB.
Von der Vorschrift geschützt werden viele verschiedene Rechtsgüter, die bei aktivem Tun auch durch andere Strafvorschriften erfasst werden, also Leben, Gesundheit, Eigentum usw.
Kein guter Mensch
Was durch die Vorschrift aber nicht geschützt wird, ist ein irgendwie geartetes allgemeines Rechtsgut der Nächstenliebe oder der mitmenschlichen Solidarität. Niemand muss sich mitmenschlich oder nächstenliebend verhalten. Jedenfalls wird niemand dafür bestraft, dass er kein guter Mensch ist. Das ist für Staaten nicht anders. Staaten haben keine Gefühle, sie haben Interessen und Verantwortung für das Leben und die Sicherheit ihrer Bürger. Und weder die USA noch die NATO haben eine rechtliche Verpflichtung irgendwo einzugreifen, sofern nicht der Bündnisfall eingetreten ist.
Damit Tatbestand der unterlassenen Hilfeleistung greift, müssen erst einmal die Tatbestandsmerkmale erfüllt sein.
Notlage
Das beginnt mit einer Notlage. Die kann man im Kriegsfall zwanglos annehmen. Aber das alleine reicht ja nicht.
Liegt eine Notlage vor, dann müssen Sie helfen, aber eben nur im Rahmen des Zumutbaren. Wenn Sie als Nichtschwimmer an einem See spazieren gehen und jemand ruft, „Hilfe, ich ertrinke“, dann müssen Sie nicht ins Wasser springen, wenn Sie gar nicht schwimmen können. Das wäre zwar höchst solidarisch, aber ebenso idiotisch. Helden zeichnen sich dadurch aus, dass sie bereit sind, zu sterben, damit andere leben, aber eben nicht dadurch, dass sie so blöde sind, in einer ausweglosen Situation freiwillig zu sterben, ohne dass das irgendjemandem nutzen würde. Natürlich kann man in einer solchen Situation ja trotzdem helfen, z.B. indem man einen Rettungsreifen wirft.
Die Frage ist also, ob es „dem Westen“ möglich wäre, „den Krieg zu stoppen“ , ohne in erhebliche eigene Gefahr zu geraten. Die bisher unternommenen Anstrengungen, seien es Sanktionen, seien es Waffenlieferungen, sei es die Aufnahme von Flüchtlingen, kosten zwar Geld und Mühen, aber sie können mit Ausnahme effektiver Waffenieferungen den Krieg nicht wirklich stoppen. Sie können Russland schwächen, aber keinen Panzer und keine Rakete aufhalten.
Dazu bräuchte es ein militärisches Eingreifen. Und es müsste sicher sein, dass dieses Eingreifen den Krieg tatsächlich stoppt und nicht Putin zum vielleicht ganz willkommenen Anlass für einen dritten Weltkrieg dient. Der feine Herr Putin aka lupenreiner Demokrat hat bereits kaum verklausuliert mit dem Einsatz seiner Atomwaffen gedroht. Dass er damit nicht nur ganz Europa, sondern auch die USA treffen und pulverisieren kann, ist nichts wirklich Neues.
Die Vorstellung, dass jemand dieses Höllenfeuer tatsächlich entfesseln könnte, hatte man seit Hiroshima und Nagasaki bis vor ein paar Wochen ganz weit weg geschoben. Diese Waffen wurden vielmehr als wechselseitige Garantie für einen zwangsläufigen Verzicht auf größere kriegerische Auseinandersetzungen betrachtet. Das ist nun anders. Das sieht auch der UN-Generalsekretär António Guterres so.
Wenn Putin von der NATO und sei es auch „nur“ auf dem Gebiet der Ukraine attackiert wird, dann wird er sich eingestehen müssen, dass dieser Krieg für ihn nicht zu gewinnen ist. Und dann ist es eben nicht unwahrscheinlich, dass er in einem letzten irren Akt die Welt in Brand setzen wird. Und klar ist auch, dass „der Westen“ darauf seinerseits nicht mit Wattebäuschen reagieren wird, sondern mit gleicher Münze zurückzahlen müsste. In einem solchen Krieg gibt es keine Sieger mehr.
Ein solches Szenario dadurch zu verhindern, dass man nicht mit stolz geschwellter Brust selbst mitten ins Kriegsgeschehen hineingeht, ist keine unterlassene Hilfeleistung, es ist ein kluges und verantwortungsvolles Verhalten. Wer so etwas fordert, hat ein Rad ab . In einem diesmal wirklich „totalen Krieg“ gäbe es auch keine Ukraine mehr. Es gäbe weder ein Westeuropa wie wir es kennen, noch gäbe es ein Russland. Es blieben gewaltig atomar verseuchte Gebiete, in denen sich ein paar wenige Menschen durchschlagen würden, bis auch sie vom Krebs getötet würden. Nur die Kakerlaken hätten ihren Spaß.
Dem Planeten würde das vermutlich auf Dauer nicht viel ausmachen, der Menschheit schon.