Sieg oder Scheitern? Zum Werdegang und Werk von Fjodor Dostojewski

Thomas Mann bezeichnete Fjodor Dostojewski, dessen 200. Geburtstag zurzeit weltweit gefeiert wird, als „den Dante des (Ostens)“. Friedrich Nietzsche schrieb seinerseits Folgendes über den von ihm bewunderten Schriftsteller: „Ich schätze (Dostojewski) … als das wertvollste psychologi-sche Material, das ich kenne“. Vor allem die seherischen Fähigkeiten des Schriftstellers werden von vielen Dostojewski-Interpreten bewundert. Aber auch manche Fehleinschätzungen und fragwürdige Äußerungen Dostojewskis werden oft angesprochen. Mit dieser Widersprüchlichkeit, die das Werk und den Werdegang des Jubilars auszeichnet, befasst sich die folgende Kolumne von Leonid Luks.

Fjodor Dostojewski, Quelle: wikimedia (gemeinfrei)

Dostojewski als Seher

Kaum ein anderer Künstler oder Denker des 19. Jahrhunderts sagte die katastrophalen Entwicklun-gen des 20. Jahrhunderts mit einer solchen Genauigkeit voraus, wie dies Dostojewski tat. Der russische Philosoph Simon Frank schrieb 1931 Folgendes über die prognostischen Fähigkeiten Dostojewskis:

„Dostojewski kannte weder (die) praktische Auswirkung (des Marxismus) im russischen Bolschewismus noch Nietzsche, er hatte aber eine ganz klare Vorahnung beider Richtungen und nahm ihre Ideen und Konsequenzen in seinen Werken vorweg“.

Als Beispiel für eine Art nietzscheanischer Versuchung dient Frank „Die Legende vom Großinquisitor“, die Iwan Karamasow – einer der Helden des Romans „Die Brüder Karamasow“ – erzählt. Das Handeln des Großinquisitors symbolisiert für Frank den Versuch der sogenannten „Übermenschen“, die Menschen in eine Herde gehorsamer Sklaven zu verwandeln, ihnen jegliche Eigenständigkeit und Freiheit und damit ihre Menschenwürde zu nehmen. Dann führt Frank aus: „Die in der Legende enthaltene Kritik betrifft überhaupt die Absicht der ständig in der Menschheit … wiederkehrenden Utopie, die Verantwortung für das Schicksal der Gemeinschaft auf eine ausgewählte weise Führerschaft zu übertragen und das Glück der Menschheit durch eine despotische Gewalt über eine verantwortungslose, zu sklavischem Gehorsam erzogene Menge zu erreichen“.

Aber Dostojewski wandte sich bekanntlich nicht nur gegen das Führerprinzip, das die rechtsextremen Bewegungen des 20. Jahrhunderts prägen sollte, sondern auch gegen den linken Utopismus, der von der totalen Gleichheit und von der schrankenlosen Freiheit träumte. So entwirft einer der Helden des Romans „Die Dämonen“ Schigaljow, eine Utopie, in der er zunächst von einer uneingeschränkten Freiheit ausgeht, um dann bei einer uneingeschränkten Despotie anzukommen. Am Beispiel Schigaljows und vieler anderen Protagonisten der „Dämonen“ entlarvte Dostojewski den zerstörerischen Charakter des Glaubens vieler Vertreter der russischen Intelligenzija an die heilende Kraft der Revolution und erkannte, welch verheerende Folgen ein derartiges Denkmodell haben kann.

Die fanatische Hingabe, mit der die Verfechter der Revolution ihren Idealen dienten, ihren bedingungslosen Glauben an das künftige soziale Paradies auf Erden betrachtete Dostojewski als eine pervertierte Religiosität, als eine Art Götzenverehrung. Der Sozialismus wies für ihn nur vordergründig Merkmale einer gesellschaftlich-politischen Lehre auf. Weit wichtiger als sein politischer Anspruch sei sein Streben, eine Alternative zum Christentum zu werden.
Diese Definition beanspruchte zwar eine universale Geltung, dennoch beschrieb sie in erster Linie die russischen und nicht die westlichen Zustände. Die Unbedingtheit und die Absolutheit, die den revolutionären Glauben der russischen Intelligenzija auszeichneten, seien im Westen praktisch unbekannt gewesen, so der Kölner Historiker Theodor Schieder.

In den „Dämonen“ wandte sich Dostojewski indes nicht nur gegen den sozialistischen, sondern auch gegen den nationalistischen Götzen. Der Autor verwickelt den Protagonisten der Idee von der Auserwähltheit der russischen Nation, Schatow, in einen Disput mit dem Haupthelden des Romans Stawrogin, der Schatow Folgendes vorwirft: „(Sie haben) Gott bis zu einem bloßen Attribut der Nationalität herabgezogen“. „Im Gegenteil“, antwortet Schatow, „ich hebe das Volk bis zu Gott empor … Das Volk – das ist der Körper Gottes. Jedes Volk ist ja doch nur so lange ein Volk, wie es noch seinen besonderen Gott hat und alle übrigen Götter auf Erden unbestechlich ablehnt, solange es daran glaubt, dass es mit seinem Gott alle anderen Götter besiegen und aus der Welt vertreiben werde … Ein Volk, das diesen Glauben an sich einbüßt, ist bereits kein Volk mehr. Aber es gibt nur eine Wahrheit und folglich kann nur ein einziges Volk den wahren Gott haben … Das einzige ´Gottträgervolk´ ist – das russische Volk“. Und als Stawrogin Schatow nach dieser Tirade fragte, ob er an Gott glaube, antwortete der konsternierte Schatow: „Ich … , ich werde (an Gott) glauben“.

Dostojewskis Traum von einem „Gottträgervolk“

Um so unbegreiflicher ist angesichts dieser schonungslosen Desavouierung der nationalistischen Verirrung seines Romanhelden die Ideologie, die Dostojewski selbst in seinem publizistischen Werk vertrat. In vieler Hinsicht erinnert sie an das Schatowsche Konzept. Denn die immer tiefere soziale und nationale Kluft, die Russland spaltete, hoffte Dostojewski mit Hilfe des nationalen Sendungsgedanken zu überwinden. Im Januar 1877 stellt er in seinem „Tagebuch eines Schriftstellers“ folgendes Postulat auf:

Jedes große Volk glaubt und muss glauben, wenn es nur lange am Leben bleiben will, dass in ihm, und nur in ihm allein, die Rettung der Welt liegt, dass es bloß lebt, um an die Spitze aller Völker zu treten, sie alle in das eigene Volk aufzunehmen und sie, in harmonischem Chor, zum endgültigen und vorbestimmten Ziel zu führen.

Dieser Glaube, der das alte Rom, Frankreich und Deutschland ausgezeichnet hätte, setzt Dostojewski seine Gedankengänge fort, präge natürlich auch das russische Volk, vor allem die Slawophilen, die daran glaubten, dass „Russland zusammen mit allen Slawen, und es selbst an ihrer Spitze, der ganzen Welt das größte Wort sagen werde, das die Menschheit jemals vernommen hat“.

Große Hoffnungen verknüpfte Dostojewski mit dem Anfang 1877 ausgebrochenen russisch-türkischen Krieg, den der Göttinger Historiker Reinhard Wittram als den ersten und einzigen panslawistischen Krieg Russlands bezeichnet hatte. Dostojewski hoffte, dass dieser Krieg, den die Unterdrückung der südslawischen Aufstände durch die Osmanen ausgelöst hatte, die zerrissene russische Gesellschaft einigen würde:

Wir brauchen diesen Krieg auch für uns selbst: nicht nur für unsere von Türken gequälten ´slawischen Brüder´ erheben wir uns, sondern auch zur eigenen Rettung.

Den westlichen Widersachern Russlands schleuderte Dostojewski entgegen:

Und der Anfang des gegenwärtigen volkstümlichen Krieges hat dort wohl allen, die zu sehen verstehen, deutlich die geschlossene Ganzheit und die Frische unseres Volkes gezeigt…. Sie übersahen das ganze russische Volk als lebendige Kraft und übersahen die kolossale Tatsache: das Einssein des Zaren mit seinem Volke! Ja, nur das ist ihnen entgangen!

Es ist verblüffend, wie sehr der Visionär Dostojewski, der in seinem literarischen Werk mit einer beispiellosen Schärfe die Tragödien des 20. Jahrhunderts vorausgesehen hat, in seinem publizistischen Werk hinter den Entwicklungen der Gegenwart hinterherhinkte. Er ließ sich durch die Fassade der nationalen Geschlossenheit, die den Krieg von 1877/78 begleitete, täuschen und übersah das tatsächliche Ausmaß der damaligen Zerrissenheit der Nation.

Dostojewski über die „jüdische Frage“

Nun einige Worte zur Einstellung Dostojewski zur jüdischen Frage, die viele seiner Bewunderer vor den Kopf stößt. Besonders ausführlich äußert sich Dostojewski dazu in seinem „Tagebuch eines Schriftstellers“ vom März 1877. Zu Beginn seines Textes schreibt Dostojewski, dass manche seiner jüdischen Leser ihn der Judenfeindschaft bezichtigten. Diese Beschuldigung weist Dostojewski mit Entrüstung zurück, was ihn aber nicht davon abhält, sofort danach einen massiven Angriff gegen das Judentum und den „jüdischen Charakter“ als solchen zu beginnen. So spricht Dostojewski von der Weigerung der Juden, sich mit den anderen Völkern zu verschmelzen, und bezeichnet sie deshalb als Fremdkörper in jeder sie umgebenden Nation. Dass die Juden im Laufe von Jahrtausenden, ungeachtet aller Verfolgungen, denen sie in der Diaspora ausgesetzt waren, ihre Eigenart bewahren konnten, erklärt Dostojewski damit, dass sie innerhalb jeder Nation einen „Staat im Staate“ bildeten. Damit knüpft er indirekt an die Thesen des zuerst 1869 in Wilna veröffentlichten und später mehrmals neuaufgelegten Machwerks „Das Buch vom Kahal“ an, das der jüdische Apostat Jakow Brafman verfasst hatte und das als eine Art Vorläufer der gefälschten „Protokolle der Weisen von Zion“ gilt.

Die angebliche Idee vom jüdischen „Staat im State“ zeichnet sich nach Ansicht Dostojewskis durch folgende Merkmale aus: „(Die) zum religiösen Dogma erhobene Entfremdung und Absonderlichkeit, die Unverschmelzbarkeit, der Glaube daran, dass es in der Welt bloß eine nationale Persönlichkeit – den Juden – gibt, die anderen aber, wiewohl sie existieren, als nicht existent anzusehen sind. …. ´Glaube an den Sieg über die ganze Welt, glaube, dass alles dir untertan sein wird. Kehre dich streng von allen ab und pflege mit niemandem alltäglichen Umgang. Und selbst wenn du dein Land und deine politische Persönlichkeit verlierst, selbst dann, wenn du über das ganze Antlitz der Erde unter allen Völkern zerstreut sein wirst, sollst du dennoch an das glauben, was dir ein für allemal verheißen ist…. (Vorläufig) aber lebe, sondere dich ab, halte zusammen, beute aus und – warte, warte .“

Noch zu Beginn seines Artikels wehrt sich Dostojewski vehement, wie bereits gesagt, gegen die Beschuldigung, er sei ein „Hasser der Juden“, um dann im gleichen Artikel Folgendes über die Juden zu sagen:

(Der Jude hat) stets, wo auch immer er sich niederließ, das Volk noch mehr erniedrigt und verdorben, die Menschheit noch mehr niedergedrückt, das Niveau der Bildung herabgesetzt und zur Verbreitung der ausweglosen, unmenschlichen Armut … beigetragen. Man befrage die Stammbevölkerung in unseren Randgebieten: was bewegt den Juden und was hat ihn so viele Jahrhunderte lang in Bewegung gehalten? Man erhält die einstimmige Antwort: Unbarmherzigkeit; einzig und allein Unbarmherzigkeit uns gegenüber und das Streben, sich an unserem Schweiß und Blut zu sättigen, haben ihn so viele Jahrhunderte hindurch in Bewegung gehalten.

Die im Siedlungsrayon im Westen des russischen Imperiums zusammengepferchten Juden, denen durch eine Reihe diskriminierender Gesetze sowohl die Bewegungsfreiheit als auch die freie Berufswahl untersagt waren, werden von Dostojewski nicht als Verfolgte, sondern als erbarmungslose Verfolger dargestellt. Aber die Juden werden von Dostojewski nicht nur als Beherrscher der schwach entwickelten Westgebiete des Zarenreiches, sondern auch als Gebieter des hochentwickelten Westens stilisiert. Der gottlose Materialismus und der zügellose Egoismus hätten sich im Westen als dominierende Prinzipien durchgesetzt. Zu dieser Entwicklung hätten die Juden einiges beigetragen und sie profitierten von ihr am meisten:

Nicht umsonst herrschen dort denn auch überall die Juden auf den Börsen, nicht umsonst … sind sie die Beherrscher des Kredits und … der ganzen internationalen Politik; und was noch weiter kommt: es naht ihre Herrschaft; ihre unumschränkte Herrschaft! Es steht der volle Triumph der Ideen bevor, denen die Gefühle der Menschenliebe, des Strebens nach der Wahrheit, die christlichen und nationalen Gefühle, selbst die des nationalen Stolzes der europäischen Völker zum Opfer fallen werden.

Diese Entwicklung setzt Dostojewski mit dem Siegeszug der sogenannten „jüdischen“ Idee gleich, die „an Stelle des ´missratenen´ Christentums die ganze Welt umfasst“. Gelegentlich werden die antijüdischen Ressentiments Dostojewskis mit seiner allgemeinen Xenophobie in Verbindung gebracht. In seinen literarischen und publizistischen Werken wimmelt es bekanntlich von Charakteren, die er aus nationalen oder religiösen Gründen in die Kategorie der Feinde des Russentums einordnet und mit einer außerordentlichen Boshaftigkeit karikiert – Polen, Franzosen gelegentlich Deutsche, Katholiken, usw. Dennoch handelt es sich bei der Ablehnung der Juden, und zwar nicht nur bei Dostojewski, in der Regel um mehr als Fremdenfeindlichkeit. Die Juden werden oft als das Böse an sich geschildert, das für beinahe alle Übel dieser Welt verantwortlich sei. Man sollte sich in diesem Zusammenhang z. B. auch an den deutschen Antisemitismusstreit erinnern, den Heinrich von Treitschke 1879 durch seinen unsäglichen Spruch: “Die Juden sind unser Unglück!“ auslöste, oder an die Dreyfusaffäre in Frankreich.

Die Judenfeindlichkeit beinhaltet also mystische und mythische Züge, die in den Xenophobien anderer Art in der Regel fehlen. Eine besondere Intensität erreicht aber die Judenfeindschaft bei den Verfechtern von messianischen Ideen jeder Art, die sich mit dem Gedanken von der jüdischen „Auserwähltheit“ auf keinen Fall abfinden wollen. Diese in der Heiligen Schrift enthaltene Botschaft stellt für sie ein permanentes Ärgernis dar. Um sich der „jüdischen Konkurrenz“ zu entledigen, versuchen sie, vieles zu verdrängen, z.B. die Tatsache, dass die Menschheit den Juden immerhin sowohl die zehn Gebote als auch die Bergpredigt verdankt. Die Folgen dieses Verdrängungsprozesses sind höchst merkwürdig, denn die Juden gelten für ihre messianisch gesinnten Widersacher immer noch als ein „auserwähltes Volk“, allerdings nicht mit einem Plus-, sondern mit einem Minus-Zeichen davor; sie werden zum Inbegriff des Unschöpferischen und des Infernalischen stilisiert.

Auch bei Dostojewski waren die antijüdischen Ressentiments eng mit seinem unerschütterlichen Glauben an eine besondere Mission des russischen Volkes verknüpft. Der Sendungsgedanke, den er bei den Juden als Zeichen einer unermesslichen Arroganz betrachtete, wurde von ihm im Zusammenhang mit dem Russentum mit einem ungewöhnlichen Pathos verkündet.

Dostojewski als Ideologe des russischen Konservatismus

Die antijüdische Haltung Dostojewskis war indes nicht nur durch den messianischen Zug in seinem Denken bedingt. In ihr spiegelte sich auch die damalige krampfhafte Suche der russischen Konservativen nach einer Ideologie wider, die das Volk gegen die revolutionäre Agitation der radikalen Regimegegner immunisieren sollte.

Im Russland fand damals eine beispiellose Polarisierung der Gesellschaft statt, die im Grunde einen vorweggenommenen Bürgerkrieg darstellte. Die russischen Liberalen, die nach der Niederlage des Landes im Krimkrieg ein gewaltiges Reformwerk in die Wege geleitet hatten, verloren nun allmählich die Kontrolle über die Ereignisse. Die revolutionär gesinnten Teile der russischen Öffentlichkeit wollten sich an diesen Reformen nicht beteiligen. Nicht eine allmähliche Veränderung des bestehenden Systems, sondern seine gänzliche Abschaffung war ihr Ziel.

Die zunehmende Radikalisierung einiger Teile der russischen Bildungsschicht brachten viele russische Konservative mit den liberalen Experimenten des Zaren Alexander II. (1855-1881) in Verbindung. Die Reformen hätten zur Aufweichung der staatlichen Kontrollmechanismen geführt und die Grenzen zwischen dem Erlaubten und Unerlaubten verwischt. Ungeachtet ihrer Empörung über die Folgen der Reform hatten die Konservativen dennoch einen Trost. Sie waren nämlich davon überzeugt, dass das einfache russische Volk von den liberalen Experimenten nichts wissen wolle und im Gegensatz zur Intelligenzija absolut zarentreu sei. Und damit hatten sie zumindest in Bezug auf die Epoche Alexanders II. teilweise Recht. So konnte sich z.B. die revolutionäre Bewegung der Narodniki (Volkstümler) von der immer noch vorhandenen Zarentreue der russischen Bauern in den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts überzeugen. Viele Narodniki begaben sich damals aufs Land (gingen „ins Volk“), um die Bauern gegen das Regime aufzuwiegeln. Da sie aber bei ihrer Agitation den Zaren beleidigten, wurden sie nicht selten von den Bauern der Polizei ausgeliefert – dies ungeachtet der Tatsache, dass die russische Bauernschaft auch nach der Abschaffung der Leibeigenschaft im Jahre 1861 mit ihrer sozialen Lage äußerst unzufrieden war.

Dem Zusammenschluss der beiden rebellisch gesinnten Gruppen stand der tiefverwurzelte politische Konservatismus der Bauernschaft im Wege. Und diese Kluft versuchten konservative Verteidiger der russischen Autokratie zu verewigen. Es war ihnen klar, dass das Schicksal des Regimes davon abhing, wer den Kampf um die „Seele des Volkes“ gewinnen würde. Eine immer wichtigere Rolle sollte in diesem Kampf um die Anbindung der Volksschichten an das Regime die antijüdische Komponente spielen. Immer stärker war die Neigung der Konservativen, die immer schärferen sozialen und politischen Konflikte im Lande wie auch manche außenpolitische Rückschlage, die das Zarenreich hinnehmen musste (Berliner Kongress 1878), mit der Tätigkeit des internationalen Judentums in Verbindung zu bringen.

Auch Dostojewski, der in den 1870er Jahren zu einem der wichtigsten Ideologen des russischen Konservatismus werden sollte (dies trotz seiner revolutionären Vergangenheit, die ihn mehrere Jahre Haft und Verbannung gekostet hatte), neigte zu solchen Thesen. Ungeachtet der Tatsache, dass die Juden in der revolutionären Bewegung der 1870er Jahre so gut wie keine Rolle spielten, begann Dostojewski in manchen seiner Stellungnahmen ihre Bedeutung immer stärker hervorzuheben. Besonders deutlich spiegelte sich dieses Interpretationsmuster in seinem Brief an den Herausgeber der Zeitschrift „Graschdanin“ (Der Staatsbürger) Putsykowitsch vom 29. August 1878 wider. Dostojewski schreibt:

Odessa, die Stadt der Juden, wurde zum Zentrum unseres kämpferischen Sozialismus. In Europa verhalten sich die Dinge genauso: Die Beteiligung der Juden am Sozialismus ist ungeheuerlich …. Und das ist verständlich: Jede radikale Erschütterung und jeder Umsturz im Staate ist für den Juden von Vorteil, weil er selbst einen Staat im Staate bildet,…den nichts erschüttern kann, der aber immer von jeder Schwächung der (nichtjüdischen Welt) profitiert.

Auch diese Argumentation zeigt, welch ein Abgrund das schriftstellerische Werk Dostojewski von seinem publizistisch-politischen Schrifttum trennt. Die Revolution, die in seinen großen Romanen die Form eines beinahe transzendenten Mysteriums annimmt und als Folge der menschlichen Hybris, des Abfalls vom Glauben an Gott, gilt, wird in seinen politischen Stellungnahmen mit Hilfe einer Verschwörungstheorie erklärt.

Vergleichbare Mythen wurden damals bekanntlich auch in vielen anderen europäischen Ländern verbreitet – so der Mythos von der „jüdischen Presse“, die die Sitten zersetze oder der Mythos von den „jüdischen Gotteslästerern“, die die angeblich so frommen Christen zur Abkehr von ihren überlieferten Glaubensvorstellungen inspirierten, wie auch die Legende vom „jüdischen Sozialismus“, der die angeblich „obrigkeitstreuen“ Unterschichten zum Kampf gegen ständische Privilegien und soziale Missstände anstachele.

Letztendlich sollte Dostojewski mit seinem politischen Programm scheitern. Als Schriftsteller und Visionär wurde er zwar allgemein bewundert. Die sogenannte „religiös-philosophische Renaissance“, die in Russland zu Beginn des 20. Jahrhunderts stattfand, wurde nicht zuletzt durch sein literarisches Werk inspiriert. Ein vergleichbarer Erfolg war aber seinen politischen Ideen und denjenigen seiner konservativen Gesinnungsgenossen nicht beschieden. Die bewahrenden Kräfte im Lande waren, ungeachtet ihrer Versuche, mit Hilfe eines nationalistischen und judenfeindlichen Kurses „Volksnähe“ zu erreichen, nicht imstande, den Siegeszug ihrer revolutionären Widersacher aufzuhalten. Dies offenbarte sich insbesondere zu Beginn des 20. Jahrhunderts, als die russischen Unterschichten ihr langes „Schweigen“ brachen und vom Sog der politischen Leidenschaften erfasst wurden. Der Glaube an den Zaren wurde bei ihnen nun in einem immer stärkeren Ausmaß durch den Glauben an die Revolution abgelöst. Die unermüdliche Aufklärungsarbeit der Intelligenzija sei nun vom Erfolg gekrönt, schrieb 1908 ironisch der russische Philosoph Sergej Bulgakow. Das Volk habe sich der Weltanschauung der Intelligenzija angeschlossen, es habe das „Bewusstsein“ erlangt. Dieser Erfolg der Intelligenzija könne aber für Russland unabsehbare Folgen haben.

Die russischen Unterschichten, die die konservativen Ideologen des Zarenreiches, nicht zuletzt Dostojewski, für die wichtigste Stütze des Zarenregimes hielten, erwiesen sich letztendlich als dessen größte Bedrohung. Bei den Wahlen zur ersten und zur zweiten Staatsduma, die in Russland 1906 und 1907 stattfanden (infolge der Revolution von 1905 wurde in Russland die Gewaltenteilung eingeführt), wählte die russische Bauernschaft beinahe geschlossen regimekritische bzw. revolutionäre und nicht-konservative Parteien. Dem politischen Traum Dostojewskis und seiner Mitstreiter von der Einheit des Volkes mit dem Zaren wurde nun endgültig die Grundlage entzogen.

Dostojewski und die „Krise des Humanismus“

Alle Rezepte, die Dostojewski entwickelte, um das Abgleiten Russlands in die revolutionäre Katastrophe zu verhindern, sollten sich als unwirksam erweisen. Dostojewski war eben kein begnadeter Therapeut. Darüber war sich z.B. der russische Philosoph Nikolaj Berdjajew, der ansonsten Dostojewski bewunderte, im Klaren. In seinem 1918 verfassten Artikel schreibt Berdjajew:

„Dostojewski war Verfechter des religiösen Volkstümlertums. Diese seine Ideologie war aber (wenig überzeugend) und widersprach seinen genialen seherischen Gaben…. Dostojewski hat sich eindeutig geirrt. Das russische Volk verfügte über kein Gegengift gegen die Religion des gottlosen Sozialismus, mit der die russische Intelligenzija das Volk infizierte“.

Warum gehört dann Dostojewski, trotz dieses eindeutigen politischen Scheiterns, zu den einflussreichsten Schriftstellern der Weltliteratur, und zwar bis zum heutigen Tag?
Eine Antwort auf diese Frage kann man u.a. bei dem eingangs erwähnten russischen Philosophen Simon Frank finden, der in seinem 1931 erschienenen Artikel „Die Krise des Humanismus. Eine Betrachtung aus der Sicht Dostojewskis“ Folgendes schreibt:

„Es ist auf den ersten Blick seltsam, und doch leicht erklärlich, dass der sozusagen ‚russischste‘ aller russischen Dichter und Denker, der für den westeuropäischen Kulturmenschen im Allgemeinen sehr wenig Verständnis hatte,…dass Dostojewski am meisten Anziehungskraft auf den Westeuropäer ausgeübt hat… Seine Gestalten … sind schließlich ebensowenig ‚russisch‘ oder ‚östlich‘ als ‚westlich‘. Die im Westen oft vorkommende Meinung, diese Gestalten seien genaue Schilderungen der sogenannten russischen Seele, ist so oberflächlich naiv, dass ihre Widerlegung sich hier erübrigt. Es handelt sich bei Dostojewski überhaupt nie um die empirische, sondern stets um die metaphysische Realität… Und eben durch seine merkwürdigen Entdeckungen in diesem verborgenen Wurzelgebiet des menschlichen Geistes wurde Dostojewski … auch für die westliche Welt so bedeutsam, dass man seinen Ideengehalt zu den wichtigsten Errungenschaften der geistigen Entwicklung der europäischen Menschheit rechnen darf“.

Und in der Tat. Die metaphysischen Grenzerfahrungen, die den Figuren Dostojewskis zuteil werden, haben keine spezifisch russische, sondern eine universelle Bedeutung. Vor allem in Zeiten von tiefen politischen und sozialen Krisen erhalten solche Erfahrungen eine besondere Relevanz. Dann bricht das „Zeitalter Dostojewskis“ an. So führte Nikolaj Berdjaev 1921 das immer größer werdende Interesse der Westeuropäer für Dostojewski darauf zurück, dass sich nun auch im Westen die Katastrophe anbahne, die in Russland bereits stattgefunden habe. Und der österreichische Schriftsteller Hugo von Hofmannstahl fügte im gleichen Jahr hinzu, dass Dostojewski nun drohe, Goethe von seinem Sockel zu stürzen.

Leonid Luks

Der Prof. em. für Mittel- und Osteuropäische Zeitgeschichte an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt wurde 1947 in Sverdlovsk (heute Ekaterinburg) geboren. Er studierte in Jerusalem und München. Von 1989 bis 1995 war er stellvertretender Leiter der Osteuropa-Redaktion der Deutschen Welle und zugleich Privatdozent und apl. Professor an der Universität Köln. Bis 2012 war er Inhaber des Lehrstuhls für Mittel- und Osteuropäische Zeitgeschichte an der KU Eichstätt-Ingolstadt. Er ist Geschäftsführender Herausgeber der Zeitschrift Forum für osteuropäische Ideen- und Zeitgeschichte.

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