Der letzte Weg

Beerdigungen sind nicht sein Ding. Eine Kolumne von Uwe Fischer


Ich war in meinem Leben immer wieder auf Friedhöfen, selten aber anlässlich einer Beerdigung. Gerade alte Friedhöfe finde ich faszinierend, die schon fast rücksichtsvolle Ruhe, im Angesicht alter Gräber mit ihren steinernen Zeugnissen das Gefühl unvergänglicher Vergänglichkeit. Der Blick gleitet leise, immer darauf bedacht, die ewige Ruhe nicht zu stören, über Namen und gleiche Namen, über lange und knapp bemessene Lebensspannen. Kinder, die lange vor ihren Eltern gingen, Ehepartner, die in kurzer Zeit einander gefolgt sind. Gepflegte Grabstätten, über viele Jahre behütet und geehrt, daneben verfallene und überwucherte, einsam und verlassen, nachdem Jahre zuvor die dortigen Bewohner das Irdische verlassen haben. Ein Hauch von Mitleid und Traurigkeit befällt mich beim Anblick dieser Gräber, ein langes Leben wurde gelebt und selbst ein Leben in der Erinnerung ist längst dem menschlichen Staub der ungepflegten Ruhestätte gefolgt.

Maria Wald

Auf meinen Streifzügen durch die Eifel erkundete ich auch den Wald, der zum Kloster Maria Rast gehört. Der Wald selbst ist für Eifelverhältnisse nicht gerade spektakulär, spannend waren für mich zwei Entdeckungen. Da war einmal ein mächtiger, steinerner Torso vor einem Torbogen, beides nahezu verfallen, in den Strukturen aber noch gut erkennbar – das Teufelstor. Weder die sonst gut informierten Historiker der Region noch eine der auf dem Klostergelände, in einem alten Forsthaus lebende Nonne, Abkömmling des Adelsgeschlechts der Familie, der dieser Wald gehört, konnten (oder wollte, im Falle der Nonne?) etwas über den Ursprung und die Bedeutung dieses Teufelstores berichten.

Geht man ein wenig weiter, stößt man auf einen halb verfallenen Privatfriedhof mitten im Wald. Ein paar verwitterte, große Grabplatten nur mit dem Namen der Geschlechter derer von Birckhahn und von Mallinckrodt, denen das Kloster einst gehörte. Wenn man im Ruhrgebiet aufwächst, dann stößt man nicht inmitten eines der Revierparks auf alte Gräber, hier in der Eifel schon.

Nur ein paar Kilometer weiter, fußläufig erreichbar, befindet sich das Schloss Wachendorf, auch das den Nachfahren der Familie von Mallinckrodt gehörend. Läuft man an einer Seite des Geländes entlang, gelangt man an einen ähnlichen Privatfriedhof wie den im Wald von Maria Rast. Nicht ganz so verwunschen, dennoch überraschend am Wegesrand liegend.

Père Lachaise

Bevor ich aber meinen eigenen Friedhof besuche, möchte ich einen anderen erneut besuchen – den Père Lachaise, den ehemaligen Pestfriedhof vor den Toren von Paris, nun im Herzen der Stadt ein Anziehungspunkt für Touristen und der Wohnort so vieler großer Namen der Geschichte. Der wohl größte für Menschen meiner Generation (auch für Claire, wenngleich um viele Jahre jünger) dürfte der von Jim Morrison sein. Gar nicht mal spektakulär im Vergleich zu den Gräbern von Edith Piaf, Honoré de Balzac, Frédéric Chopin, Oscar Wilde, Molière, Marcel Marceau, Gilbert Bécaud, Stéphane Grappelli, Samuel Hahnemann und den vielen anderen, aber ein Wallfahrtsort der besonderen Art.

 

Mein letzter Besuch dort ist lange her (die Geschichte dazu findet Ihr hier), gerne hätte ich den alten Teil erkundet und auch das Grab eines alten Magiers besucht, das mir als Geheimtipp eines ziemlich runtergekommenen Pariser Touristenfängers, der haarsträubende Geschichten für ein paar Bier und ein wenig Essen verkauft hat, ans Herz gelegt wurde – Allan Kardec.

https://www.allan-kardec.de/seiten/sein-leben/sein-grab-in-paris.php

Einschläge

Meine Faszination für solche Orte endet dort, wo deren Bewohner mir nahe stehen, Beerdigungen sind mir ein Graus. Wäre es möglich, würde ich auch meiner eigenen fernbleiben, aber mein Einfluss darauf ist nun mal gering und vermutlich – sicher kann sich niemand sein, von der anderen Seite konnte kein Mensch je erzählen (Jesus gilt nicht) – wird es mich dann auch nicht interessieren. Die letzten Beerdigungen, auf denen ich war, liegen tief in den Nebeln des Verdrängens, allzu viele waren es bisher auch nicht. Ok, wenn ich nicht schneller bin, wird sich die Schlagzahl wohl rapide erhöhen, oder auch: die Einschläge rücken immer näher (womit auch meine Lieblingscousine Birgit zitiert sein soll). Die ersten waren die der Großeltern, lange her mit nur wenigen Erinnerungen, annähernd präsent ist mir nur die erste davon, 5 Jahre war ich jung. Das war mein erstes Erlebnis dieser Art. Die folgenden drei – Fehlanzeige, nichts, absolut nichts ist davon greifbar, bestenfalls der Schatten eines Gefühls.

Ich wüsste nicht einmal sicher zu sagen, ob ich tatsächlich anwesend war.

Kotzen

Als mein damaliger Schwiegervater starb, wurde ich in der Kirche wegen meines Leids getröstet. Es war kein wirkliches Leid, so nahe standen wir uns nie. Es war eine Migräneattacke, ich konnte meine damalige Frau soeben noch zum Friedhof fahren und blieb vor dem Eingang kotzend mit fast platzendem Schädel im Auto liegen. Als die Zeremonie vorbei war, fuhr mich eine Freundin nach Hause und ich fiel ins Bett.

Diese zwei Szenen habe ich abgespeichert – dies seltsame Versammlung mit dem Missverständnis in der Kirche und ich im Wagen liegend vor dem Friedhof. Der Wagen war übrigens eines meiner ersten Fahrzeuge, ein schöner roter Kadett C. An Autos erinnert Mann sich immer.

 

Dann kam irgendwann eine emotional denkbar anstrengende Zeit, in der u.a. erst mein bester Freund in unmittelbarer Nähe starb, wenige Wochen darauf mein Vater. Nur wenige Minuten nach dem Tod des Freundes stand ich mit seiner Frau und deren Mutter in der Wohnung, sah die Nachwehen der Wiederbelebungsversuche durch die Notärzte, begleitete sie auf dem schweren Gang, um Eltern und Geschwister zu informieren. Viele dieser Augenblicke kann ich heute noch detailgetreu abrufen: wie ich mit dem Auto zur Wohnung des Freundes fuhr (200 Meter Luftlinie nur, aber es lag Eile gebietendes Unheil in der Luft), als seine Frau ihn panisch suchend bei mir anrief, die durch das Treppenhaus klingenden Geräusche, die ich irrtümlich für Lachen hielt, Frau und Mutter heulend in der Wohnung, der bald darauf eintreffende Schwiegervater, mit dem wir uns auf den Weg zur Familie von U. begaben, der freudige Empfang durch die zufällig fast vollständig versammelte Familie, ein großes Hallo und fröhliches Gelächter, das erst in Schweigen, dann in eine Tränenflut umschlug. Die Straße, die Wohnung, die Mutter, der Bruder, seine Witwe, die Schwiegereltern, ich sehe all das, wenn ich möchte

Roter Libanese

Die Beerdigung selbst – nicht mehr da, bald so, als hätte sie ohne mich stattgefunden. Lediglich bewusst ist der Moment, als ich mich aus der gegenüberliegenden Kneipe schlich, zu dem noch offenen Grab ging und ihm ein Stückchen roten Libanesen für eine entspannte letzte Reise auf das hölzerne Gefährt für die Ewigkeit warf. Vermutlich hat er das Piece aufgehoben, um es während der Fahrt mit Charon aufzubröseln statt ihm sein Geld zu geben, so war er halt. An eine Münze wird vermutlich ohnehin niemand gedacht haben.

 

An die Beerdigung meines Vaters gibt es lediglich eine Erinnerung – Worte eines guten Freundes beim anschließenden Beerdigungsgesäusels in der Wohnung meiner Eltern. Kirche? Friedhof? Kneipe mit Leichenschmaus? Die Abläufe im Vorfeld der Beerdigung? Nichts davon ist mehr da, kein einziges Bild, keine Erinnerung. Ich weiß nichts von der Kirche, nichts vom Gang zum Grab,nichts von der Zeremonie selbst. Weg, schlicht und ergreifend aus meinem Kopf verschwunden. Meine späteren einsamen Besuche, die Zwiegespräche nur zwischen meinem Vater und mir sind da, teilweise, aber sie existieren in meinem Kopf.

Nachbar

Die einzige Beerdigung, auf die ich danach ging, war die eines neuen Nachbarn, zu dem in Ermangelung eines näheren Kontakts keinerlei emotionale Bindung bestand. Ich fuhr mit einer anderen Nachbarin zur Kirche und wohnte der Messe bei. Ganz hinten saßen, knieten und standen wir, in der letzten Reihe. Mitten hinein in die andächtige Stille sah sie mich an, schien mir etwas sagen zu wollen, drehte sich zur Seite und knallte mit dem Kopf aus gut 1,90 Metern Höhe auf die Kirchenbank. Damit war sie auf einer Beerdigung für einen Moment die Hauptperson wider Willen und hatte Glück, dass die Veranstaltung nicht um ihre Beteiligung verlängert wurde. Der Gang zum Grab entfiel, wir verließen unmittelbar vor der wichtigsten Person des Tages die Kirche und ich fuhr sie ins nächste Krankenhaus. Sie blieb zur Beobachtung da, ich brachte ihren Wagen zurück und wusste einmal mehr, dass Beerdigungen nicht gut zu mir passen.

Sorry

Versprecht mir bitte eine Sache: wenn Ihr mal sterben solltet, dann seht es mir nach, wenn ich nicht zur Beerdigung komme und Euch statt dessen in einer ruhigen Minute ganz alleine besuche. Abseits des Trubels, nur wir zwei und meine Gedanken in einer letzten Unterhaltung. Niemand stört uns, wir können miteinander reden, ohne dass jemand dazwischen quatscht. Ein letzter Plausch, alles kann gesagt werden, alle Wahrheiten sind möglich. Ich erzähle Dir, was sich auf Facebook so abspielt – Neuigkeiten wirst Du kaum erfahren, diese Plattform wird ein Irrenhaus bleiben – Du erzählst mir, wie es da drüben so ausschaut.

Du und ich, meine Gedanken begleiten Dich, meine Nähe zu Dir und Deinem Leben hängt für mich nicht ab von einem Weg zu einem bestimmten Ort. Irgendwann begegnen wir uns wieder und ich weiß, dass Du mir spätestens dann sagen kannst, dass Du mir mein Fehlen nachsiehst und mich verstehst.

Mach es gut, wir sehen uns auf der anderen Seite.

P.S.: Paul ist tot

Diese Zeilen habe ich am Abend des 8.7.2021 geschrieben, am nächsten Tag erreichte mich die Nachricht, dass einer der besten Menschen verstorben ist, denen ich meinem Leben begegnen durfte.

Mein guter, humorvoller und liebenswürdiger Paul, ich kann Dir nicht versprechen, dass ich Dich an dem Tag persönlich begleiten werde, an dem Du Deine letzte Reise auf dieser Erde antrittst. Was ich Dir versprechen kann ist, dass ich in jedem Fall mit meinen Gedanken bei Dir bin und Dich zu einer anderen Gelegenheit besuchen werde. Dann reden wir über Deinen FC und meinen MSV, über syrisches Gebäck und über Walnüsse aus meinem Garten, über Brigitte aus dem Odenwald und über die guten und die weniger guten Menschen der Stadt, in der ich Dir begegnen durfte. Ich bin mir sicher, ganz sicher, dass ich mit einem Lächeln im Gesicht gehen werde, weil Du Dich mit dem Dir eigenen Humor von mir verabschiedet hast. Diese meine Macke wirst Du mir nachsehen, daran glaube ich.

Esther Bejanaro

Aber Paul geht nicht alleine auf seine letzte Reise, ein weiterer wunderbarer Mensch wird ihn begleiten. Am 12.2.2020 lud ich ein paar gute Menschen ein zu einem außergewöhnlichen Auftritt in der Aula der Marienschule Euskirchen. Nachdem ich im Jahr zuvor zu spät kam und sie verpasste, gelangte ich endlich an Karten für eine Veranstaltung mit der großartigen Esther Bejarano, ihrem Sohn Jorem Bejarano und ihrem Adoptivenkel Kutlu Yurtseven. Manch eine Veranstaltung habe ich in meinem Leben besucht, die mit Esther Bejarano war die wohl beeindruckendste. Einen Tag nur nach Paul hat sich nun auch Esther von uns verabschiedet, zwei Menschen, die auf ihre ganz eigene Weise eine schmerzliche Lücke in vielen Leben hinterlassen und auf ihre eigene Weise ewig leben werden.

 

Einer der guten Menschen, die ich eingeladen hatte, war Paul, so schließt sich ein Kreis und Paul wird mir in unseren Gesprächen bald auch von Esther berichten können.

 

Mach et joot, Rotkäppchen, Du fehlst schon jetzt.

 

 

 

Uwe Fischer

Nach 18 Jahren als Kundenbetreuer im Außendienst, 15 Jahre davon bei einem mittelständischen Unternehmen aus der Lebensmittelbranche, hieß es „back to the roots“ mit einer späten Ausbildung zum Logopäden. Heute betreibt Fischer seit 2008 gemeinsam mit seiner Partnerin eine Praxis für Logopädie in der Eifel.

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