Würzburg – Versagen des Systems?

Hätte die Tat eines 24-jährigen Mannes in Würzburg verhindert werden können? Hat das System versagt? Eine Kolumne von Heinrich Schmitz


Bild von Patrick Grüterich auf Pixabay

Die Tat hat die Republik erschüttert. Aus heiterem Himmel und ohne irgendeine Beziehung zu den Opfern zu haben, griff ein Mann in Würzburg wahllos Menschen mit einem Messer an und tötete drei von ihnen. Ob die Ursache dieser Tat in einer psychischen Erkrankung liegt oder in einer islamistischen Radikalisierung oder einen ganz anderen Grund hat, kann zur Zeit noch niemand seriös beantworten.

Auffallend ist allerdings, dass der Tatverdächtige bereits mehrfach wegen diverser zumindest seltsamer Verhaltensweisen in der Psychiatrie war und es ein noch laufendes Verfahren auf Einrichtung einer gesetzlichen Betreuung gab.

Da stellt sich zwangsläufig die Frage, ob man diese konkrete Tat nicht hätte verhindern können. Warum konnte der Mann nicht einfach vorher „weggesperrt“ werden?

Wegsperren

In Deutschland gibt es eine seit Jahren kontinuierlich ansteigende Zahl von zwangsweisen Unterbringungen in die Psychiatrie. Genaue Zahlen auf Bundesebene scheint es nicht zu geben, zumindest habe ich keine aktuellen Zahlen recherchieren können, was vermutlich damit zusammenhängt, dass es sich um Maßnahmen nach den jeweiligen Ländergesetzen handelt. Aber alleine in NRW waren es z.B. im Jahr 2017 etwa 24.500 Unterbringungen.

Dabei muss man sogenannte zivilrechtliche Unterbringungen von den nach dem PsychKG unterscheiden. Bei den meisten zivilrechtlichen, also betreuungsrechtlichen Unterbringungen handelt es sich um die Unterbringung von älteren Menschen, häufig mit Demenz, die in aller Regel nicht mehr alleine zuhause leben können und auch in einem normalen Altenheim nicht mehr bleiben können. Oder es geht um jüngere Menschen, die – häufig aufgrund von Suchterkrankungen – keinerlei Struktur mehr in ihr Leben bekommen. Da geht es fast immer nur um den Schutz der unterzubringenden Person. Die demente Oma gefährdet in der Regel nur sich selbst und die Nerven ihrer Angehörigen und des Pflegepersonals.

Betreuung

Über diese Form der Unterbringung entscheiden die Betreuungsgerichte meist auf Antrag eines Betreuers. Betreuungen werden grob gesagt eingerichtet, wenn Menschen Hilfe brauchen, weil sie ihre Angelegenheiten nicht mehr selbst regeln können. Während es früher einmal eine vollständige Entmündigung gab, wird die Betreuung grundsätzlich auf einzelne Wirkungskreise beschränkt, also z.B. die Vermögenssorge, Wohnungsangelegenheiten, Gesundheitsfürsorge oder auch nur den Kontakt mit Behörden. Ob eine Betreuung eingerichtet wird, entscheidet das Betreuungsgericht.

Dazu muss in aller Regel ein psychiatrisches Gutachten eingeholt werden, ob eine Betreuung erforderlich ist. Tja, und da fangen dann die Probleme schon an. Das Gericht beauftragt einen Gutachter, der Gutachter lädt die betroffene Person ein und wenn die dann nicht kommt, dann dauert es halt etwas länger. Oder die Sache verläuft komplett im Sande. Auch die Qualität der Gutachten ist sehr unterschiedlich. Allerdings wird wohl in der absoluten Zahl der Fälle, so um die 90%, eine beantragte Betreuung befürwortet und auch eingerichtet.

Damit ist natürlich erst der erste Schritt gemacht. Der Betreuer oder die Betreuerin muss Kontakt zu dem Betroffenen aufnehmen und versuchen, mit dem zu kommunizieren. Das klappt manchmal gar nicht gut. Nahezu jeder Betreuer den ich kenne, ist von seinem Betreuten schon einmal angegriffen oder zumindest übelst beleidigt worden. Keine einfache Tätigkeit, die zudem auch noch beschissen vergütet wird. Vielleicht hätte ein guter, engagierter Betreuer mit dem Tatverdächtigen von Würzburg arbeiten und diesem helfen können, wenn er denn früh genug bestellt worden wäre. Aber ob das tatsächlich die Tat verhindert hätte, kann man natürlich nicht sagen.

Risiko gering

Wer meint, dass jeder, der unter einer psychischen Erkrankung leidet, eine Gefahr für andere darstellt, der hat von der Thematik einfach keine Ahnung. Psychisch Erkrankte werden in aller Regel eben nicht straffällig und sie werden es nicht häufiger als vermeintlich Gesunde, ganz im Gegenteil.

Das allgemeine Risiko in Deutschland ermordet oder erschlagen zu werden, betrug im Jahr 2019 beispielsweise etwa eins zu 160.000. Das Risiko, durch die Gewalttat eines psychisch kranken Menschen zu sterben, lag dagegen bei ungefähr eins zu eineinhalb Millionen.

Sie sollten sich also eher vor Ihrem Partner fürchten, als vor dem gemeingefährlichen Irren, der hinter dem Busch lauert. Den gibt es zwar auch, aber er ist eben sehr selten. Hingegen wird jeden dritten Tag eine Frau von ihrem (Ex-) Partner getötet.

Es ist immer leicht, von außen irgendwelche Forderungen zu stellen, insbesondere wenn man von der Materie keinen Schimmer hat. Psychische Erkrankungen sind häufig und fast jeder zweite Mensch erlebt eine solche einmal im Laufe seines Lebens. Aber nur die wenigsten dieser Erkrankungen führen überhaupt zu einer Erhöhung des Gewaltrisikos. Das sind insbesondere psychotische Erkrankungen wie paranoide Schizophrenie. Bei diesen ist das Risiko für eine schwere Straftat zwar um den Faktor 15 erhöht, allerdings bedeutet das auch nur, dass das Risiko von 0,02 auf 0,3 steigt und damit im Ergebnis immer noch sehr gering ist. Alleine die Tatsache, dass jemand an einer Psychose leidet, ist deshalb kein ausreichender Grund dafür, ihn wegzusperren.

PsychKG

Die zweite Möglichkeit, einen Menschen vorübergehend aus dem Verkehr zu ziehen, weil er für sich oder andere gefährlich zu werden droht, ist eine Unterbringung nach den PsychKGs der einzelnen Länder.

In allen Bundesländern gibt es fast gleich lautende Vorschriften für die Einweisung in die geschlossene Psychiatrie, die man – wohl weil es netter klingt – „Unterbringung“ nennt.

Danach ist „die Unterbringung Betroffener“

„nur zulässig, wenn und solange durch deren krankheitsbedingtes Verhalten gegenwärtig eine erhebliche Selbstgefährdung oder eine erhebliche Gefährdung bedeutender Rechtsgüter anderer besteht, die nicht anders abgewendet werden kann. Die fehlende Bereitschaft, sich behandeln zu lassen, rechtfertigt allein keine Unterbringung.

Da es sich um eine freiheitsentziehende Maßnahme – also einen massiven Grundrechtseingriff – handelt, muss auch diese Unterbringung von einem Richter angeordnet werden.

Der Tatverdächtige aus Würzburg konnte gemäß dieser Vorschrift also nicht „für immer weggesperrt“ werden, sondern nach einem auffälligen Verhalten immer nur so lange, wie eine von ihm ausgehende akute Gefahr bestand. Und das entscheiden in der Regel die behandelnden Ärzte. Zwar trifft letztlich der Richter oder die Richterin die Entscheidung über die Aufhebung der Unterbringung, aber wenn wir ehrlich sind, müssen wir konstatieren, dass die sich zu 99% auf das Urteil der Ärzte verlassen und wohl auch verlassen müssen. Sie können halt das Risiko noch weniger einschätzen als die Ärzte und auch die können es nicht sicher.

Fehleinschätzungen

Und wie immer, wenn man das künftig zu erwartende Verhalten von Menschen beurteilen will, kommt es zwangsläufig zu Fehleinschätzungen. Dass der Tatverdächtige mehrfach in der Psychiatrie war und jedes mal wieder entlassen wurde, muss also nicht einmal ein Fehler gewesen sein.

Ein Beispiel: Einer meiner Mandanten sprang im Drogenrausch auf die Motorhaube eines Cabrios, krabbelte über die Frontscheibe und öffnete das Stoffdach des Fahrzeuges gewaltsam. Während der Fahrer versuchte, ihn mit Tempo 100 km/h und Lenkbewegungen abzuschütteln, kletterte er auf den Beifahrersitz und schrie herum, er suche seine Frau. Er sei sicher, dass diese sich in dem Fahrzeug befände. In Panik blieb der Autofahrer stehen, flüchtete aus dem Auto und rief seinen Bruder an, der dann die Polizei verständigte. Die fand dann den Mandanten, der immer noch unter den Sitzen, im Handschuhfach und im Kofferräumchen nach seiner Frau suchte. Die Polizei brachte den Mann in die Psychiatrie, wo er zunächst nach PsychKG untergebracht wurde. Nach wenigen Tagen konnte er entlassen werden, nachdem die Wirkung der konsumierten Drogen nachgelassen hatte. Ein zusätzlich eingeleitetes Strafverfahren führte zwar zur Anklage, das Verfahren wurde aber mangels Schuldfähigkeit sanktionslos eingestellt. Und das war auch alles ganz richtig so, weil zum Zeitpunkt der Entscheidungsfindung keine Gefahr mehr zu erkennen war, nachdem der Mandant inzwischen eine erfolgreiche Therapie absolviert hatte. Wenn dieser Mann nun zu einem späteren Zeitpunkt erneut eine Wahnsinnstat begeht, kann man den handelnden Psychiatern, Richtern und dem Verteidiger daraus keinen Vorwurf machen. Würde man jeden einsperren, der künftig einmal eine Tat begehen könnte, dann säßen sie und ich ebenfalls in der Psychiatrie und auch das dortige Personal dürfte diese nie mehr verlassen.

Nachhaken

Selbstverständlich muss nun ganz genau geprüft werden, ob es an der ein oder anderen Stelle gehakt hat oder auch einfach nicht nachgehakt wurde. Wenn man liest, dass eines der Betreuungsverfahren eingestellt worden sein soll, weil der Betroffene mehrfach nicht angetroffen wurde, kann man schon seine Zweifel haben, ob da mit der nötigen Ernsthaftigkeit versucht wurde, den Mann zu erreichen. Aber auch das reicht nicht, um nun einen grundsätzliche Systemfehler zu konstatieren.

Menschliches Verhalten ist nicht sicher vorhersagbar. Und wer meint, er könne das zuverlässig, hat schlichtweg ein Rad ab. Und ganz sicher kann man das nicht an der Herkunft, der Hautfarbe oder der Religion festmachen. Die Ursachen kriminellen Verhaltens lassen sich auch nicht auf eine einzelne Ursache zurückführen.

Kriminologie

Die Suche nach der Ursache von Kriminalität, also die Kriminologie, begann mit der Theorie des italienischen Arztes Cesare Lombroso (1835–1909). Der glaubte, dass es den „geborenen Verbrecher“ gäbe. Und er glaubte, diesen Verbrechertypen anhand äußerlicher Merkmale feststellen zu können. Zu diesem Zweck maß er die Größe der Ohren, die Nase , die Augenbrauen, die Kopfform und was auch immer noch für äußerliche Merkmale. Das ist zwar wissenschaftlich alles längst widerlegt, schwelt aber immer noch in Teilen der Bevölkerung. „Der sieht aus wie ein Verbrecher“ haben Sie garantiert auch schon mal gehört. Und mancher Schauspieler lebt exakt von dieser Mär und die Mär lebt von ihm, wenn er wegen seines Aussehens immer wieder als Verbrecher oder Irrer besetzt wird. Ich habe im Laufe meines Berufslebens sehr viele Verbrecher gesehen und – glauben Sie mir jetzt einfach mal – die sehen alle unterschiedlich aus und keinem sieht man es an. Der sogenannte erbbiologische Ansatz spielt in der seriösen Kriminologie keine Rolle mehr. Selbiges gilt natürlich für rassenspezifische Ansätze – oder sollte man nicht besser sagen rassistische.

Multifaktoriell

Es gab immer wieder Erklärungsversuche für die Entstehung von Kriminalität: die biologische, psychologische, die Lerntheorie, nach der kriminelles Verhalten von Vorbildern (Eltern, Peergroup etc) – Stichwort falsche Freunde – erlernt wird, milieubedingte, wohnbedingte, sozialbedingte und was auch immer für Ursachen man finden wollte. Allerdings krankten die alle daran, dass eben nicht jedes Kind, das in einem sozialen Brennpunkt aufwächst, später kriminell wird und eben auch nicht jedes, dass eigene Gewalterfahrung gemacht hat, später zum Gewalttäter wird. Es müssen immer viele unterschiedliche Faktoren zusammen kommen. Und wenn man am Ende aller Forschung immer noch mit mehr oder weniger leeren Händen dasteht, dann spricht man halt von einem multifaktoriellen Ansatz. Klingt wissenschaftlich, ist es auch, aber ist natürlich nicht so sexy, wie einfache Erklärungen. Es ist eben einfacher, wenn man meint, es sei der „Ausländer“, der „Flüchtling“, der „Schwarze“, der „Psychopath“, der „Pädophile“ oder auch einfach der „Mann“. Da muss man sich keine Gedanken machen und kann munter drauflos hetzen. Verbessern kann man damit aber nichts.

Es ist kein Allheilmittel, aber es ist sicher förderlich, wenn Menschen in sicheren sozialen Verhältnissen ohne Angst und Gewalt aufwachsen und leben können. Es ist gut, wenn jedes Kind in einen Kindergarten gehen kann und dort, unabhängig von den individuellen Kenntnissen der Eltern und deren Erziehungsstil die Sprache und den verträglichen Umgang mit anderen Kindern lernen kann. Es hilft, wenn jeder eine seinen Fähigkeiten entsprechende Ausbildung machen kann und einen geregelten Tagesablauf und ein auskömmliches Einkommen hat. Es hilft, wenn psychische Erkrankungen enttabuisiert werden und jeder Kranke schnell therapeutische Hilfe bekommen würde. Es gibt viel zu wenige Therapeuten und Plätze in den Psychiatrien, die teilweise auch noch aussehen, wie in einem alten Gruselfilm. Es würde helfen, wenn Menschen, die in Deutschland Schutz vor Verfolgung oder auch „nur“ vor dem Verhungern suchen, hier arbeiten dürften und nicht in irgendwelchen Einrichtungen die Zeit absitzen müssen, stets geplagt von der Angst, trotz Duldung doch ausgewiesen zu werden.

All das würde weiterhelfen, die ohnehin sinkende Kriminalität noch weiter sinken zu lassen. Abschaffen würde das alles die Kriminalität aber nicht. Seit es Menschen gibt, gibt es auch Menschen, die die Regeln brechen, die gewalttätig sind, die morden. Es gibt keine Gesellschaft, in der es keine Kriminalität gibt und es wird wohl auch keine geben. Das „Böse“ ist nichts was von außen kommt, es ist Bestandteil der menschlichen Existenz und als solcher wird es existieren, solange es Menschen gibt. Das müssen wir letztlich akzeptieren, auch wenn wir gleichwohl noch vieles tun können, um die Lebenssituation der Menschen derart zu verbessern, dass niemand mehr meint, vor lauter Angst und Not zu irgendwelchen kriminellen Aktionen greifen zu müssen.

Um die Eingangsfrage zu beantworten: Es mag in Würzburg Fehler gegeben haben; es gibt aber kein System, das solche Fehler sicher hätte verhindern können.

Heinrich Schmitz

Heinrich Schmitz ist Rechtsanwalt, Strafverteidiger und Blogger. In seiner Kolumne "Recht klar" erklärt er rechtlich interessante Sachverhalte allgemeinverständlich und unterhaltsam. Außerdem kommentiert er Bücher, TV-Sendungen und alles was ihn interessiert- und das ist so einiges. Nach einer mit seinen Freital/Heidenau-Kolumnen zusammenhängenden Swatting-Attacke gegen ihn und seine Familie hat er im August 2015 eine Kapitulationserklärung abgegeben, die auf bundesweites Medienecho stieß. Seit dem schreibt er keine explizit politische Kolumnen gegen Rechtsextreme mehr. Sein Hauptthema ist das Grundgesetz, die Menschenrechte und deren Gefährdung aus verschiedenen Richtungen.

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