Ambitionierter Text mit schwer zu fassender Hauptfigur. „Die wunderbare Kälte“ von Elisabeth Rettelbach.

„Die wunderbare Kälte“ wird vom Verlag als so verstörend beworben, dass der das Buch schon im Vorfeld verteidigt. Außerdem soll das Werk durch KI entdeckt worden sein. Was hat der Roman zu bieten? Und müssen Autoren jetzt auch noch vor Computern zittern, die das Lesen normieren? Kolumne von Sören Heim.


Der Kirschbuch-Verlag sieht sich genötigt, die Perspektive des Romans Die wunderbare Kälte von Elisabeth Rettelbach quasi durch einen frühen Angriff zu verteidigen:

Dieser Roman möchte bewusst ein Statement setzen und in den Diskurs gehen: Wie viel Zuneigung muss eine Romanfigur bei den Leser*innen wecken? Darf auch auf diesem Feld experimentiert werden und von der Norm abgewichen werden? Kann literarischer Anspruch als eine Kunstgattung anerkannt werden und sich damit über Figuren-Identifikationen und moralisch einwandfreien Inhalt stellen?”

Das verwundert erstmal (ganz abgesehen von der krummen Formulierung „Kann literarischer Anspruch als eine Kunstgattung anerkannt werden…? – Natürlich NICHT. Anspruch ist keine Gattung, sondern eine Eigenschaft, die Kunst hatoder auch nicht). Aber wieso überhaupt diese Vorwärts-Verteidigung? Sind doch Diktatoren ebenso wie Lustmörder und Vergewaltiger Protagonisten weithin anerkannter Roman, erträgt der Betrieb doch die Abgründe des Marquis de Sade zumindest im Großen und Ganzen ebenso wie die weinerliche Larmoyanz houellebecqscher Loser-Charaktere. Und trotzdem ist die Vorsicht nachvollziehbar, denn Protagonistin Kai ist den Lesern wahrscheinlich persönlich näher, als all diese Unsympathen. Mit solchen Menschen hatten viele von uns wahrscheinlich schon einmal zu tun.

Was könnte diesen Roman so ungemütlich machen?

Protagonistin Kai ist… Nun, schon mit diesem „ist“ tut man sich schwer. Ich weiß nicht, ob der Autorin eine bestimmte Diagnose vorschwebte, um die sie den Romanen aufbaute, oder ob sie die Figur nach Erfahrungen mit sich selbst oder anderen Menschen modelte. Einmal sagt Kai etwa in der Mitte des Textes, sie fühle sich gerade besonders „autistisch“, doch daraus sollte man eher nicht schließen, dass sie Autistin sei. Gegen Ende des Buches versucht sie einen Gehirnhhirurgen zu provozieren, sie als „Psychopathin“ zu bezeichnen, doch es ist auch nicht einfach, ihre Verhaltensweisen und ihre Innensicht mit dem in Deckung zu bringen, was in den Diagnoserichtlinien zur Antisozialen Persönlichkeitsstörung steht.

Also schauen wir lieber: Was macht Kai? Der Leser trifft sie zuerst in einer dicht beschriebenen poetischen Winterstraßenszene. Sie schiebt Personen Zettel in die Tasche, freut sich daran, dass vor allem Männer sich leicht zu Blinddates mit vollkommen unbekannten Frauen laden lassen, während die Frauen seltener auftauchen. Sie erlebt Liebesgeschichten, die sie so anstößt und vor allem die Konflikte, die sie besonders zu genießen scheint, intensiver als Dinge, die unmittelbar ihr eigenes Liebesleben oder persönliche Beziehungen betreffen. Zumindest behauptet Kai das. Die Geschichte ist in der ersten Person erzählt, doch alles andere als zuverlässig. Auf einer Lesung im Buchladen ihrer Schwester wird Kai von Faszination für die Bioprofessorin und mehrsprachige Dichterin Tama ergriffen. Sie findet heraus, dass diese einen jungen Doktoranden als Liebhaber hatte und zugleich verheiratet ist. Und sie beginnt, den Doktoranden zu stalken und lernt ihn kennen. Kai ist fortan hin und her gerissen zwischen ihrer offenkundigen, geradezu teenagerhaften Verliebtheit in diesen Typen, mit dem sie auch irgendwann zusammen kommt, und ihrer Lust, ihn und Tama wieder aufeinander zu zu manipulieren. Nebenbei entlarvt sie auch noch den Ehemann ihrer Schwester als Betrüger, indem sie ihn online anflirtet und am Ende zu einem Date überreden kann. Dann entwickelt sich das, was der Verlag im Klappentext wohl als psychodelischen Albtraum bezeichnet.

Zu viel Teenager-Lovestory dazwischen

Die Durchführung ist allerdings weniger gelungen, als sich diese Zusammenfassung gelesen haben mag. Der Roman ist vor allem deutlich länger, als es ihm gut tut. Es scheint manchmal, als lese man zwei Geschichten. Ja, da ist die oben erzählte Geschichte der nüchtern manipulativen Kai, die mit ihren Gefühlen nicht so wirklich in Verbindung steht und deshalb immer wieder Extremsituationen sucht, vielleicht, um mehr zu fühlen, es wird nicht hundertprozentig klar. Und dann ist da diese totale Teenager-Lovestory, auch wenn die beiden Protagonisten sich mitten in ihren Zwanzigern befinden, die manchmal wirklich elend lang ausgewalzt wird und anstrengend nach Bella und Edward in Twilight klingt. Dieser Doktorand Milo, in den sich Kai verliebt, ist einfach so sehr der typische College Sunnyboy, der Surfer-Everybodys-Darling mit einigen geheimnisvollen Seiten (suuuuper hot und gebildet noch dazu!!!), dass die Sache nicht viel dadurch gewinnt, dass auch Kai toxisch ist und geheimnisvolle Seiten hat. Ja, es braucht diese Handlung als Gegengewicht zum Rest und als Auslöser des Finales. Aber: Oft vergisst die Autorin darüber eben genau diesen Rest und ergeht sich in kitschigen Liebespassagen, die zu quer zum sonst kühlen poetischen Tonfall des Buches stehen. Nochmal: Ich gestehe zu, dass das auch vom Ton her bis zu einem gewissen Grad sinnvoll ist, um zu zeigen, dass Kai eben keine reine eiskalte Manipulatorin ist, sondern auch von etwas in sich getrieben wird, dass sie kaum kontrollieren kann. Einem gleichzeitigen Drang nach „Normalität“ und jener anderen Stimme, die sie von den Menschen wegtreibt, in die Isolation. Nur: Der gewisse Grad wird immer wieder weit übertroffen, und das unterminiert die zweifellos vorhandenen Stärken des Buches.

Und Kai? Ja, Kai ist schwer zu ertragen. Sie flüchtet sich immer stärker in ihre Festung, in der sie ihre Handlungen damit rechtfertigt, dass die Menschen sich doch sowieso gegenseitig schlecht behandeln und man das aufdecken müsse, bzw. dass die anderen sie ja zuerst schlecht behandelt hätten. Man kann sie so nehmen, wie es die anderen Protagonisten des Buches tun, die sich am Ende allesamt zu sagen scheinen, sie könne halt nichts dafür, sie sei irgendwie krank, und das lässt sich wohl nicht leugnen. Doch auf der anderen Seite: Das lässt sie eben auch davonkommen. Und ihre Selbstschutzbehauptungen stimmen einfach nicht immer. Persönlich schlecht behandelt hat sie sogar eigentlich niemand. Milo, ansonsten zweifellos ein Player, versucht alles, um sich der ungewöhnlichen Freundin anzupassen, die ihn nicht in seine Wohnung lässt, die eine Art euphorischen Anfall auf einer Party hat und zusammenzuklappen scheint, die Sorge um sie an den Tagen danach aber als Aggression wertet, die, wie er merkt, offenkundig ihn und seine Ex-Geliebte manipuliert, er weiß nur noch nicht wie. Und ihr bester Freund Jan hat sich vor allem zuschulden kommen lassen, Kai tatsächlich und bedingungslos zu lieben, leider aber nicht so ein cooler Everybody’s Darling zu sein wie Milo. Und Kai hat immer wieder großen Spaß daran, Jan so richtig leiden zu lassen dafür. Mit einigen kleinen Ausnahmen tut Kai nichts gesetzlich verbotenes, aber für alle Menschen, die ihr nahe kommen, wird sie auch in Zukunft unglaublich gefährlich sein.

Gleichzeitig hat sie offenkundig Probleme, was immer wieder Menschen zu ihr hinzieht, die ihr helfen wollen. Und wenn auch nicht in diesem Extrem: Die meisten Leser dürften mindestens eine Person kennen, die gewisse solche Züge zeigt. So kann der Text unglaublich nahe gehen. Und das könnte der Grund sein, s.o., warum der Verlag es bereits in der Ankündigung für nötig hält, eine Protagonistin in Schutz zu nehmen, die im Großen und Ganzen noch ein relativ normaler Mensch ist. Kein Diktator, kein großer Verbrecher, jemand, dem wir täglich über den Weg laufen könnten.

Mensch oder Maschine? Was ist der Unterschied?

Der Kirschbaum Verlag rühmt sich, dieses Manuskript dank der Text-Analyse-Software LiSA entdeckt zu haben. Deren Erfinder wiederum behaupten, es arbeiteten schon viele Verlage hinter den Kulissen mit solcher Software, doch nur dieser eine traue sich, das öffentlich zu kommunizieren. Ich könnte mir vorstellen, dass das der Horror eines Schriftstellers ist, dass jetzt Maschinen darüber entscheiden, welche Literatur überhaupt auf den Lektoratstischen landet. Mir ist es schnuppe, ich glaube nicht, dass es das Verlagswesen groß ändern wird, zumal die Zeit der großen Verlage als Gatekeeper sowieso ihrem Ende zugeht. Wer wie ich als Rezensent viel moderne Literatur liest, dessen größter Horror ist die Gleichförmigkeit, und die Gleichförmigkeit der meisten Texte ist schon längst Gegenwart. Die Auswahlprozesse laufen ja längst quasi maschinell, die Schreibschulen, aus denen die große Mehrheit der jungen Autoren in der sogenannten ernsthaften Literatur kommen, bilden schon längst maschinell den immer gleichen deutschen Einheitsstil aus. Die Lektorate wählen die passenden Texte aus, das Feld noch weiter mainstreamend, manchmal ist vielleicht ein ungewöhnlicher Ausreißer dazwischen. Und wenn man Pech hat, cancelt den dann noch die Marketingabteilung, weil sich so etwas eben doch nicht verkaufen lasse. Die wunderbare Kälte ist kein perfektes Buch, was vor allem an den Längen und den monierten Stilwechseln liegt. Doch es ist deutlich weniger Mainstream als fast alles, was ich in den letzten vier Jahren für die Rezensionen zu den großen deutschen Buchpreisen gelesen habe. Und mag es auch nur so sein, dass einer Maschine eher mal ein ungewöhnlicher Text durchrutscht, weil sie auf die falschen Qualitätsmerkmale geguckt hat (hier z.b. Psychopathie, Sadomaso, Manipulation, überraschende Wendungen, der ganze Game of Thrones Unsinn); dann ist der Text eben immerhin schon einmal in der engeren Auswahl und kann auf einen einsichtigen Lektor hoffen, der nicht mehr unter brutalem Zeitdruck liest. Von daher: Mensch oder Maschine, das ist doch mittlerweile das Gleiche. Im Fall von Die wunderbare Kälte kann sich das Ergebnis zumindest in Teilen sehen lassen.

Sören Heim

Sören Heim ist Journalist, Übersetzer und Schriftsteller. Er ist Träger des kosovarischen Preises für moderne Dichtung „Pena e Anton Pashkut“ (Stift des Anton Pashku) und des Sonderpreises „Favorit von Daniel Glattauer“ der art.experience 2014. In HeimSpiel schreibt Sören Heim mit Heimvorteil zu den Schnittpunkten von Kunst, Kultur und Gesellschaftspolitik. Er beleuchtet die unerwartete Bedeutung ästhetischer Fragestellungen für zeitgenössische Debatten, die mit Kunst auf den ersten Blick kaum Berührungspunkte haben. Und wo immer, sei es in der Politik, sei es in der Ökonomie, sei es gar im Sport, er auf geballten Unsinn und Unverstand trifft, wagt der Kolumnist auch das ein oder andere Auswärtsspiel. Bisher erschien die Kolumne HeimSpiel im Online-Debattenmagazin The European. Daneben veröffentlicht Heim in mehreren Literaturzeitschriften vornehmlich Lyrik und dichte Kurzprosa, und bloggt auf der eigenen Homepage aus seinem Zettelkasten. Monographien: Kleinstadtminiaturen: Ein Roman in 24 Bildern. Girgis Verlag: 2016 – ISBN: 978-3939154181.Cover nur Front Gewogene Worte: Nachdichtungen aus dem Chinesischen. edition maya: 2016 – ISBN: 978-3930758463.cover kathaStrophen. Experimente in Rhythmus und Melodie. Chiliverlag: 2017 -ISBN: 978-3943292541.FrontCover 2_bleu Algenhumor: Gedichte für das dritte Jahrtausend. Girgis Verlag: 2016 – ISBN: 978-3939154228.algen Audio-Exklusiv: La vie! La jeunesse! – Hörmordkartell 2017

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