O Haupt voll Blut und Wunden

Das Internet kann fürchterlich sein, aber auch wundervoll. Ganz wundervoll war es vor etwa zwei Wochen, als ich so bei Bier und Zigarette im Garten sitzend müßig rumsurfte und mir von einem verkaufsgeilen Algorithmus eine neue Schallplatte angepriesen wurde, ich brav und gehorsam den Link anklickte und mich sozusagen der Schlag traf, denn ich kannte das beworbene Werk völlig unerklärlich nicht einmal: Eine Klaviertranskription von Busoni (den ich liebe) eines Orgelchoralvorspiels von Brahms (den ich liebe, wie Sie wissen könnten, wenn Sie brav meine letzte Kolumne gelesen hätten), über eine Melodie, die ich liebe. Und dieser einen Melodie ist diese Kolumne gewidmet. – Eine Bach- & Sachgeschichte von Clemens Haas


Bild von Robert Allmann auf Pixabay

Das vom schnöden und eiskalt berechnenden Internet-Algorithmus angepriesene Werk, in das ich mich augenblicklich verliebt habe, zeige ich Ihnen aber erst am Ende, das erzeugt Spannung. Stattdessen beginnen wir total unkoventionell mit dem Anfang, also mit meinem. Wie ganz treue Leser der Bach- und Sachgeschichten wissen, soll mein erster Berufswunsch Pfarrer gewesen sein, und zwar, weil in der Kirche immer so geile Musik gespielt und gesungen wurde. Und unter den schönsten Liedern war für mich schon immer und wird immer sein: O Haupt voll Blut und Wunden. Das hören wir uns jetzt erst einmal an, so wie es im Gottesdienst gesungen wird.

O Haupt voll Blut und Wunden,
voll Schmerz und voller Hohn,
o Haupt, zum Spott gebunden
mit einer Dornenkron,
o Haupt, sonst schön gezieret
mit höchster Ehr und Zier,
jetzt aber hoch schimpfieret:
gegrüßet seist du mir!

Etc.

 

Das ist schon, wenn eine stinknormale Kirchengemeinde singt, zum Niederknien schön. Wie schön ist das erst, wenn es meisterlich gesetzt ist und von ausgebildeten Sängern gesungen wird? SO schön:

 

Alter Falter. Wenn man zumindest während dieser drei Minuten nicht an Gott glaubt (davor und danach kann man es ja meinetwegen sein lassen), ist einem nicht mehr zu helfen.

Das also war Bach Himself. Es drängt sich natürlich – auch mir ist das so passiert – der Verdacht auf, dass diese Melodie dem genialen Hirn Bachs entsprungen sei. Denn Bach muß diese Melodie mindestens ebenso geliebt haben wie ich, und er hat sie – mit verschiedenen Texten oder auch ohne Text – in einer Vielzahl von Werken verwendet. Hier mit „O Haupt…“ in der Matthäus-Passion, aber etwa auch als „Wie soll ich dich empfangen“ im Weihnachtsoratorium, „Der Leib zwar in der Erden“ in der Kantate „Komm, du süße Todesstunde“ und einiges mehr. Ich habe versucht, alle Bachschen Verwendungen zu recherchieren, habe aber nach einigen Stunden erschöpft aufgegeben, dieses Vorhaben vollumfänglich zu bewerkstelligen, denn schließlich ist das hier eine Kolumne und keine Doktorarbeit. Wir halten fest: Alle denken bei dieser Melodie an Bach, und alle irren sich.

Das Original nämlich hat ein gewisser Hans Leo Haßler geschaffen, und zwar zu einem weltlichen Text:

Mein Gmüth ist mir verwirret,
das macht ein Jungfrau zart,
bin ganz und gar verirret,
mein Herz das kränckt sich hart,
hab tag und nacht kein Ruh,
führ allzeit grosse klag,
thu seufftzen stets und weinen,
in trauren schier verzag.

Etc.

 

Erschienen ist dieses Lied 1601 in „Lustgarten neuer deutscher Gesäng“, da war Johann Sebastian Bachs Großvater noch nicht mal in der Käsetheke.

Wir springen mal knapp 400 Jahre in Richtung Gegenwart und 6000 km in Richtung Westen. Mit wieder einem ganz anderen Text.

Many’s the time I’ve been mistaken

And many times confused

Yes, and I’ve often felt forsaken

And certainly misused

But I’m all right, I’m all right

I’m just weary to my bones

Still, you don’t expect to be

Bright and bon vivant

So far away from home, so far away from home

Etc.

 

Das muß man erst mal hinkriegen: Eine Melodie schreiben, die vier Jahrhunderte überdauert und Kontinente und Musikgenres überwindet wie nix. Kennen Sie etwas vergleichbares? Kannten Sie Hans Leo Haßler?

„American Tune“ wurde dann natürlich auch wieder unzählig oft gecovert, das soll dann mal jemand zählen, der dafür einen Doktortitel bekommt.

Hier noch ein Cover aus dem letzten Jahrhundert mit einem wieder ganz anderen Text:

Because all men are brothers wherever men may be
One Union shall unite us forever proud and free
No tyrant shall defeat us, no nation strike us down
All men who toil shall greet us the whole wide world around.

Etc.

 

Ja, da irrt sich der Paul halt, wie Sie hier gelernt haben („Bach- und Sachgeschichten-Leser wissen mehr“): Da wurde nicht von Bach geliehen, sondern von Haßler.

Es gibt auch Cover aus unserem Jahrhundert, die gefallen mir aber nicht gut genug, um sie hier zu zeigen. Das gibt uns aber immerhin die Zeit, eine weitere Peterpaulmary-Version anzusehen zusammen mit dem großartigen anbetungswürdigen Dave „Take Five“ Brubeck (Fängt sehr ähnlich an, bitte etwas Geduld).

 

Noch zahlreicher als die Pop- und Jazz-Coverversionen sind aber die Bearbeitungen im Bereich der sogenannten Ernsten Musik. Ich kann Ihnen also nicht mal einen halbwegs repräsentativen Ausschnitt daraus zeigen.

Mendelssohn aber MUSS sein. Natürlich vor allem, weil die Kantate ganz großartig ist, aber auch, weil Mendelssohn einer der Wiederentdecker Johann Sebastian Bachs war, der nach seinem Tod zunächst ziemlich in Vergessenheit geraten war, und der erste, der die Matthäuspassion nach fast 100 Jahren wiederaufführte. Da war er gerade 20 geworden. Ein halbes Jahr später stellte er die Kantate fertig.

 

So, jetzt müssen wir aber so langsam mal zu den Tasten kommen. Diese Aufgabe übernimmt Bernhard Schneider mit dem Choralvorspiel op. 67 Nr. 14 des großartigen Max Reger.

 

Die Aufgabe, zum Klavier überzuleiten, übernehme ich heute der Einfachheit halber mal selbst, mit einer Klaviertranskription von Wilhelm Kempff. Man kann hier auch exemplarisch die schlechten Seiten des Internets sehen: So manche 4jährige interessiert sich mehr für youtube-Clips als für gute alte analoge Musik. Aber sie hat ja noch 16 Jahre Zeit, bis sie die Matthäuspassion dirigiert.

 

Wir kommen aber zum Abschluß und den schönen Seiten des Internets, mit dem Stück, das mir der listige Algorithmus erfolgreich (ja, ich kaufe die Platte) vorgeschlagen hat.

Heute enden wir ausnahmsweise nicht mit Daniil Trifonov, sondern mit Igor Levit, der interessanterweise aus der gleichen Stadt (Nischni Nowgorod) stammt. Ich kann das locker verschmerzen, und Sie hoffentlich auch.

 

Clemens Haas

Clemens Haas, geb. 1968, hat Mathematik und Philosophie durchaus studiert mit eifrigem Bemühn, dann aber doch zurück gefunden zur ersten Liebe, Klavier und Tonmeisterei und dieses Studium dann auch abgeschlossen. Er arbeitet als freier Toningenieur und Komponist für ÖR und private Rundfunk- und Fernsehanstalten und für die Werbeindustrie.

More Posts

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert