Eine Arbeiterbewegung gegen den „Arbeiterstaat“. Zum 40. Jahrestag der Gründung der unabhängigen Gewerkschaft „Solidarność“

Vor etwa 40 Jahren entstand in Polen eine unabhängige Gewerkschaft, die sich gegen den Absolutheitsanspruch eines Staates wandte, der sich als „Staat der Werktätigen“ definierte. Mit der Genese und der weiteren Entwicklung dieser Bewegung befasst sich die folgende Kolumne.


Seit der friedlichen Revolution vom Herbst 1956 (der „Polnische Oktober“) gehörte Polen zu den Vorreitern der Demokratisierung im gesamten Ostblock. Polen war das einzige Land des Ostblocks, in dem die Staatsführung mit dem gesellschaftlichen Druck von unten als einem konstanten politischen Faktor rechnen musste. Zwar ließ dieser Druck gelegentlich nach, latent war er aber immer vorhanden. Nicht zuletzt deshalb wurde Polen von den Regimekritikern anderer kommunistischer Länder unentwegt beneidet.

Die Vorreiterrolle der sowjetischen Bürgerrechtler

Es gab allerdings einige Bereiche, in denen die polnischen Regimekritiker zu den Nachzüglern zählten. Dies betraf in erster Linie die Entstehung eines zensurfreien Publikationswesens – des Samizdat (des Selbstverlags), der das Informationsmonopol der kommunistischen Machthaber, zumindest partiell, aushöhlte. Hier spielten in den 1960er Jahren zweifellos die sowjetischen Dissidenten eine Vorreiterrolle.  Neben dem Samizdat verdanken die osteuropäischen Regimekritiker den sowjetischen Dissidenten auch die Herausarbeitung einer neuen, wirksamen Strategie zur Bekämpfung des Absolutheitsanspruchs des Regimes: die Konzeption der Bürgerrechtsbewegung, die sich in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre herauskristallisierte. Diese Bewegung zielte nicht auf den Sturz des herrschenden Systems, sondern auf die Verteidigung der Menschen – und Bürgerrechte, die die sowjetische Verfassung formell garantierte.

Neue Impulse für die Bekämpfung des Totalitätsanspruch der kommunistischen Regime kamen also ausgerechnet aus einem Land, in dem die Unterdrückung der Meinungsfreiheit etwa dreißig Jahre länger dauerte, als dies in den anderen Ländern des Ostblocks der Fall war, die erst 1944/45 in die Einflusssphäre der UdSSR gerieten.

Das „Komitee zur Verteidigung der Arbeiter“ als Keimzelle der Solidarność-Bewegung

Die neuen Strategien im Kampf gegen den Absolutheitsanspruch der kommunistischen Machthaber, die sich in der Sowjetunion bereits Mitte der 1960er Jahre entwickelt hatten, begannen sich nach dem Scheitern des reformkommunistischen Experiments in Prag im August 1968 (Intervention der Warschauer-Pakt-Staaten) auch auf andere kommunistische Länder auszudehnen. Auch dort entstand eine Reihe von regimekritischen Gruppierungen, die aus der Sicht der Herrschenden zwar „illegal“ waren, aber ihre Legitimität daraus schöpften, das sie auf dem Boden  der allgemein geltenden zivilisatorischen Normen agierten. Zu den erfolgreichsten dieser Gruppierungen gehörte das im September 1976 in Polen entstandene „Komitee zur Verteidigung der Arbeiter“ (polnische Abkürzung „KOR“).

Die führenden Theoretiker des KOR, Jacek Kuroń und Adam Michnik, entwickelten kurz nach der Gründung der Organisation neue politische Konzepte, die für das Handeln der Opposition prägend werden sollten. Michnik vertrat die Ansicht, dass die Regimekritiker nicht mehr an die Reformkräfte in der regierenden Partei, sondern an die Gesellschaft zu appellieren hatten. Die Partei werde die demokratische Erneuerung im Lande nur dann zulassen, wenn die Gesellschaft auf sie einen entsprechenden Druck ausüben werde. Diese Hinwendung zur Gesellschaft mit dem Ziel, ihre Widerstandskraft allmählich zu steigern, bezeichnete Michnik als den „neuen Evolutionismus“. Ähnlich argumentierte auch Jacek Kuroń, dessen Programm gelegentlich als „Radikalreformismus“ bezeichnet wird. Das Endziel der polnischen Opposition war nach Kuroń die Errichtung eines demokratischen Systems im Lande. Um dieses Programm zu verwirklichen, musste die Opposition alle relevanten Kräfte, die ähnliche Ziele verfolgten, zu integrieren versuchen. Die „Selbstorganisation der Gesellschaft“ sollte diese in ein politisches Subjekt, in einen ebenbürtigen Kontrahenten des Regimes verwandeln.

Wichtiger Bestandteil des Programms der polnischen Regimekritiker der zweiten Hälfte der 1970er Jahre war der demokratische bzw. „antitotalitäre“ Konsens. Ideologische Kontrahenten, die bis dahin scharf gegeneinander polemisierten, waren nun bereit, über weltanschauliche Differenzen hinweg sachlich miteinander zu kooperieren. Vor allem handelte es sich hier um die Vertreter der nonkonformistischen Linken und um die katholischen Regimekritiker.

In einer erstaunlich kurzen Zeit gelang es den polnischen Regimekritikern, den Vorsprung der sowjetischen Dissidenten aufzuholen und weit darüber hinauszugehen. Denn sie brachen, im Gegensatz zu den sowjetischen Regimekritikern, aus dem „intellektuellen Ghetto“ aus. Die Gründer des KOR waren sich darüber im Klaren, dass nur eine konkrete Hilfe imstande war, das Misstrauen der regimekritischen Arbeiter gegenüber den Intellektuellen abzubauen. Und dieses Misstrauen wurde in der Tat aufgrund der konkreten Hilfeleistung an die verfolgten Arbeiter (Opfer der Arbeiterproteste vom Juni 1976) sehr schnell überwunden. Die auf die Atomisierung der Gesellschaft gerichtete Politik des Regimes erlitt nun einen empfindlichen Schlag.  Die regimekritischen Gruppierungen verwandelten sich in einen neuen Kristallisationskern, um den sich eine immer breitere Protestbewegung zu formieren begann.

Die beispiellosen Erfolge der polnischen Regimekritiker waren auch damit verknüpft, dass die katholische Kirche Polens, die seit dem „Historischen Kompromiss“ zwischen Staat und Kirche von 1956 über eine beträchtliche Autonomie  verfügte, sich mit den Belangen der Bürgerrechtler weitgehend solidarisierte. Dies ungeachtet der Tatsache, dass die in der Regel konservativ gesinnten Bischöfe große Bedenken gegenüber den ideologischen Vorstellungen der tonangebenden linken Vertreter im KOR hatten. Die Wahl des Krakauer Erzbischofs Karol Wojtyła zum Papst im Oktober 1978 wurde in Polen als eine Niederlage des Regimes aufgefasst und trug zur Stärkung der Opposition zusätzlich bei. Die Massenbegeisterung, die der Papstbesuch vom Juni 1979 im Lande auslöste, lässt sich als eine Art Prolog für die umwälzenden Ereignisse vom Sommer 1980 auffassen.

Die „sich selbst beschränkende Revolution“ der Solidarność

Bei der Streikbewegung vom August 1980, die zur Entstehung der Gewerkschaft „Solidarność“ führte, handelte es sich zweifellos um einen revolutionären Vorgang. Es war aber eine Revolution ohne Barrikaden und Straßenkämpfe, ohne jegliche Anwendung von Gewalt. Der für viele Beobachter unerwartete Charakter der August-Umwälzung hatte sicher damit zu tun, dass sie von Anfang an von einem Bündnis zwischen Arbeitern und Intellektuellen getragen wurde. Von einem Bündnis also, das den Kommunisten immer als Ideal vorschwebte, das aber ausgerechnet in einer Auseinandersetzung mit einem kommunistischen Regime zustande kam.

Auf dem Gelände der Danziger Werft wurde im August 1980 diese Allianz endgültig besiegelt. Die streikenden Werftarbeiter akzeptierten ohne Vorbehalte die führenden Regimekritiker, die etwa eine Woche nach dem Ausbruch des Streiks nach Danzig kamen, als „Berater“ und „Experten“. Bei diesen „Experten“ handelte es sich in der Regel um die Mitglieder des KOR bzw. des KSS „KOR“ (im September 1977 hat sich das KOR in ein „Komitee für Gesellschaftliche Selbstverteidigung“ umbenannt – poln. Abkürzung KSS „KOR“). Viele Beobachter berichten, wie sehr die Anwesenheit der intellektuellen „Berater“ und „Experten“ die Verhandlungspositionen der Streikenden stärkte. Sie konnten nun ihre Forderungen präziser und schärfer formulieren. Bei den früheren vergleichbaren Konfliktsituationen, so vor allem nach den Streiks vom Dezember 1970, hatten die Arbeiter gerade während solcher Verhandlungen den Großteil der vorher erkämpften Positionen eingebüßt. Um eine erneute Niederlage dieser Art zu verhindern, mussten die Streikeden das Regime unter permanenten Druck von unten stellen und diesen Druck in gewisser Hinsicht institutionalisieren. So entstand nicht zuletzt dank der Anregungen der Intellektuellen, die Idee einer unabhängigen Gewerkschaft. Diese Forderung bildete den wohl wichtigsten Punkt des Danziger Abkommens vom 31. August 1980.

Kommunistische Regime gingen bis dahin davon aus, dass das Aufkommen von sozialen Konflikten grundsätzlicher Art in ihrem Herrschaftsbereich unmöglich sei, da die Ausbeuterklasse hier nicht existiere. Die Übereinkunft vom 31. August 1980 drohte, diese für das kommunistische Selbstverständnis äußerst wichtige Formel zu untergraben, denn Verträge dieser Art können nur Gruppierungen mit grundsätzlich verschiedenen Interessen schließen. Sonst haben sie keinen Sinn.

Da die neue Arbeiterbewegung sich gegen einen Staat wandte, der sich als „Arbeiterstaat“ definierte, musste sie sich von ihm zwangsläufig nicht nur organisatorisch, sondern auch ideologisch distanzieren. Sie entwickelte neue Formen des Protestes und sprengte das traditionelle „Rechts-Links-Schema“, was vielen Beobachtern ihre Einordnung erschwerte. Statt der allgemein erwarteten Revolutionssymbolik bedienten sich die Streikenden der kirchlichen Symbole. Das Bild der beim Gottesdienst knienden Danziger Arbeiter ging um die Welt. Viele Beobachter sprachen von einer Klerikalisierung der Solidarność, von einem religiösen Fanatismus, der viele ihrer Mitglieder angeblich auszeichne. Und in der Tat ist der Einfluss der Kirche auf die polnische Industriearbeiterschaft sehr groß. Viele Autoren weisen darauf hin, dass es der polnischen Kirche – im Gegensatz zu den Kirchen in vielen anderen Ländern Europas – gelang, den Säkularisierungsprozess der Industriearbeiter aufzufangen. In ihrer Bindung an die Kirche unterscheidet sich die polnische Arbeiterschaft kaum von der Landbevölkerung – dies ist wohl ein einmaliges Phänomen in Europa.

Dessen ungeachtet stellte die Solidarność eine vollkommen unabhängige Einrichtung und keineswegs eine Filiale der Kirche dar. Immer wieder kam es zu Spannungen zwischen der unabhängigen Gewerkschaft und der Kirchenführung. Die Arbeiter vermochten durchaus zwischen dem konkreten politischen Kurs der Bischöfe und der Bedeutung der Kirche als der höchsten moralischen Instanz im Lande zu unterscheiden. Als Kardinal Wyszyński – Primas der katholischen Kirche Polens – am 26. August 1980, also noch vor der Unterzeichnung des Danziger Abkommens, die Arbeiter zu Besonnenheit und damit indirekt zur Beendigung der Streiks aufgerufen hatte, wurde sein Rat nicht befolgt.

Die Solidarność verkörperte geradezu eine antiautoritäre Revolte und ließ sich von niemandem bevormunden, nicht einmal von der eigenen Führung. Die Vereinbarungen, die zwischen der Regierung und der Gewerkschaftsführung getroffen worden waren, wurden in den einzelnen Sektionen der Solidarność keineswegs automatisch befolgt. Überall im Lande bedurfte es wiederholter „Feuerwehreinsätze“ des Vorsitzenden der unabhängigen Gewerkschaft, Lech Wałęsa und anderer Gewerkschaftsführer, um die Konflikte zu entschärfen und Explosionen abzuwenden.

Die basisdemokratische Solidarność funktionierte nach ganz anderen Gesetzen als das politische System, in dessen Rahmen sie agierte; es war beinahe unmöglich, sie in die autoritären Strukturen des „real sozialistischen“ Staates einzubauen. Jacek Kuroń, beschrieb die neu entstandene Situation folgendermaßen:

Man stelle sich vor, was geschehen würde, wenn man bei der Polnischen Staatlichen Eisenbahn, wo der gesamte Verkehr einem von oben festgelegten Fahrplan untergeordnet ist, einige Züge plötzlich anfangen würden nach einem anderen Fahrplan zu fahren, der demokratisch beschlossen würde … Genau das bedeuten die unabhängigen Gewerkschaften für ein System, in dem das gesamte gesellschaftliche Leben (zentral gesteuert wird).

Die Führung der Gewerkschaft betonte zwar wiederholt, dass sie die bestehenden Machtverhältnisse nicht antasten wolle und die führende Rolle der Partei akzeptiere. Dennoch erreichte die Entwicklung der Solidarność eine derartige Eigendynamik, dass der gewerkschaftliche Tätigkeitsradius sich immer stärker erweiterte und in Bereiche eindrang, die das Regime als sein eigentliches Sanktuarium betrachtete. Die Staatsführung besaß so gut wie keine Möglichkeiten, die Aktivität der Solidarność zu kontrollieren. Als eine Herausforderung besonderer Art, empfand sie die Tatsache, dass die unabhängige Gewerkschaft eine außerordentliche Anziehungskraft auf die Parteibasis ausübte. Etwa eine Million Parteimitglieder schlossen sich 1980/81 der Solidarność an. Dort stellten sie keineswegs ein „trojanisches Pferd“ des Regimes dar. Im Gegenteil, wenn sie auf jemanden subversiv wirkten, dann eher auf das Regime selbst.

Viele Führer der Solidarność betrachteten 1981 die Partei als politischen Leichnam und meinten, sie hätten den innenpolitischen Kampf bereits endgültig für sich entschieden. Die Entschlossenheit des Regimes, seine angeschlagenen Positionen zu verteidigen, wurde von der Opposition indes unterschätzt.  Es verbreitete sich im Lande der Eindruck, die Partei habe praktisch aufgehört zu regieren, es sei nun ein Machtvakuum entstanden. Die polnische Soziologin Jadwiga Staniszkis sprach sogar von einer Art Doppelherrschaft, die sich damals in Polen etabliert haben sollte. Sie entdeckte Parallelen zwischen der damaligen Situation in Polen und der Lage in Russland am Vorabend der bolschewistischen Machtübernahme und in Italien unmittelbar vor dem Marsch Mussolinis auf Rom. Dabei ließ sie aber einen grundlegenden Unterschied außer Acht. Bei den Herrschaftssystemen, die die Bolschewiki und die Faschisten zu beseitigen trachteten, handelte es sich um Demokratien, und zwar solche Demokratien, die aufgrund einer tiefen innenpolitischen Krise den diktatorischen, um die Alleinherrschaft kämpfenden Parteien unbegrenzte Entfaltungsmöglichkeiten geboten hatten.  Im damaligen Polen war die Situation genau umgekehrt. Hier war eine diktatorische, durch totalitäre Erfahrung gestählte Partei an der Macht, bei ihrem Kontrahenten hingegen handelte es sich um eine basisdemokratische Bewegung, die die Frage der Macht weitgehend ausklammerte., Die Tatsache, dass der Parteiapparat nur wenig Möglichkeit hatte, die Solidarność direkt zu kontrollieren,  verschleierte für Viele den Umstand, dass er keineswegs aufgehört hatte, zu herrschen. Von den wichtigsten Säulen, auf denen die Herrschaft der „neuen Klasse (Milovan Djilas) beruhte, – Macht-, Wirtschafts- und Informationsmonopol –, wurden die ersten zwei während der Solidarność-Revolution nicht angetastet, nur die letzte wurde infolge der Zulassung der Solidarność-Presse, teilweise ausgehöhlt. Die Parteinomenklatura herrschte zwar nicht mehr über Überzeugungen, sie blieb aber noch absoluter Herr der materiellen Gewalt, und die von ihr kontrollierten Machtapparate begannen sich immer stärker von der unzuverlässig gewordenen Massenbasis zu verselbständigen. Die Gefährdung ihrer eigenen Herrschaft schilderte sie als die Gefährdung der Nation als solcher.

Die Solidarność ihrerseits, der der Einfluss auf die Exekutive fehlte, vermochte nicht ihre wirtschaftlichen und politischen Vorstellungen in die Praxis umzusetzen. So wuchs die Ungeduld der Gewerkschaftsbasis, die Forderungen an die Regierung und an die eigene Führung wurden immer umfassender. Der Warschauer Historiker Jerzy Holzer schrieb dazu:

(Das) Paradoxe (bestand) darin, dass die Radikalisierung der Ziele nicht etwa die Ursache, sondern die Folge davon war, dass sich ein Minimum an Systemveränderung nicht durchsetzen ließ.

Das Scheitern der Solidarność war allerdings nicht nur innenpolitisch bedingt. Man darf nicht vergessen, dass die antiautoritäre Revolution an der Weichsel sich ausgerechnet in einer Zeit ereignete, in der sich der gesamte Ostblock im „spätbreschnewistischen Winterschlaf“ befand. Die sowjetischen Machthaber feierten damals den scheinbar endgültigen Sieg über die Bürgerrechtsbewegung im Lande. Unmittelbar nach der Verbannung Andrej Sacharows – der Symbolfigur der sowjetischen Bürgerrechtsbewegung – nach Gorkij im Januar 1980 erklärte ein hoher Funktionär des KGB, General Zwigun: Die Dissidentenbewegung existiere in der Sowjetunion nicht mehr, dieses Problem sei nun gelöst.

Die Situation der regimekritischen Kräfte in den anderen Ländern des Ostblocks war nicht wesentlich besser. Nur in dem paternalistisch-liberalen Ungarn Janos Kádárs verhielten sich die Dinge etwas anders. Aber auch dort befanden sich die regimekritischen Gruppierungen in einer weitgehenden Isolation. Insofern stellte das durch die Solidarność erneuerte Polen einen Fremdkörper in der damaligen politischen Landschaft Osteuropas dar. Die Zugeständnisse der Warschauer Führung an die polnische Gesellschaft drohten eine Kettenreaktion im gesamten Ostblock auszulösen. Eine unzufriedene Arbeiterschaft – der eigentliche Nährboden der Solidarność – war in allen kommunistischen Ländern zur Genüge vorhanden. So wurden die polnischen Militärs, die am 13.12.1981 gewaltsam gegen die Solidarność vorgingen und das Kriegsrecht im Lande verhängten, von allen dogmatischen Kräften des Ostblocks vorbehaltlos unterstützt.

Auf dem Weg zur friedlichen Revolution von 1989

Der waghalsige Versuch des polnischen Militärs, das Land im Alleingang aus der wirtschaftlichen und politischen Sackgasse herauszuführen, war indes zum Scheitern verurteilt. Nach der gründlichen demokratischen Erneuerung des Landes durch die Solidarność ließ sich Polen nicht mehr autoritär regieren. Eine gesellschaftliche Unterstützung stellte die unerlässliche Voraussetzung für das Gelingen jedes Regierungsprogramms dar. So entstand an der Weichsel eine eigentümliche Pattsituation. Die unpopuläre Macht und die macht­lose Popularität lähmten sich gegenseitig. Die Situation im Lande schien nun völlig verfahren. Die allgemeine Resigna­tion wurde zusätzlich durch die fortschreitende wirtschaftliche Zerrüttung des Landes vertieft.

Als im Mai und im August 1988 im Lande die größten Streik­wellen seit der Ausrufung des Kriegsrechts ausgebrochen waren, drohte sich das Szenario der früheren Konfliktregelungen zu wie­derholen. Wie bei den früheren Krisen erklärte sich die Kirchenführung auch diesmal bereit, zwischen den streitenden Parteien zu vermitteln. Sie war aber eindeutig überfordert. Die Vermittlung der Kirche konnte lediglich dazu beitragen, das labile Gleichgewicht zwischen Regierung und Opposition fortbestehen zu lassen. Sie war aber außerstande die vorhandenen Strukturen zu sprengen. Dies war aber erforderlich gewesen, um die erstarrten Fronten in Bewegung zu setzen. Alle Lösungsversuche für die Krise, die die politischen Grundlagen des bestehenden Systems nicht antasteten, waren bereits ausprobiert worden, ihre erneute Inanspruchnahme hätte wenig Sinn gehabt. Die Schwächen des dualistischen Systems, das 1956 in Polen infolge des Historischen Kompromisses“ zwischen Staat und Kirche entstanden war, kamen nun deutlich zutage. Die Duldung einer eigenständigen, wenn auch unpolitischen Institution (Kirche) hatte damals einen gewaltigen Fortschritt im Vergleich zu früher bzw. im Vergleich zu allen anderen Ländern des Ostblocks bedeu­tet. Die entmündigte Gesellschaft erhielt nun einen Schirmherrn, der sie vor der kommunistischen Willkür schützte. Zugleich aber auch einen Bändiger, der die Opposition immer wieder in ihre Schranken wies, wenn sie nicht bereit war, bestimmte Sachzwänge zu akzeptieren. Unter der Obhut der Kirche begann sich aber in Polen eine Zivilgesellschaft zu bilden, die jegliche Bevormun­dung ablegen wollte – sowohl die repressive des Staates als auch die wohlwollende der Kirche. Sie bekam in der Solidarność-Zeit ihre Konturen und war aus der politischen Landschaft nicht mehr wegzudenken. Wollte das Regime die Krise lösen, musste es dieses neue politische Subjekt direkt in die Entscheidungsprozesse einbe­ziehen und nicht bloß unter dem Patronat der Kirche wie dies bis dahin (wenn man von den Jahren 1956/1957 oder 1980 / 81 absieht) der Fall war. Insofern stellte der Appell der Regierung während der Streiks vom August 1988 an die Führung der offiziell nicht vorhandenen Soli­darność, Gespräche aufzunehmen, eine Zäsur in der Entwicklung des Landes seit Dezember 1981 dar.

Ohne die Gorbatschowsche Perestroika allerdings wäre der Ausbruch Polens aus dem Teufelskreis von Wiederholungsszenarien wohl kaum möglich gewesen. Bis dahin stellte Moskau den ruhenden Pol für die Dogmatiker in Warschau, Prag, Budapest oder in Berlin (Ost) dar. Mit seiner „Hilfe“ konnten sie immer rechnen, wenn sie innere Krisen aus eigener Kraft nicht zu bewältigen vermochten. Nun geriet aber dieser Pol selbst in Bewegung und ließ die „bewahren­den Kräfte“ an der westlichen Peripherie des Imperiums quasi im Stich: „Mit sowjetischen Panzern zum Erhalt der politischen Macht (der osteuropäischen Verbündeten Moskaus- L. L.) war nicht mehr zu rechnen“, schrieb Michail Gorbatschow in seinen Erinnerungen. Dies war die Stunde der Verfechter des „weichen Kurses“ in den ostmitteleuropäischen Staaten. Von der ständigen Angst vor einer Bestrafungsaktion aus dem Osten befreit, begannen sie jetzt nach unorthodoxen Lösungen für die innenpolitischen Konflikte zu suchen und stießen dabei die Dogmatiker in den eigenen Reihen vor den Kopf. In einer beinahe überfallartigen Art setzte der Reform­flügel der PVAP um Wojciech Jaruzelski und Mieczysław Rakowski auf dem höchst kontrovers verlaufenden X. Plenum des ZK (Januar 1989) sein Konzept durch. Es sah eine Wiederzulassung der Solidarność und Gespräche am „Runden Tisch“ vor. Der Weg für die Einfüh­rung des politischen Pluralismus im Lande war nun frei. Der Kompromiss am „Runden Tisch“ hatte allerdings der Warschauer Parteiführung wenig genutzt. In den Augen der Bevölkerungsmehrheit galt sie weiterhin als die Urheberin des Kriegsrechts und nicht als Initiatorin der Gespräche mit der Opposition vom Frühjahr 1989. Das kommunistische Wahldebakel vom Juni 1989 war ein deutliches Indiz hierfür. Nach ihrer äußerst schmerzlichen Niederlage vom Dezember 1981 errang die Solidarność nun einen in der Nachkriegsgeschichte Polens beispiellosen Sieg.  Das politische Ringen um die künftige Gestaltung des Landes ging aber unvermindert weiter. Es wurde jedoch nicht mehr in erster Linie zwischen der Solidarność und ihren Gegnern, sondern innerhalb der siegreichen Solidarność selbst ausgefochten. Die Analyse dieses Ringens geht aber über den zeitlichen Rahmen dieser Kolumne weit hinaus.

Leonid Luks

Der Prof. em. für Mittel- und Osteuropäische Zeitgeschichte an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt wurde 1947 in Sverdlovsk (heute Ekaterinburg) geboren. Er studierte in Jerusalem und München. Von 1989 bis 1995 war er stellvertretender Leiter der Osteuropa-Redaktion der Deutschen Welle und zugleich Privatdozent und apl. Professor an der Universität Köln. Bis 2012 war er Inhaber des Lehrstuhls für Mittel- und Osteuropäische Zeitgeschichte an der KU Eichstätt-Ingolstadt. Er ist Geschäftsführender Herausgeber der Zeitschrift Forum für osteuropäische Ideen- und Zeitgeschichte.

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