Ein lesenswerter Heine-Roman
Henning Boetius schildert in „Der weiße Abgrund“ die Sterbewochen Heinrich Heines in Paris. Sören Heim hat den Roman gelesen
Henning Boetius ist anscheinend keiner dieser Autoren, die man kennen müsste. „Man“ meint natürlich Leute, denen so etwas wichtig ist. Der gehobene Literaturbetrieb, der Suhrkamp- Intellektualismus. Boetius hat, Wikipedia und der offiziellen Biografie des Verlags zufolge, nie Preise gewonnen, stand auf keinen Short- oder Longlists oder wurde anderweitig zumindest zeitweise kanonisiert.
Kurz und gut?
Wenn ich Bücher zum Rezensieren anfrage, achte ich durchaus ein wenig auf solche Dinge. Nicht weil die Einordnung ins gehobenes Spektrum ernsthaft bessere Literatur erhoffen ließe. Doch immerhin, wenn man verreißen muss, lesen es so meist ein paar Leute mehr und man kann sich sagen, wenigstens versucht zu haben, eine Fehleinschätzung geradezurücken. Boetius‘ Der weiße Abgrund habe ich aber auch angefragt, weil es kurz ist und mich interessiert, wie „Kollegen“ mit Stoffen rund um historische Persönlichkeiten umgehen. Kurze Romane haben generell eine bessere Chance, gut zu sein. Sie legen zumindest schon einmal nahe, dass der Autor sich konzentrieren kann. Und wenn nicht, ist das Elend schneller vorbei.
Der weiße Abgrund ist, wie bereits der Titel verrät, ein „Heinrich Heine Roman“. Genauer kreist der Text um die Sterbewochen und Monate des Dichters in Paris. Zum Inhalt muss eigentlich nicht viel mehr gesagt werden. Der Text startet mit einer bilderreichen, dichten, nicht ganz genau zu verortenden Szene in Norddeutschland. Ein kleines Seestück, das die folgenden Themen schon anklingen lässt. Wäre der ganze Roman in dieser poetischen Weise verfasst, ließe das einiges hoffen. Das zweite Kapitel dämpft aber gleich die Erwartungen. Hier wirft der Autor, nun in Paris, zahlreiche Berühmtheiten zusammen und berichtet in streng naturalistischer Weise vom Umfeld Heines. Tatsächlich bekommt man im Textverlauf das ein oder andere Mal das Gefühl, mehr eine literarisierte Biografie als einen Roman zu lesen. Aber: Diese Passagen werden immer wieder aufgefangen von dichteren, mit schönen Wendungen ohne Angst vor einem leichten Pathos, der dem Gegenstand gut zu Gesicht steht, und mit der Zeit fügen sich die beiden Erzählweisen organisch zusammen, als hätte es nie anders sein können. Der Reigen berühmter Zeitgenossen, der anfangs wie simples Name-dropping wirkte, wird mit Leben gefüllt; die Figuren werfen so auch ein neues Licht auf den Protagonisten Heine, dessen Alters- bzw. Sterbenserscheinung wenig zu tun hat mit dem Bild des licht-lustigen Romantikers mit Biss, das sich seine Leser meist machen. Ein herrliches Beispiel, das auch zum Einlesen taugt, sind etwa die drei Seiten, in denen sich der Arzt Heines und der Romantiker Nerval über den Tod austauschen, ehe der Dichter schon heim ins Totenreich zu tanzen beginnt. Nerval treffen wir später noch einmal wieder als den Verbreiter bestialischen Gestanks, als physischen Todesboten bei Heine. Der Hummer, den er gern an einer Leine ausführte, ist verstorben, doch Nerval kann sich nicht von ihm trennen.
Gelungene Mischung
Das nur ein Beispiel. Boetius mischt Verbürgtes, Erfundenes, anekdotisch Erhaltenes zu einem dichten kleinen Text, auch das Seestück vom Beginn wird zum Schluss wieder aufgefangen. Das ist deutlich stärker als etwa die so viel bemühtere Romanbiografie über Virginia Woolf von Michael Kumpfmüller, die ich kürzlich besprochen habe. Und ich sehe auch nicht, wie man behaupten könnte, dass dieses Heine-Buch hinter den romanbiographischen Werken gefeierter Großschriftsteller wie Härtling oder Echenoz, etwa zu Verdi oder Ravel, zurückfallen sollte. Ja, Der weiße Abgrund scheint mir gelungener als die beiden letztgenannten Werke, die doch vor allem ein Leben nacherzählen und das mit ein paar Gefühlen aus Perspektive der Gefeierten anreichern. Boetius versucht mit seinem Werk mehr, zeichnet ein wirklich vielschichtiges Bild und das mit einer Leichtigkeit und L e s b a r k e i t, die diesen Roman und damit ein paar interessante Gedanken über Leben, Sterben und Dichtung für wirklich alle Leser zugänglich macht, die sich dafür begeistern können. Der weiße Abgrund ist prätentionslos, ja, aber man wird nie den Drang verspüren, das Buch aus der Hand zu legen. Ich sehe wirklich nicht, warum nicht auch ein solcher Text für Buchpreise in den Blick genommen werden sollte, statt immer wieder diese literarischen Experimente zu bemühen, die eigentlich einfachen Stoffen unnötige Zugangsbeschränkungen in den Weg bauen, und die in ihrem Experimentieren ja noch nicht einmal originell sind, sondern als Modernismus mit angezogener Handbremse das wirklich Wagemutige, was seit Beginn des 19. Jahrhunderts vorgelegt wurde, vorverdaut für das Bildungsbürgertum erträglich machen. Und dann teils noch mit Stoffen kombinieren, bei denen kaum ersichtlich ist, warum sie nach gerade dieser Form verlangen. Der weiße Abgrund dagegen ist zugänglich, doch gut geschrieben. Durchaus modern, ein Text, der einerseits nach 21. Jahrhundert klingt, andererseits jedoch so, dass die Figuren aus dem 19. darin nicht wie Fremdkörper wirken. Nein, dieser Roman müsste keinen Preis gewinnen. Aber es wäre auch kein Fehler, täte er es. Und den Autor darf man sich zur häufigeren Lektüre merken.
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