Rückblickende Reisetagebücher – IV: Per Anhalter nach Budapest

Kolumnist Sören Heim blickt auf Reisen mit dem Rad und per Anhalter zurück. Im vierten Teil geht es erst an den Plattensee, dann nach Budapest.


Meine letzte Reise per Anhalter, es müsste im Sommer 2007 gewesen sein, hatte ursprünglich kein genaues Ziel. Richtung Osten sollte es gehen, mal schauen, wohin mich das Wegglück verschlägt. Startpunkt war wieder die Raststätte Bensheim, die ich schon kannte und mit dem ersten Fahrer, der mich mitnehmen wollte, war eine Entscheidung bereits getroffen. Bis nach Kezhtely wollte mich der gut gelaunte ältere Arbeiter einer Chipsfabrik (die zum Essen, nicht für Computer) bringen, dort hätte ich es schön und wenn nicht könnte ich weiter Richtung Budapest fahren. Er selbst wollte in die Heimat im südlichsten Ungarn (ich glaube nach Pécs), und hatte dafür einen ganzen Kofferraum voll Chips mitgebracht. Viel unterhalten konnten wir uns nicht, er sprach kaum Deutsch, ich gar kein Ungarisch, aber mit Satzfetzen, Gesten und Kartoffelchips wurde es dennoch eine ganz angenehme Fahrt in einem winzigen Auto. Als er mich schließlich in Kezhtely verabschiedete, stolperte ich erst auf einen kleinen Rummel, wie ich sie von meinen Campingurlauben als Kind am Atlantik kannte. Ein paar Arcade-Maschinen und eines dieser Spiele mit Greifhaken unter freiem Himmel. Es war spät und wenig los, doch ein Campingplatz war ganz in der Nähe, wo ich übernachten konnte und mich noch ein bisschen mit meinem frisch gelernten Russisch in der Konversation mit einem Freund des Betreibers versuchte (alle Fotos wieder von Pixabay, da ich damals keine Kamera besaß).

Wandern am Plattensee

Obwohl es sich beim Plattensee um ein sehr touristisches Gebiet handelt, gab es wenig Autoverkehr, der mich irgendwohin hätte weiterbringen können. Doch die Gegend ist tatsächlich wunderschön. Und so entschloss ich mich, einen Wandertag einzulegen. Am Nordufer entlang ging es langsam westlich, ich denke etwa 30 km ging ich so immer ein wenig bergauf, bergab, genoss die Aussicht auf den See, erkundete zwischendurch malerische kleine Ortschaften, die alle Balaton- im Namen tragen, und aß hier und dort eine Kleinigkeit. Es gibt viele Werbeschilder, auf denen Anwohner handgeschrieben auf Deutsch ihre Dienste Touristen anbieten. Das Schönste war eine Anzeige für „Um Kraut Rodeln“, eine Sportart die ich als ungarischen Wiesenslalom immer noch gern einmal in die Wirklichkeit überführt sehen würde.

Am späten Nachmittag fand ich eine Art Jugendzeltlager, das allerdings mit dreckigen Matratzen in einem einzigen großen Zelt so zu wünschen übrig ließ, dass mir die 4 Euro für die Nacht noch zu viel waren. Ich schlief dann einfach im Freien; es war angenehm warm, und man wurde nicht gestört. Am nächsten Morgen löste ich im nächsten Bahnhof am Weg ein Ticket nach Budapest, das mich nicht mehr als 10 Euro gekostet haben dürfte.

In Budapest war Nationalfeiertag. Also kam ich wohl am 20. August dort an. Es war unglaublich viel los in den Straßen, besonders am Donauufer, wo das Red Bull Air Race für ein gigantisches Spektakel sorgte. Ich driftete einige Stunden nur durchs Getümmel, erinnere mich unter anderem an eine russische Aufschrift auf einer der Donaubrücken “наташа, я люблю тебя” (Natascha, ich liebe dich), und daran, dass man auffällig viele junge bullige Männer mit kurz geschorenen Haaren sah, unter anderem auch Gruppen in schwarzen Uniformen, die keine Polizisten waren. Insgesamt kam zur ausgelassenen auch eine zunehmend aggressivere Atmosphäre hinzu, und einmal mehr scheint mir, vieles, was in Ungarn dann in den folgenden Jahren manifest wurde, ließ sich an einem solchen Tag in Budapest schon vorfühlen. Ich hörte schließlich von einem Campingplatz auf einer Donauinsel und wanderte mehrere Kilometer flussabwärts (was sich geographisch wie aufwärts anfühlt).

Nepsziget liegt schon weit ab vom Zentrum und ist eigentlich eine halbe, beziehungsweise eher eine 9/10 Insel. Man erreicht sie über eine etwas marode wirkende Brücke, nachdem man ein uniformes Viertel luxuriös wirkender Hochhäuser hinter sich gelassen hat. Linker Hand ist nach einigen hundert Metern eine ziemlich heruntergekommene Obdachlosenherberge, rechts der Campingplatz. Betrieben wird er von einem drahtigen, winzigen, älteren Mann aus Rumänien, der den ganzen Tag bei der Arbeit die wunderschönsten Melodien pfeift und mich nach einigen Tagen abends zu sich rief, um mir phantastische Zeichnungen von unzähligen Erfindungen aufzuschwatzen, die ich mit nach Deutschland nehmen sollte, wo man die „Wissenschaft“ schätze (versprochen: Ich habe mir das nicht ausgedacht). Der Platz ist etwas abschüssig, und in der ersten Nacht schlafe ich schlecht. Auch weil mehrfach eine Gruppe wahrscheinlich junger Männer über die Insel zieht, Lieder grölt, die nicht freundlich klingen und überhaupt sehr viel Krach macht.

Aus dieser Stadt kommst du nicht raus…

Da ursprünglich kein langer Aufenthalt in Budapest geplant war, packe ich am nächsten Tag zusammen und möchte weiter. Ich habe einen Stadtplan gekauft und im Nordosten eine Autobahnraststätte entdeckt, die fußläufig zu erreichen sein sollte. Es ist ein weiter Weg, doch ich wandere gerne noch ein wenig. Leider muss ich irgendwo eine Abzweigung falsch genommen haben oder die Karte falsch gelesen, zumindest stehe ich dann auf einem Autobahnabschnitt, der noch gar nicht in Betrieb genommen worden ist. Ein oder zwei Kilometer zurückgegangen und einer langen Querstraße gefolgt finde ich erst gegen Nachmittag die richtige Raststätte. Interessante Entdeckung nebenbei: „Meine“ Querstraße ist der Ort, an dem die Budapester Prostituierten auf Kundschaft warten. Denn so wirklich legal scheint das Gewerbe nicht zu sein, außerorts aber geduldet. Ich unterhalte mich relativ lang mit einer der Sexarbeiterinnen, die vor allem Spaß daran zu haben scheint, mich zu necken. Wir bräuchten doch kein Auto, um, na, du weißt schon… Ich hätte aber kein Geld, sage ich. Naja, sagt sie, das bräuchten wir schon.

Die Raststätte ist zum Trampen ein eher unangenehmer Ort. Erstens: Die meisten Autos fahren nach Budapest, nicht weiter Richtung Debrecen, das ich mir als nächstes Zwischenziel ausgeguckt habe. Zweitens: Hier gibt es noch Tankwarte an den Tankstellen, die mein Ansprechen der Reisenden nicht gern zu sehen scheinen. Drittens: Der große Parkplatz hinter der Tankstelle scheint auch ein Hangout-spot für Jugendliche und junge Männer zu sein, die trinken, verschiedene Dinge verkaufen, darunter auch Messer, und sich dabei stark fühlen oder zumindest versuchen, diesen Eindruck zu erwecken. Als es dunkel wird, entscheide ich mich, aufzugeben und finde nach kurzem Fußmarsch tatsächlich eine Buslinie, die mich fast wieder bis nach Nepsziget bringt. Mein Platz auf dem Campingplatz ist noch frei und ich verbringe dort vielleicht noch drei, vier oder fünf weitere Nächte.

Den Rest der Reise Tag für Tag aufzuschlüsseln, fällt mir schwer. Ich verbrachte einen Tag damit, zu Fuß auf die riesige Anlage des Burgbergs mit seinen zahlreichen Prachtbauten aus mehreren Jahrhunderten zu wandern, durchs Burgviertel zu streifen, den Blick über die Stadt zu genießen, etwas zu lesen und die beeindruckenden Bauwerke von allen Seiten zu bestaunen. Ich stieg auch auf den anderen Berg, wo die Zitadelle thront. Außerdem hing ich einen Nachmittag auf den Wiesen beim Parlament herum, wo junge Leute in Gruppen in der Sonne liegen. Mit der U-Bahn fuhr ich zu einem hübschen kleinen Schloss, etwas weiter östlich im Stadtgebiet an einem See gelegen und von einem Wassergraben umschlossen. Ich machte einmal den Weg von meiner Schlafinsel Nepsziget über Obuda-Sziget und Margit Sziget an den Ufern entlang praktisch bis zum entgegengesetzten Ausgang der Stadt. Es war nicht viel los auf den Donauinseln, herrliche Stille, durchdrungen natürlich von den typischen Stadtgeräuschen, Schiffen, Zügen, Autos an den Ufern,  ein wundervolles Gartenparadies.

Beim Umherstreifen fielen immer wieder schroffe gesellschaftliche Gegensätze auf. In einer Art Graben zwischen zwei höher gelegenen Straßen etwa entdeckte ich ein kleines Zeltdorf, das sich stark gegen Blicke von außen abgeschottet hatte. Schon auf meiner Odyssee zur Raststätte am ersten Tag war ich an einer ähnlichen, aber zerstörten Installation vorbeigekommen. Mit einem der Obdachlosen von der Herberge gegenüber des Campingplatzes konnte ich mich auf Englisch unterhalten, ihn traf ich auf dem Burgberg wieder. Er erzählte mir, dass die Bettler genau darauf achten müssten, wo die Polizei gerade ihre Runden mache, denn sonst könnte man schnell Probleme bekommen. Überhaupt wolle die Stadt die Obdachlosen weit möglichst aus dem Zentrum heraus haben, deshalb auch die völlig unzureichende Herberge relativ abseits.

Wo ist das Nachtleben?

Die Abende waren nach den Erfahrungen in Barcelona enttäuschend. Es gibt Kneipen und Cafés, doch auf der Straße ist nicht sehr viel los. Einmal treffe ich eine Gruppe von Straßenmusikern mit Fahrrädern, die berichten, schon mehrfach weggejagt worden zu sein, Straßenmusik ist wohl auch nicht erwünscht – ich zumindest höre in meinen Tagen in Budapest nicht einen. Die Gruppe ist auf Fahrrädern unterwegs, kommt gerade von Bratislava, das eine wunderbare Stadt sei für unabhängige Künstler, und plant, so schnell wie möglich weiter zu fahren. Man empfiehlt mir ein Viertel irgendwo außerhalb, das relativ alternativ geprägt sein soll und ein weniger reguliertes Nachtleben kennt, doch ich finde es weder auf der Karte noch auf gut Glück in der Stadt. So laufe ich tags viel und gehe früh ins Bett.

Nach einer knappen Woche bietet sich die Gelegenheit, mit einer deutschen Familie, die auf dem gleichen Platz kampiert hat, ein Stück des Weges gemeinsam zurück Richtung Heimat zu fahren. Später, schon in Deutschland, nimmt mich dann eine Wienerin in Ausbildung zur Opernsängerin mit,  deren größtes Anliegen es sei, wie sie sagt, „Deutsch zu lernen“, denn ihr Akzent werde auf der Bühne nicht akzeptiert. Wie es weiter ging Richtung Heimat, habe ich vergessen, es wird also ein ereignisloser einfacher Rückweg gewesen sein. Eine nette Reise, die nicht die gleichen intensiven Eindrücke hinterließ wie Barcelona oder die Radtouren. Architektonisch allerdings ist Budapest einer der absoluten Höhepunkte Europas. Städte, die in ihrer Ganzheit eine solche ästhetische Wirkung entfalten, dürften selten sein.

Seitdem bin ich nicht noch einmal eine größere Strecke per Anhalter gefahren. Schon allein, weil das Leben immer weniger Zeit lässt zu ungeplanten Reisen. Manchmal verspüre ich die Lust, und tatsächlich habe ich für eine Strecke auch nie länger als gute 24 Stunden gebraucht (knappe Ausnahme: das erste Mal, als wir die Regeln des Trampens noch lernen mussten), aber es stellen sich doch noch ein paar weitere Hürden in den Weg. Etwa: Würde man mit Mitte 30 noch so mitgenommen werden wie mit Anfang 20? Und was, wenn doch einmal etwas passiert? Damals war mir das relativ egal. Man fühlt sich, wie schon gesagt, unverwundbar in diesem Alter und das eigene Leben zählt einem nicht viel, da man wenig angesammelt hat, von dem man glaubt, dass es zu bleiben verdient. Es wäre wohl machbar, und bei Licht betrachtet, ist das Risiko überschaubar. Aber selbst im besten aller Fälle graust mich derzeit allein der Gedanke, was Lebensrhythmus und unorthodoxe Schlafgelegenheiten mit meinem Rücken anstellen würden…

Sören Heim

Sören Heim ist Journalist, Übersetzer und Schriftsteller. Er ist Träger des kosovarischen Preises für moderne Dichtung „Pena e Anton Pashkut“ (Stift des Anton Pashku) und des Sonderpreises „Favorit von Daniel Glattauer“ der art.experience 2014. In HeimSpiel schreibt Sören Heim mit Heimvorteil zu den Schnittpunkten von Kunst, Kultur und Gesellschaftspolitik. Er beleuchtet die unerwartete Bedeutung ästhetischer Fragestellungen für zeitgenössische Debatten, die mit Kunst auf den ersten Blick kaum Berührungspunkte haben. Und wo immer, sei es in der Politik, sei es in der Ökonomie, sei es gar im Sport, er auf geballten Unsinn und Unverstand trifft, wagt der Kolumnist auch das ein oder andere Auswärtsspiel. Bisher erschien die Kolumne HeimSpiel im Online-Debattenmagazin The European. Daneben veröffentlicht Heim in mehreren Literaturzeitschriften vornehmlich Lyrik und dichte Kurzprosa, und bloggt auf der eigenen Homepage aus seinem Zettelkasten. Monographien: Kleinstadtminiaturen: Ein Roman in 24 Bildern. Girgis Verlag: 2016 – ISBN: 978-3939154181.Cover nur Front Gewogene Worte: Nachdichtungen aus dem Chinesischen. edition maya: 2016 – ISBN: 978-3930758463.cover kathaStrophen. Experimente in Rhythmus und Melodie. Chiliverlag: 2017 -ISBN: 978-3943292541.FrontCover 2_bleu Algenhumor: Gedichte für das dritte Jahrtausend. Girgis Verlag: 2016 – ISBN: 978-3939154228.algen Audio-Exklusiv: La vie! La jeunesse! – Hörmordkartell 2017

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