Rückblickende Reisetagebücher – III – Zweimal als Tramp nach Barcelona (2007)

Kolumnist Sören Heim blickt auf Reisen mit dem Rad und per Anhalter zurück. Im dritten Teil der Serie trampt er zweimal nach Barcelona, bekommt den Rucksack geklaut und hat ein Messer am Hals.


Im April 2007 begann ich meine zweite Anhalter-Reise. Diesmal sollte es nach Barcelona gehen, eine Stadt, die für einen jungen, politisch und an Kunst interessierten Menschen besondere Lockungen bietet. Kaum ein Ort scheint so eng mit der neueren Geschichte des utopischen Denkens in Europa verwoben wie Barcelona. Und während sich langjährige Bewohner vor allem darüber aufzuregen scheinen, was sich alles verändert hat, fällt dem zeitweisen Besucher vorteilhaft ins Auge, was alles gleich geblieben scheint und selbst noch an Beschreibungen aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erinnert: Noch immer keine Wolkenkratzer im Stadtzentrum und kaum außerhalb, mit Ausnahme dieses einen penisförmigen Turmes. So unglaublich viel Kunst überall in den Straßen, aktive Künstlerinnen und Künstler auf der Rambla, kunstvoll gestaltete Fassaden überall, die Gaudí-Häuser. Kostenlose Parks und Museen und so weiter und so fort. Mein Tagebuch von damals habe ich tatsächlich wieder gefunden, deshalb folgt hier im Großen und Ganzen der Originaltext, ein wenig überarbeitet, um das Ganze wenigstens halbwegs stilistisch den anderen Reisebeschreibungen anzugleichen.

Der Aufbruch / Joacquin

Los ging es an einem kühlen Frühlingstag auf einer Raststätte bei Bensheim, die nicht ideal gewählt war, was zu einem 5 Kilometer Gewaltmarsch durch eisigen Wind über freies Feld zwang. Immerhin wusste ich diesmal gleich: Ein Tramp gehört auf die Autobahn. Von Bensheim brachte mich eine Gruppe Spanier, die mir erzählten, dass es in Spanien legal sei, ein Zelt einfach in die Landschaft zu stellen, bis Saarbrücken. Von Saarbrücken brachte mich sogleich eine ältere Dame mit 68er-Vergangenheit weiter bis Nancy. Sie erzählte von der kommenden Wahl in Frankreich, der schwammigen Position der Sozialisten und der Gefahr, dass Le Pen immer mehr enttäuschte Arbeiter aufsaugen könnte [Ja, das konnte man 2007 schon voraussehen]. Nancy sei eine schöne Stadt, ich solle sie mal besuchen, entließ sie mich wenige Kilometer vor der Stadt auf einen Rastplatz. Von dort brachte mich ein wortkarger Alter in die Nähe von Dijon. Es ging schleppend weiter, mit wechselnden Fahrerinnen und Fahrern.

Hinter Lyon ruhte ich ein paar Stunden, bis ich gegen frühen Abend Uhr einen Trucker auftat, der gen Barcelona unterwegs was. Joaquin sprach gut Französisch und ein wenig Englisch und hatte, wenn ich nicht gerade schlief, einiges zu erzählen, wovon ich leider vieles sofort wieder vergaß. In Erinnerung ist mir geblieben, dass jede Raststätte in Frankreich kostenloses Internet bereitstelle, dass Joaquin mal Politik studiert hatte, jedoch, weil er es liebte, zu fahren, nun schon seit dreißig Jahren am Steuer saß. Er war Busfahrer auf Mallorca, in ganz Europa unterwegs gewesen und macht nun die Route Deutschland – Spanien für MAN. Zu Sowjetzeiten hatte er ab der russischen Grenze immer einen Milizionär bis in der Hauptstadt kutschieren müssen und samt Einkäufen wieder zurück.

Joaquin brachte mich auf einer kurzweiligen langen Tag- und Nacht-Tour bis hinter Girona, wo wir gemeinsam noch ein Bier tranken. Über einen kleinen Touristenort erreichte ich schließlich mit der Bahn Barcelona, Plaça Catalunya.

Der erste Tag dort ist kaum erzählenswert, es regnete durchgängig, ich saß eine Zeit lang in Cafés, trank zwei kleine Bier, fand keinen Platz zum schlafen, und verließ schließlich enttäuscht die Stadt, um einen Vorort mit Raststätte aufzusuchen. Vielleicht wäre es ja im Süden schöner. In dem Ort, ich habe den Namen vergessen, streifte ich, der letzte Zug war schon weg, Stunden umher. Party überall, aber keine einzige Parkbank zum schlafen. Der Versuch, mein Zelt in die Pampa zu stellen, wie es mir meine erste Mitfahrgelegenheit erzählt hatte, scheiterte überall an Umzäunungen. Rund um Barcelona gibt es kaum öffentliches Land. Wenn es im Ort eine Fläche zum Liegen gab, die dazu überdacht war, war sie mit kaltem Eisen beschlagen. Und es war arschkalt in der Nacht. Zuletzt entwickelte ich eine Technik, auf dem Schlafsack sitzend, an den Rucksack gelehnt, zugedeckt mit meinem Mantel, ein wenig zu ruhen. Da ich auch am nächsten Tag keine Möglichkeit zur Umkehr oder Weiterreise fand, beschloss ich, Barcelona noch eine Chance zu geben. Und siehe da, ab dem frühen Mittag brannte die Sonne, und als ich am Nachmittag in Sants eintraf, zeigte die Stadt ein deutlich freundlicheres Gesicht. Das lag nicht zuletzt daran, dass ich zwei Tramper kennenlernte, mit denen ich die kommenden Tage herumziehen sollte. Die junge Frau, die sich mal Marie, mal Celine, meist Sel, nannte, sprach mich ob unserer ähnlich gigantischen Rucksäcke am Bahnhof an, und wir kamen ins Gespräch. Sie war auf dem Weg zu einem Tanzwettbewerb, irgendwo in Barcelona, am Strand und das ohne Anmeldung oder überhaupt genauere Informationen. Bald stieß dann Gwen zu uns, und wir machten uns, meist zu Fuß, auf die Suche nach der ominösen Veranstaltung. Das Unterfangen wurde ohne größeren Elan betrieben, an der Sagrada Familia sowie an jedem Spielplatz rasteten wir, machten Musik und probierten die Geräte aus. Oder wir tranken Bier und rauchten. Gwen spielte Gitarre und sang Chansons von Brel, Brassens, Vian und La Rue Ketanou, die mich bis heute begleiten.

Zwei neue Mitreisende

Am Forum, ganz im Südwesten der Stadt (wir hatten mittlerweile mit Hilfe eines Internet-Cafés eine Art „Steckbrief“ des Events gebastelt) erklärte man uns, nachdem wir das Personal für eine knappe Stunde auf Trab gehalten hatten, dass die gesuchte Veranstaltung wahrscheinlich in Girona stattfände und längst begonnen habe. Planänderung, Strand. Schlafen bis Abend. Dann sollten irgendwelche Freunde von Gwen und Sel gesucht werden, die in einer zweiten Gruppe unterwegs waren. Es bot sich ein ähnliches Bild wie bei der ersten Suche: Rumhängen, Musik, und bloß nicht auf die Karte schauen, am Ende könnte man ja noch ein Ziel erreichen und die schöne Suche wäre vorbei. Als ich die Karte dann doch irgendwann mal genauer konsultieren durfte, entdeckte ich den Platz, der unser Treffpunkt hätte sein sollen, schnell, ein Buchstabendreher, nichts weiter. Leider (oder zum Glück?) war der Zeitpunkt des Treffens längst verstrichen… Wir hingen bis nachts um drei auf den Ramblas rum, redeten, träumten, rauchten, bis es Zeit wurde, einen Schlafplatz zu finden. Gwen führte uns in ein offenes Haus direkt auf dem Plaça Catalunya, wir stiegen bis oben und machten uns im Flur breit. So schliefen wir vor der Haustür eines Doktors ein, den das wohl nicht sehr erfreut hat. Denn am nächsten Morgen weckten uns zwei Polizisten. Die wurden gleich sehr freundlich, als wir Französisch sprachen. Die Polizei war damals wohl angewiesen, sanft mit Touristen umzugehen. Man nahm zwar unsere Personalien auf, kapitulierte ansonsten aber vor dem Gestank unserer Füße.

Den zweite Vormittag verbrachten wir in Cafés, wo Gwen sang, und bei Buchhändlern auf der Straße. Am Plaza del Theatro hingen wir Nachmittags rum, jonglierend und die Gitarre herumwandern lassend, oder einfach lesend. Später brachen wir auf, um im Park Güell Bier zu trinken. Der schwere Aufstieg lohnte sich, es gibt wahrscheinlich kaum einen schöneren Ort, um den Sonnenuntergang in Barcelona zu genießen. Nur unser Bier hätten wir nicht mühevoll mitschleppen müssen. Es gab einen kleinen Supermarkt am Eingang.
Ich weiß nicht, wie viel hier Erinnerung ist, und wie viele der Bilder vom nachträglichen Betrachten (fremder) Fotografien stammen. Doch es gibt sicher wenig Schöneres als diesen Ausblick. Im Park zu sitzen zwischen diesen surrealen Bauten mit den vielen bunten Mosaiken und den Blumen rundherum. Bierflaschen kreisen zu lassen und dabei den Blick fast über ganz Barcelona schweifen lassen zu können. Seinen Weg von oben nachvollziehen über die Ramblas bis zum Hafen, am Strand entlang zum Forum, zur Sagrada Familia. Über den Penis-Turm lachen und mit Menschen, die man erst vor ein paar Tagen getroffen hat, sprechen, als kenne man sie schon sein ganzes Leben, sich dabei aber gleichzeitig noch unendlich viel zu sagen haben, weil man in dem Moment alles teilt. Den Alltag, die Träume, das Gefühl jung und unverwundbar zu sein und die Überzeugung, dass die Welt irgendwann für alle so gut sein könnte wie für uns drei in diesem Moment.

Gwen und ich tauschten uns lang über Weltanschauungen und Lebensziele aus. Er selbst plante so etwas wie eine bewegliche Kommune von Straßenkünstlern und wollte demnächst mit dem Schiff Richtung „Irgendwo in Lateinamerika“ weiter „trampen“. Sel schlief. Nach einigen weiteren Stunden in den Straßen brachen wir mit dem letzten Zug nach Castelldefels auf, wo wir endlich die ominösen Freunde treffen sollten.

Der Typ mit dem Messer

Im Zug hatte ich eine ziemlich unangenehme Begegnung. Ein einheimischer Jugendlicher schmeißt mir immer wieder das gleiche Wort in fragendem Tonfall hin. Er hat rote Augen und wirkt überhaupt ziemlich fertig. Wir versuchen mit Gesten abzuwiegeln und ihn ansonsten zu ignorieren. Doch plötzlich hat er so ein kleines Butterfly-Messer in der Hand und hält es mir an die Kehle. Ich mache das einzige, was ich in dem Moment wohl machen kann, und halte einfach ganz still. Und dann fängt Gwen in seinem etwas sonoren, immer unglaublich gemütlichen, Tonfall an zu sprechen. Ich weiß nicht, ob auf Spanisch oder auf Französisch und ob das einen Unterschied machen würde, da der Typ uns wahrscheinlich auf Katalanisch angesprochen hat (ich habe kein Wort verstanden). Und je länger Gwen spricht, desto ruhiger wird der andere, und irgendwann verzieht er sich einfach. Vielleicht hat er zum Abschied von uns noch eine Dose mit Bier bekommen. Ich bin mir nicht sicher. Ein gruseliger Moment, an den ich mich trotzdem mehr als tolle Geschichte erinnere denn als an einem Moment, in dem ich tatsächlich Todesangst ausgestanden hätte. Vielleicht ist das einfach so, dass spontan ganz real bedrohliche Situationen nicht als angsteinflößend erfahren werden, sondern als etwas, das man nun entweder lösen kann oder eben nicht. Oder aber: Die ganze Szene war einfach zu verrückt, als dass man sie als Ernst erinnern könnte. Eher wie an einen Kurzfilm über einen Verrückten und einen Prediger, den man im Zug zwischen Barcelona und Castelldefels gesehen hat.

Der Abend war dann sowieso die größere Katastrophe: Ich fand keinen Zugang zu dieser eher „hippen“ Crowd. Auch war es eine Schnapsidee, am Strand zu pennen. Es war eiskalt und windig. Schließlich beschloss ich, allein Castelldefels zu erkunden, das mehr einem Jahrmarkt für Touristen glich, der leider schon geschlossen hatte. Später zogen wir uns doch noch alle zusammen in ein leerstehendes Gebäude zum Schlafen zurück. Ich schlief im Hof, hatte keinen Bock auf noch mehr Polizeikontakt… Am nächsten Tag fuhr ich früher zurück nach Barcelona und schlief vor Sants in der Sonne, bis wir gegen 14 Uhr wieder gemeinsam unsere Sachen aus dem Bahnhofsschließfach holten. Nachdem wir Nummern ausgetauscht hatten, trennte ich mich von meinen Mitreisenden. Ich hing noch bis 18 Uhr auf der Rambla rum.

Heimwärts

Ich habe die Ramblas bis jetzt hier und da als Kulisse erwähnt, doch dieser Moment vollendeter Einsamkeit, wenn die Freunde der letzten Tage einen höchstwahrscheinlich für immer verlassen haben, ist vielleicht der beste, um noch einmal in dieses überwältigende Schauspiel zu versinken und auch die Leser mitzunehmen: Da stehen die Pantomimen dicht an dicht gedrängt und dazwischen haben sich Obdachlose mit kleinen Hunden hingesetzt, die auf diese Weise noch besser abkassieren als die Künstler selbst. MalerInnen zeichnen in einem irrwitzigen Tempo und in den verschiedensten Stilen von der Karikatur bis zum realistischen Portrait Touristen oder einfach die Szenerie. Es gibt dort einen Dichter, der bis heute in meiner Vorstellung so groß steht, wie ansonsten vielleicht höchstens noch Walt Whitman. Eine quasi mythische Figur, ein Faun eher, als ein Mensch. Malinowski ist groß, breit, hat wallendes lockiges Haar und einen riesigen Bart. Er verkauft Bücher und kleine Kärtchen mit seinem Gedichten und steht (stand?) jeden Tag auf der Rambla. Heute hat er auch eine Facebook-Präsenz, doch ist er anscheinend im Ganzen viel weniger bekannt, als ich damals dachte. Und dann gab es natürlich noch die Vogel-Verkäufer. Vom kleinen Finken über Beos und Kakadus bis zum riesigen Ara. Der Teil der Rambla, der den Vögeln gewidmet war, war ein gigantisches Schauspiel, eine Kakophonie aus buntem Gefieder und Geschrei von Menschen und Tieren und gleichzeitig mit den kleinen Käfigen und den Gedanken daran, welche Zukunft diese Vögel wohl bei Menschen erwartet, die dort ihr Haustier kaufen, auch ein unendlich trauriger Ort. Wie ich von dort kommend aus den Farben, der Wärme, dem wilden Leben langsam in die Dunkelheit der U-Bahn-Station am Placa Catalunya trottete, von wo immer ein kühler Wind aufwärts weht, hat sich mir eingebrannt wie die Szene aus einem Film.

So verließ ich schweren Herzens am frühen Abend die Stadt in Richtung Matorell, wo ich vom Zug aus am ersten Tag eine Raststätte ausgemacht hatte. Dort gab es auch einen Fluss, an dem ich wohl tatsächlich hätte campen können, abgesperrt war dort nichts, und zahlreiche Brücken in der Pampa, die genügend Schutz zum schlafen boten. Allerdings auch die erste und einzige Hakenkreuzschmiererei der Reise. Um auf die Raststätte zu gelangen musste man ein weitläufiges Industriegebiet durchwandern und ein wenig klettern. Dann aber war die Rückreise ein Leichtes. Ein netter freier ZDF-naher Journalist, mit dem ich mich beim Fahren abwechselte, brachte mich durch die Nacht und den nächsten Tag bis Bruchsal, wo mich direkt jemand bis quasi vor die Haustür mitnahm. Wahrscheinlich gibt es keine Woche, aus der ich seitdem mehr Geschichten, mehr Gedichte geschöpft habe.

Als Tramp nach Barcelona II

Nach Barcelona zog es mich wenige Monate später gleich noch ein zweites Mal. Die Anreise versuchte ich diesmal jedoch über den Genfersee, was dazu führte, dass ich wenig später auf der wahrscheinlich am wenigsten befahrenen Autobahn Frankreichs strandete. Der Genfer See am Morgen ist aber ein Anblick, der das fast wert ist. Ich musste richtiggehend betteln bei dem einzigen Trucker, den ich überhaupt antraf, bis er mich dann sogar abseits seines Weges auf eine Raststätte brachte, die wieder direkt an der Route du Sud lag. Dort nahm mich aber dann bald ein älteres Ehepaar im VW-Bulli auf, das bis nach Südspanien runter wollte. Die ließen mich dann tatsächlich erst wieder mitten in Barcelona raus. So schaffte ich die Strecke doch wieder in etwa innerhalb von 24 Stunden.

Der Rest dieser Reise besteht in der Erinnerung nur noch aus Schlaglichtern. Aufzeichnungen finde ich keine mehr. Ich erinnere mich, dass am ersten Tag jemand auf der Rambla meinen Namen rief, und ich traf eine Studienkollegin, die allerdings Pläne hatte und bald abreiste. Ich hoffte hinter jedem großen Rucksack Gwen und Celine zu entdecken, doch das war nicht der Fall. Ich selbst war recht schüchtern, wenn es darum ging, Leute anzusprechen, und so legte ich mir einen eigenen Tagesablauf zurecht. Tagsüber hing ich auf den Ramblas rum, schrieb manchmal Gedichte, las, und kam mit Menschen ins Gespräch, die mich ansprachen. Besonders mit den Obdachlosen konnte man viel Spaß haben, die meisten sind mehrsprachig und halten sich ganzjährig in Barcelona auf oder noch weiter südlich wegen des für Menschen, die auf der Straße schlafen, vorteilhaften Klimas. Der interessanteste Typ war ein schwedischer Punk, ich schätze Mitte 40 bis 50, mindestens fünfsprachig, der wohl eine kleine Invalidenrente hatte und in verschiedenen Großstädten Europas auf der Straße lebte. In Barcelona war er am liebsten.

Wenn man nicht so dreist ist wie Gwen und Celine, also nicht einfach in den Fluren offen stehender Häuser schläft, ist es gar nicht so einfach, einen Ort zum Übernachten zu finden. Nachts ist viel Polizei in den Straßen des Zentrums, und um die Stadt schick für Touristen zu machen, werden die Pflaster tatsächlich nächtlich abgespritzt. Ich traf noch eine weitere Anhalter-Reisende mit einem kleinen Kaninchen, die aber allein weiter auf die Suche nach einem Schlafplatz gehen wollte. Ich entwickelte schließlich einen Plan, den ich beibehielt:
Ich kaufte mir zum Spottpreis zehn Tickets für das U-Bahn-Netz. Blieb dann so lang wie möglich auf den Ramblas, meist bis nachts um zwei oder drei. Man langweilt sich dort wirklich nie. Immer gibt es etwas zu beobachten, immer spricht einen jemand an. Man lernt, wie sich die Prostituierten zu erkennen geben, die sich anscheinend nicht zu eindeutig kleiden dürfen, man wundert sich über die Bierverkäufer (warum kauft niemand sein Bier rechtzeitig im Supermarkt!?), man hört unglaublichen Virtuosen auf der Gitarre zu oder einem arabisch sprechenden Dichter, der auf Zuruf seiner Freunde wundervoll wohlklingende Texte improvisiert (oder zumindest glaube ich, das ist, was da geschah. Ich verstehe die Sprache ja nicht). Mit dem letzten Bus, einer Linie, die einmal rund durch die Stadt fährt, schlug ich dann noch eine knappe Stunde tot, ehe ich wieder am Hauptbahnhof ankam. Dort schlief ich, solange man mich ließ. Wenn mich Sicherheitskräfte als „Penner“ rausschmeißen wollten, zeigte ich mein Ticket vor, meist war es dann auch schon Zeit, mit einer der ersten U-Bahnen zum Strand zu fahren. Dort noch ein bisschen im Sand schlafen, um wach zu werden ins Meer springen, Tagesablauf wiederholen. Ich erkundete viel von Barcelona zu Fuß, trieb mich auf den Bücherflohmärkten herum und noch dazu schien jeden Tag die Sonne. Nur einmal drohte die Reise übel zu kippen. Da saß sich in einem Internetcafé und schrieb ein paar E-Mails, als ich aus dem Augenwinkel einen großen Rucksack zur Tür hinausgehen sah. Faszinierend, dachte ich im ersten Moment. Der hat den gleichen Rucksack wie ich. Sogar mit den gleichen ungewöhnlichen Modifikationen (Plastikplanen gegen etwaigen Regen und ähnliches). Es war, als könnte ich mich selbst beim Denken beobachten, bis mir endlich klar wird: Scheiße, dir hat jemand den Rucksack geklaut! Hätte ich dann noch ein wenig nachgedacht, hätte ich ihn wahrscheinlich laufen lassen, man weiß ja nie, was das für ein Typ ist. Aber stattdessen renne ich ihm hinterher und Überraschung, mit so einem Rucksack läuft es sich ziemlich schlecht. Also habe ich ihn bald eingeholt und es braucht nicht viel Kraft, um ihn an diesem schweren Gerät zu Boden zu reißen. Jetzt käme der Moment, in dem alle möglichen schlechten Ausgänge denkbar wären. Aber zum Glück verpisst sich der Dieb, der ja auch keine Ahnung hat, was für ein Typ ich bin.

Und viel mehr habe ich nicht zu erzählen. Mein zweites Mal Barcelona war schön, aber ereignislos. Die Abreise erfolgt wie beim ersten Mal über Matorell. Zu Fuß durch das große Industriegebiet, dann auf die bekannte Autobahn-Raststätte, und hoffen, dass einen jemand mitnimmt. Der Typ, der mich mitnahm war allerdings unerträglich. Ein Trucker, mit dem ich mich anfangs recht angeregt unterhielt, da er sich immerhin recht viele Gedanken über die Welt und Zusammenhänge und so weiter machte. Nach einer knappen halben Stunde waren wir von moderater Kritik an politischen Verhältnissen allerdings bereits bei den übelsten verdeckten und offenen antisemitischen Verschwörungstheorien gelandet, und zum ersten und einzigen Mal beim Trampen sagte ich jemandem, dass ich nicht weiter mit ihm fahren wolle. Er ließ mich raus in La Jonquera. Das ist eine gigantische Raststätte mit damals angeblich 70 000 Stellplätzen und 6 Bordellen, von der mir auf der vorangegangenen Reise Joaquin schon das ein oder andere erzählt hatte. Ich war gezwungen, dort zu übernachten, und es war wirklich gruselig. Auf der Suche nach einem Platz, der sich halbwegs sicher anfühlte, fand ich mehrfach Unterwäsche und leere Portemonaies im Gestrüpp neben der Fahrbahn, manchmal hörte man Leute sich streiten und Prostituierte gingen in Zweier-Gruppen von Truck zu Truck auf der Suche nach Kundschaft. Mit einem solchem Pärchen versuchte ich ein paar Worte zu wechseln, vielleicht einen Tippe für einen sicheren Schlafplatz zu bekommen. Doch die beiden waren so heftig auf welchem Stoff auch immer, dass das hoffnungslos war.

Ich lehnte mich irgendwann zum Schlafen an die rückwärtige Außenwand einer Tankstelle, machte aber kaum ein Auge zu. Im Verlauf des Morgens fand ich dann irgendwann endlich jemanden, der mich von diesem Ort wegbrachte (der zugegeben bei Licht auch nicht mehr ganz so bedrohlich wirkte), und der Rest der Heimreise verlief dann recht problemlos. Zwischen Metz und Saarbrücken nahm mich sogar noch ein junger Fußballspieler mit, der mir auch erst ein wenig Sorgen machte, da er ständig telefonierte und bald von der Strecke abwich, über die wir eigentlich gesprochen hatten. Doch letztendlich stellte sich heraus, dass er versuchte, mich an einen günstigeren Ort zum Weiterreisen zu bringen. So kam ich bald bis Saarbrücken. Dort nahm ich dann den frühesten Zug nach Hause.

Sören Heim

Sören Heim ist Journalist, Übersetzer und Schriftsteller. Er ist Träger des kosovarischen Preises für moderne Dichtung „Pena e Anton Pashkut“ (Stift des Anton Pashku) und des Sonderpreises „Favorit von Daniel Glattauer“ der art.experience 2014. In HeimSpiel schreibt Sören Heim mit Heimvorteil zu den Schnittpunkten von Kunst, Kultur und Gesellschaftspolitik. Er beleuchtet die unerwartete Bedeutung ästhetischer Fragestellungen für zeitgenössische Debatten, die mit Kunst auf den ersten Blick kaum Berührungspunkte haben. Und wo immer, sei es in der Politik, sei es in der Ökonomie, sei es gar im Sport, er auf geballten Unsinn und Unverstand trifft, wagt der Kolumnist auch das ein oder andere Auswärtsspiel. Bisher erschien die Kolumne HeimSpiel im Online-Debattenmagazin The European. Daneben veröffentlicht Heim in mehreren Literaturzeitschriften vornehmlich Lyrik und dichte Kurzprosa, und bloggt auf der eigenen Homepage aus seinem Zettelkasten. Monographien: Kleinstadtminiaturen: Ein Roman in 24 Bildern. Girgis Verlag: 2016 – ISBN: 978-3939154181.Cover nur Front Gewogene Worte: Nachdichtungen aus dem Chinesischen. edition maya: 2016 – ISBN: 978-3930758463.cover kathaStrophen. Experimente in Rhythmus und Melodie. Chiliverlag: 2017 -ISBN: 978-3943292541.FrontCover 2_bleu Algenhumor: Gedichte für das dritte Jahrtausend. Girgis Verlag: 2016 – ISBN: 978-3939154228.algen Audio-Exklusiv: La vie! La jeunesse! – Hörmordkartell 2017

More Posts - Website

Follow Me:
TwitterFacebook

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert