Spontane Entstalinisierung? Einige Betrachtungen zu den Ursachen für den sowjetischen Sieg über das nationalsozialistische Deutschland

Vor 75 Jahren, am 9. Mai 1945, feierte die UdSSR ihren Sieg über das Dritte Reich. Die damalige sowjetische Propaganda assoziierte diesen Sieg in erster Linie mit der Person Josef Stalins, der zu einem der größten Feldherrn der neuesten Militärgeschichte stilisiert wurde. Die wahren Sachverhalte sahen indes ganz anders aus.


Die Paradoxie der Schlacht um Moskau

Der deutsch-sowjetische Krieg gibt den Historikern, ungeachtet der partiellen Öffnung der russischen Archive, bis heute viele Rätsel auf. Das wohl wichtigste Rätsel besteht im Folgenden: Woher nahm die sowjetische Gesellschaft, die in den 1930er Jahren von den stalinistischen Terrororganen bis zum äußersten drangsaliert und gedemütigt worden war, die Kraft, um am 5.Dezember 1941 die siegesgewohnte Wehrmacht vor den Toren Moskaus zu stoppen? Warum scheiterte die Hitlersche Blitzkriegsstrategie, der seit September 1939 neun europäische Länder zum Opfer gefallen waren, ausgerechnet auf russischem Territorium?

Dabei darf man nicht vergessen, dass im Dezember 1941 dem NS-Regime beinahe alle demografischen und wirtschaftlichen Ressourcen des europäischen Kontinents zur Verfügung standen, die von den Nationalsozialisten erbarmungslos ausgebeutet wurden. Bis auf das einsam kämpfende Großbritannien und einige neutrale Staaten bestand der Rest des Kontinents aus Vasallen und Verbündeten des Dritten Reiches bzw. aus vom NS-Regime besetzten Gebieten. Dazu zählten auch beinahe 2 Millionen Quadratkilometer sowjetischen Territoriums, die von etwa 70 Millionen Menschen bewohnt waren (ca. ein Drittel der Bevölkerung der UdSSR).

Die gesamte Last des Krieges mussten Ende 1941 also diejenigen Sowjetbürger tragen, die sich auf den nicht besetzten Gebieten befanden. Die militärische und wirtschaftliche Unterstützung der angelsächsischen Verbündeten der UdSSR lief damals erst an, zur Zeit der Schlacht um Moskau konnte sie noch keine entscheidende Rolle spielen.

Stalins Schreckensherrschaft

Es ist in diesem Zusammenhang auch wichtig zu betonen, dass Stalin sich in seinem Kampf gegen Hitler auf eine Bevölkerung stützen musste, der er außerordentlich misstraute, und dies mit Recht. Als erstes möchte ich auf die sowjetischen Streitkräfte eingehen, die offiziell die Bezeichnung die „Rote Arbeiter- und Bauernarmee“ trugen, sich aber in erster Linie aus der Landbevölkerung rekrutierten. Und gerade die sowjetische Landbevölkerung musste zu Beginn der 1930er Jahre, also am Vorabend des Krieges, eine beispiellose Tragödie erleben, die einzig und allein von der politischen Führung des Landes verursacht wurde. Der Versuch Stalins, die sowjetische Realität an das zentrale Postulat der marxistischen Doktrin anzupassen – die Abschaffung des Privateigentums – löste den verzweifelten Widerstand der sowjetischen Bauernschaft aus, der vom totalitären Staat mit einer ungeheuren Brutalität unterdrückt wurde. Die enteigneten Bauern, deren Bewegungsfreiheit eingeschränkt worden war, wurden als Bürger zweiter Klasse behandelt, als „Leibeigene des Staates“ wie die sowjetischen Bauern ihren Status selbst definierten. Darüber hinaus gehörte zu den unmittelbaren Folgen der Enteignung von mehr als 100 Millionen Bauern zur Zeit der Kollektivierung der Landwirtschaft die größte Hungerkatastrophe in der Geschichte Russlands bzw. der UdSSR, der etwa 6 Millionen Menschen zum Opfer fielen. So war es nicht verwunderlich, dass Stalin und seine Gehilfen an der Regimetreue der Bauern, aus denen sich die Rote Armee vorwiegend rekrutierte, zweifelten.

Ähnliches betraf aber auch das Offizierskorps der Roten Armee, das von der Stalin-Riege zur Zeit des Großen Terrors von 1936-38 in einer wohl beispiellosen Weise dezimiert wurde. Die Ausmaße dieser Gewaltorgie demonstrieren z.B. folgende Zahlen: Im deutsch-sowjetischen Krieg fielen etwa 600 sowjetische Generäle. Dem Krieg Stalins gegen die Rote Armee zur Zeit des Großen Terrors fielen dreimal so viele Generäle bzw. dem Generalsrang Gleichgestelle zum Opfer.

Nicht anders verhielt es sich mit der wichtigsten Säule des stalinistischen Regimes – der bolschewistischen Partei –, deren Elite in den Jahren 1936-38 in einer ähnlichen Weise dezimiert wurde wie die Elite der Roten Armee.

Im April 1938 – auf dem Höhepunkt des „Großen Terrors“ – schrieb der russische Exilhistoriker Georgij Fedotow:

Stalin führt einen Krieg gegen ganz Russland, wenn man ein einseitiges Abschlachten von … wehrlosen Gefangenen einen Krieg nennen kann … Ein Mann gegen das ganze Land. Noch nie war die Lage Russlands derart verzweifelt.

Während Stalin im Krieg gegen die eigene Bevölkerung beträchtliche Erfolge verbuchen konnte, versagte er bei der Aufgabe der Verteidigung des Landes gegen außenpolitische Feinde weitgehend. Auf diesem Gebiet war er, wie Georgij Fedotow mit Recht betont, ein hoffnungsloser Stümper.

Als sich die Westmächte nach der Zerschlagung der Tschechoslowakei durch Hitler im März 1939 von ihrer kurzsichtigen und selbstzerstörerischen Appeasementpolitik abwandten und sich bereit erklärten, gemeinsam mit Moskau Hitlers Aggression einzudämmen, entschloss sich Stalin jedoch aus einem kurzsichtigen machiavellistischen Kalkül heraus zu einem Bündnis mit dem wohl gefährlichsten Feind, mit dem Russland bzw. die UdSSR je konfrontiert worden war. Hatte er etwa seinem Parteigefährten und Rivalen Nikolaj Bucharin nicht zugehört, als dieser auf dem 17. Parteitag der Bolschewiki im Januar 1934 Folgendes sagte:

Hitler verkündet ganz offen, dass er unseren Staat (zerstören) will. Hitler spricht offen von der Eroberung der sowjetischen Gebiete, die Deutschland angeblich unbedingt für seine Existenz brauche …. Hitlers Politik hat sich die Verdrängung der Russen nach Sibirien zum Ziel gesetzt …. Das ist also der Klassenfeind …, mit dem wir in den nächsten großen historischen Schlachten, die uns noch bevorstehen, zu tun haben werden.

Die sowjetische Rückendeckung ermöglichte Hitler nach seinem Überfall auf Polen beispiellose militärische Erfolge. Da er im Osten nichts zu befürchten hatte, unterwarf er innerhalb von etwa 20 Monaten beinahe den gesamten außersowjetischen Teil des europäischen Kontinents. Immense demographische und industrielle Ressourcen standen jetzt dem NS-Staat und seinen Vasallen zur Verfügung. Nun hielt Hitler die Zeit für gekommen, um seinen bereits in „Mein Kampf“ entworfenen Plan der „Eroberung des Lebensraums im Osten“ zu realisieren.

Das stalinistische Regime, das seit Anfang der 1930er Jahre einen grausamen Krieg gegen imaginäre Volksfeinde geführt hatte, wurde am 22. Juni 1941 mit wirklichen Feinden konfrontiert. Vieles sprach dafür, dass es diese harte Bewährungsprobe nicht überstehen würde. Das Debakel der Roten Armee in den ersten Monaten des Krieges gehört zu den größten Katastrophen in der russischen Militärgeschichte. Und dieses Debakel war nicht zuletzt durch die niedrige Kampfmoral vieler sowjetischer Soldaten zu Beginn des Krieges bedingt. Der brutale Terror der 1930er Jahre, der sich praktisch gegen alle Schichten der Gesellschaft gerichtet hatte, musste sich zwangsläufig verheerend auf die Moral vieler Sowjetbürger auswirken.

Der Appell an den russischen bzw. sowjetischen Patriotismus

Die defätistische Stimmung, die einige Teile der sowjetischen Bevölkerung und sogar der Armee erfasste, war nicht zuletzt dadurch bedingt, dass diese Gegner des bestehenden Regimes sich zunächst über die Absichten der nationalsozialistischen Führung nicht im Klaren waren.

Als sich aber die Brutalität des deutschen Besatzungsregimes in voller Deutlichkeit zeigte, nahm die defätistische Stimmung in der sowjetischen Bevölkerung eindeutig ab. Immer weniger Soldaten der Roten Armee sahen es als Ausweg an, in deutsche Kriegsgefangenschaft zu geraten. Es blieb ihnen nicht verborgen, was sie dort erwartete. Und dieser Umschwung im gesellschaftlichen Bewusstsein trug nicht unwesentlich zum späteren Sieg der UdSSR über das Dritte Reich bei.

Abgesehen davon muss man noch auf Folgendes hinweisen. In dem von ihm angekündigten „weltanschaulichen Vernichtungskrieg“ gegen die UdSSR strebte Hitler nicht nur danach, das bolschewistische Regime, sondern auch die russische bzw. die sowjetische Staatlichkeit als solche gänzlich zu zerstören. Einige Wochen nach dem Beginn des Krieges teilte er seiner nächsten Umgebung mit, wie er sich die Zukunft des eroberten Raumes vorstellte:

Die Bildung einer militärischen Macht westlich des Ural darf nie wieder in Frage kommen… Eiserner Grundsatz muss sein und bleiben: Nie darf erlaubt werden, dass ein Anderer Waffen trägt als der Deutsche.

Hitler wollte also eine traditionelle Großmacht, die seit Jahrhunderten gleichberechtigtes Mitglied des europäischen „Konzerts der Mächte“ war, in eine rechtlose Kolonie des Deutschen Reiches verwandeln. Was für ein absurder Gedanke! Kein Wunder, dass Hitlers Vorhaben in Russland bzw. in der Sowjetunion, trotz Stalin, eine patriotische Aufbruchsstimmung auslöste.

Bezeichnenderweise waren damals auch viele russische Emigranten von patriotischen Emotionen erfasst. Ungeachtet ihrer Ablehnung der Stalinschen Tyrannei solidarisierten sie sich vorbehaltlos mit ihrer notleidenden Heimat. Sergij Bulgakow, Rektor des Theologischen Instituts in Paris – der wohl bedeutendsten Lehranstalt der Russisch-Orthodoxen Kirche im Ausland – setzte sich zur Zeit des deutschen Vormarsches in Richtung Moskau mit der nationalsozialistischen Rassenlehre auseinander. Er schrieb:

Der wahnhafte Zustand der (Deutschen), der die Folge der nationalen Erniedrigung war, verwandelt sich vor unseren Augen in ihr wahnhaftes Streben nach der Weltherrschaft.

Bulgakow hielt es allerdings für ausgeschlossen, dass dieser hegemoniale Plan gelingen konnte:

Die Idee der Weltherrschaft der ´nordischen Rasse´ stellt kein politisches Programm, sondern eine Wahnvorstellung dar. Ihre konsequente Umsetzung führt unausweichlich zu einer Katastrophe, die schneller eintreten kann, als dies heute scheint,

schrieb Bulgakow am 21. September 1941 als die Wehrmacht nicht allzu weit vor den Toren Moskaus stand.

Im Gegensatz zu manchen russischen Emigrantengruppierungen war sich Bulgakow darüber im Klaren, dass Hitler in seinem Kampf um die Weltherrschaft nicht nur den Bolschewismus, sondern auch Russland zerstören wollte, das ihm im Wege stand:

Es ist aber ein Ding der Unmöglichkeit, dass es dem deutschen Imperialismus gelingen kann, Russland von der Landkarte zu streichen“, hebt Bulgakov hervor: „Das ist ein historisches Axiom. … Der Sieg einer antichristlichen Apostasie, die sich unter der Maske der Kreuzritter versteckt, die aber von der geistigen Krankheit des Rassismus befallen ist, stellt ein Ding der Unmöglichkeit dar. Aufgrund seines Rassismus ist Deutschland trotz seiner vorübergehender Erfolge zum Scheitern verurteilt.

Und dieses Scheitern, fügt Bulgakow im Dezember 1941 hinzu, werde eine Erlösung für Deutschland bringen:

Die Geschichte des Deutschtums ist noch nicht zu Ende, es hat Zukunft. Diese Zukunft hängt allerdings davon ab, ob es Deutschland gelingen wird, sich selbst zu bezwingen und sich auf dem Weg der geistigen Erneuerung vom Rassismus zu befreien.

Ein anderer russischer Exildenker, Nikolaj Berdjajew, der sich während des Krieges, ähnlich wie Bulgakow in Frankreich befand, brach demonstrativ Kontakte mit den Kollaborateuren in den Reihen der russischen Emigranten ab, die, vor allem nach dem Überfall Hitlers auf die Sowjetunion, auf die nationalsozialistische Karte setzten. Zugleich solidarisierte sich Berdjajew vorbehaltlos mit seinem Heimatland. In seiner Autobiographie schrieb er:

Ich glaubte immer an die Unbesiegbarkeit Russlands. Aber die Gefahr, der Russland ausgesetzt worden war, stellte für mich eine ungeheure Qual dar… Ich teilte die Menschen in diejenigen ein, die einen Sieg Russlands und diejenigen, die einen Sieg Hitlers herbeiwünschten. Mit der letzteren Kategorie wollte ich nichts zu tun haben, sie waren für mich Verräter.

Mit dem feinen Gespür eines Überlebenskünstlers appellierte Stalin nun an den russischen Patriotismus, an eine Kraft also, die bereits vielen Moskauer Herrschern geholfen hatte, tödliche Gefahren zu überstehen. Elf Tage nach dem deutschen Überfall – am 3. Juli 1941 – wandte sich Stalin zum ersten Mal an das Volk, an die von ihm unterjochte und terrorisierte Gesellschaft mit folgender Anrede:

Brüder und Schwestern! … An Euch wende ich mich, meine Freunde! … Mit dem uns aufgezwungenen Krieg hat unser Land den Kampf auf Leben und Tod gegen seinen schlimmsten und heimtückischsten Feind, den deutschen Faschismus aufgenommen. … Wir müssen alle Werktätigen zum Kampf mobilisieren, um in unserem vaterländischen Krieg gegen den deutschen Faschismus unsere Freiheit, unsere Ehre, unsere Heimat unter Einsatz unseres Lebens zu verteidigen.

Die „spontane Entstalinisierung“ und ihre Folgen

Um vom Dritten Reich nicht hinweggefegt zu werden, musste die stalinistische Führung, die sich bis dahin auf die Terrorisierung der eigenen Bevölkerung konzentriert hatte, das bestehende Unterdrückungssystem modifizieren, es etwas flexibler machen. Der Krieg war paradoxerweise mit einer gewissen Lockerung des Regimes verbunden. Es kam zu einer Art Kompromiss zwischen der bis dahin drangsalierten Gesellschaft und den Machthabern. Viele Offiziere, Ingenieure und Wissenschaftler, die während der „Säuberungen“ der Jahre 1936-38 verhaftet worden waren, wurden nun aus den Gefängnissen und Straflagern entlassen und erhielten nicht selten erneut führende Positionen in der Armee oder Industrie.

Einige bis dahin offiziell abgelehnte Schriftsteller und Dichter durften wieder publizieren, die Zensur wurde gelockert. Die in den 1920er und 1930er Jahren brutal verfolgte Russisch-Orthodoxe Kirche erhielt nun neue Betätigungsmöglichkeiten.

Der Moskauer Historiker Michail Gefter spricht im Zusammenhang mit den damaligen Entwicklungen sogar von einer „spontanen Entstalinisierung“, die sich 1941 ereignet habe. Er weist darauf hin, dass die vom Regime unterdrückte Bevölkerung den Augenblick seiner Schwäche nutzte, um mehr Eigenständigkeit zu erkämpfen. Zum Wesen des Stalinismus habe gehört, die Menschen jeder Eigenständigkeit und ihrer elementarsten Rechte zu berauben. Der 1941 begonnene Überlebenskampf habe diesen Menschen die Möglichkeit gegeben, wenn auch nur für kurze Zeit, über ihr Schicksal selbständig zu entscheiden.

Besonders anschaulich spiegelt sich die damalige Atmosphäre der „spontanen Entstalinisierung“, im Roman Wassili Grossmans „Leben und Schicksal“ wider, in dessen Mittelpunkt die Schlacht von Stalingrad steht. Viele Helden des Romans prangern den Terror der 1930er Jahre, die Kollektivierung der Landwirtschaft und die propagandistische Lüge des Stalin-Regimes an und träumen von einer Auflösung der Kolchosen und von der Pressefreiheit. Einer von ihnen sagt:

Könnt ihr euch vorstellen, was das ist, die Pressefreiheit? Da öffnet ihr an einem friedlichen Nachkriegsmorgen die Zeitung und findet darin – statt eines jubelnden Leitartikels, statt der Briefe der Werktätigen an den großen Stalin … –, wisst ihr, was ihr stattdessen in der Zeitung findet? Information! Könnt ihr euch eine solche Zeitung vorstellen? Eine Zeitung, die Information liefert!

„Oh, die wunderbare, klare Kraft eines offenen Gesprächs, die Kraft der Wahrheit!“, kommentiert Grossman Gespräche dieser Art, die damals nicht nur in der fiktiven Welt des Romans, sondern auch in der sowjetischen Wirklichkeit stattfanden. So beschreibt z.B. der bekannte polnische Dichter Aleksander Wat, der die Kriegszeit in der Sowjetunion verbrachte, die Atmosphäre dieser Jahre. Kaum jemand habe damals damit gerechnet, dass die Rückkehr zu der gespenstischen stalinistischen Wirklichkeit der Vorkriegszeit möglich sei:

Alle glaubten, wenn diese Woge der Millionen Helden und Märtyrer von der Front zurückkäme, dann könnte kein Stalin mehr etwas ausrichten, dann würde Russland sich ändern, und zwar von Grund auf.

Das stalinistische Regime, das seit dem 22. Juni 1941 mit einer beispiellosen Gefahr konfrontiert war, hatte keine andere Wahl als die halbherzige Duldung dieser partiellen Eman­zipation seiner Untertanen, die nun als Verteidiger ihrer bedrohten Heimat zu einem neuen Selbstbewusstsein gelangten. Zu diesem Selbstbewusstsein trug zusätzlich die Tatsache bei, dass sie vor den Toren Moskaus, Leningrads und in Stalingrad nicht nur ihr eigenes Land, sondern auch andere von dem Nationalsozialismus bedrohte Länder verteidigten. Dazu sagte Winston Churchill am Tag des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion:

Der Kampf jedes Russen … ist der Kampf aller freien Menschen und aller freien Völker in allen Teilen der Welt.

Der Sieg über das Dritte Reich schien der Stalinschen Tyrannei eine zusätzliche Legitimierung zu verschaffen. Zugleich hat er aber die Lenkung der auf ihren Sieg so stolzen Nation erschwert. Dazu schreibt einer der besten Kenner des Stalinschen Systems, Abdurachman Awtorchanow: Stalin habe verstanden, dass das Volk nach all den Opfern, die es gebracht hatte, danach streben werde, menschlicher zu leben. Deshalb habe er vor den eigenen Soldaten nicht weniger Angst gehabt als vor den Soldaten Hitlers.

Eine erneute Disziplinierung der Gesellschaft, ihre erneute Verwandlung in ein bloßes Räderwerk des totalitären Mechanismus betrachtete die stalinistische Führung nun als ihr wichtigstes Ziel. Bereits einige Monate nach der Schlacht von Moskau begann das zunächst verunsicherte Regime, das verlorene innenpolitische Terrain wiederzugewinnen. Aleksander Wat schreibt dazu:

Der Bruch im Rückgrat des Regimes war inzwischen verheilt. Es herrschte absolute Ordnung. Alle Akten waren an Ort und Stelle. … Ohne Erlaubnis des NKWD durfte man gar nicht reisen.

Paradoxerweise verband die Stalinsche Führung die Straffung der staatlichen Kontrollmechanismen über die eigene Bevölkerung mit einer ans Groteske grenzenden Verklärung des Russentums. Diese Entwicklung bahnte sich bereits in den Tagen von Stalingrad an:

Der sowjetische Staat“, so Wassili Grossman in seinem bereits erwähnten Roman, „machte sich das Erwachen des Nationalbewusstseins für Aufgaben zunutze, die sich ihm nach dem Krieg stellten … Das Resultat der Entwicklung war, dass der Volkskrieg, der jetzt seinen Höhepunkt erreicht hatte, während dieser Stalingrader Periode Stalin die Möglichkeit gab, die Ideologie des Staatsnationalismus offen zu deklarieren.

Damit erschöpft sich aber die Bedeutung von Stalingrad keineswegs. Die Siegeseuphorie, die nach Stalingrad ausbrach, erleichterte zwar den Machthabern eine erneute Disziplinierung der Gesellschaft. Allerdings blieb die Sehnsucht nach einem würdevollen Leben, nach einem „Leben wie im Märchen“, immer noch bestehen. Grossman schreibt:

Der Stalingrader Triumph bestimmte den Ausgang des Krieges, aber der stumme Streit zwischen dem siegreichen Volk und dem siegreichen Staat setzte sich fort. Von diesem Streit hing das Schicksal des Menschen, seine Freiheit ab.

Die Übergänge zwischen Regime und Volk waren natürlich fließend. Die Stalinsche Despotie wäre ohne die partielle oder gänzliche Identifizierung beträchtlicher Teile der Gesellschaft mit ihr nicht lebensfähig gewesen. Die vom Regime verbreitete russozentrische Propaganda nahmen nicht wenige für bare Münze, sie glaubten also aufrichtig, dass die größten Entdeckungen und Erfindungen in der neuesten Geschichte der Menschheit von Russen gemacht worden waren, dass „Russland die Heimat der Elefanten“ sei. So parodierten kritisch denkende sowjetische Intellektuelle die chauvinistische Kampagne des Regimes.

Trotz alledem bestand sie doch, diese Trennlinie zwischen Regime und Volk, dem die herrschende Oligarchie bis zuletzt misstraute.

Die „spontane Entstalinisierung“ der Kriegszeit verhallte übrigens nicht ohne Resonanz. Denn unmittelbar nach dem Tode Stalins knüpfte der reformorientierte Teil der Parteiführung an einige ihrer Postulate an. Und so begann in der UdSSR eine immer schärfer werdende Auseinandersetzung mit dem stalinistischen Terrorregime, die trotz mancher Rückschläge und Restaurationsversuche der Machthaber bis zur Auflösung der Sowjetunion dauern sollte. Die Entmachtung der KPdSU im August 1991 war nicht zuletzt die Folge dieser russischen Variante der Vergangenheitsbewältigung.

Warum wurde dieser Prozess der Befreiung Russlands vom verhängnisvollen Stalinschen Erbe ausgerechnet einige Jahre nach der Entmachtung der KPdSU aber wieder eingedämmt? Warum assoziiert sich der Sieg der Sowjetunion über den NS-Staat für viele befragte Russen, auch für zahlreiche Nachkommen der Opfer Stalins, mit dem Namen dieses wohl brutalsten Tyrannen der russischen Geschichte? Diese enorme Geschichtsvergessenheit irritiert viele Kritiker Stalins im heutigen Russland, zu denen auch der vor kurzem verstorbene populäre Schriftsteller und Kriegsveteran Daniil Granin zählt. Im Oktober 2016 wurde er gefragt, wie er die Rolle Stalins in der sowjetischen Geschichte bewerte. Der damals 97jährige Autor sparte nicht mit Kritik. Was er am Stalinismus besonders verwerflich fand, war dessen Streben, die individuelle Persönlichkeit mit all ihren hellen und dunklen Seiten zu zerstören:

Ich hatte kein Recht zu irren, kein Recht traurig zu sein. Der Mensch war im Stalinismus zu einem kollektivistischen Denken verurteilt. Wir leiden bis heute darunter.

Wie konnte dann diese Gesellschaft, der der Stalinismus jede Spontaneität geraubt hatte, den Krieg dennoch gewinnen? Granin konnte es Zeit seines Lebens nicht verstehen. Der Sieg über das Nazi-Deutschland stellte für ihn eine Art Wunder dar. Stalin und seine Gehilfen, die vor dem Krieg geprahlt hätten, dass die Rote Armee unbesiegbar sei, hätten derart katastrophale Fehler gemacht, dass die Niederlage des Landes im Grunde vorprogrammiert gewesen sei. Warum sei es der UdSSR aber doch gelungen, diesem beinahe unvermeidlichen Schicksal zu entgehen und, trotz verheerender Verluste, Deutschland letztendlich zu besiegen? Nicht die politische Führung, sondern in erster Linie die einfachen Soldaten hätten aus der Sicht Granins dieses „Wunder“ ermöglicht – sowohl die Gefallenen als auch diejenigen, die den Krieg überlebt hatten.

Leonid Luks

Der Prof. em. für Mittel- und Osteuropäische Zeitgeschichte an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt wurde 1947 in Sverdlovsk (heute Ekaterinburg) geboren. Er studierte in Jerusalem und München. Von 1989 bis 1995 war er stellvertretender Leiter der Osteuropa-Redaktion der Deutschen Welle und zugleich Privatdozent und apl. Professor an der Universität Köln. Bis 2012 war er Inhaber des Lehrstuhls für Mittel- und Osteuropäische Zeitgeschichte an der KU Eichstätt-Ingolstadt. Er ist Geschäftsführender Herausgeber der Zeitschrift Forum für osteuropäische Ideen- und Zeitgeschichte.

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