Schneller zu Fuß – Der neue Bußgeldkatalog

Seit dem 28.4.2020 gilt der neue Bußgeldkatalog. Nun wird man bei Geschwindigkeitsverstößen schneller zum Fußgänger. Gut so, findet unser Kolumnist Heinrich Schmitz


Bild von Steve Buissinne auf Pixabay

Von Andreas Scheuer halte ich nicht besonders viel. Sein störrisches Festhalten an der europarechtswidrigen PKW-Maut kostet den Steuerzahler wohl viele hundert Millionen. Da könnte man auf den Gedanken kommen, dass er die Kohle mit seinem neuen Bußgeldkatalog schnell wieder einspielen möchte. Aber so einfach sollte man es sich nicht machen.

Die deutschen Bußgelder für Verkehrsverstöße sind auch nach dem neuen Bußgeldkatalog im europäischen Vergleich eher lächerlich niedrig. Wer in Frankreich mehr als 20 km/h zu schnell unterwegs ist, zahlt z.B. bis zu 375€. Nach dem neuen deutschen Bußgeldkatalog sind es bei gefahrenen 50 km/h in der 30er-Zone nur schlappe 70€ , weil zunächst einmal 3 km/h als Toleranzwert abgezogen werden. Kein Punkt, kein Fahrverbot. Erst wer tatsächlich 54 km/h fährt, also nach Abzug der Toleranz um 21 km/h zu schnell liegt, zahlt 80€, bekommt einen Punkt und darf einen Monat zu Fuß gehen. Angesichts der objektiven Gefahrerhöhung eigentlich ein Witz.

Zu hart?

Nun werden Sie vielleicht sagen, dass das aber doch sehr hart sei und man doch versehentlich mal ganz schnell so ein Schild übersehen hat, und 21 km/h zu schnell ja nun nichts mit Rasen zu tun hat. Aber auch, wenn ich mir damit ihre Sympathie verscherze, ich sehe das völlig anders. Und das hat zu einen den Grund, dass ich regelmäßig mit den Opfern von Verkehrsunfällen zu tun habe und reichlich fassungslos darüber bin, dass das Zuschnellfahren in Deutschland immer noch etwas ist, was man für eine lässliche Sünde hält.

Gerade in diesem nur „etwas schneller als erlaubt“ liegt ein ernsthaftes Problem. So machen sich die Schnellfahrer, die empört von sich weisen, Raser zu sein, vermutlich gar keine Gedanken über die physikalischen Auswirkungen von etwas mehr Geschwindigkeit.

Nimmt man nur einmal die Gefährdung von Fußgängern, so liegt die Wahrscheinlichkeit, tödlich verletzt zu werden, bei 30 km/h Anprallgeschwindigkeit um die 5 Prozent, bei 50 km/h um die 40 Prozent und bei 70 km/h um die 90 Prozent. Das bedeutet, dass jemand der „nur“ 20 Stundenkilometer in einer 30er-Zone zu schnell fährt, ein 8 Mal höheres Risiko eines tödlichen Zusammenstoßes erzeugt als der brave, belächelte und womöglich noch überholte Schleicher, der tatsächlich mit den erlaubten 30 km/h fährt.

Aber was ebenfalls nicht zur Kenntnis genommen wird, ist die Tatsache, dass sich durch eine überhöhte Geschwindigkeit nicht nur die Aufprallgeschwindigkeit vervielfacht, sondern es womöglich überhaupt erst zu der Kollision kommt, weil man nicht rechtzeitig vor dem Hindernis zum Stehen kommt.

Physik ist unbestechlich

Das hängt mit einem einfachen physikalischen Prinzip zusammen, das man sich am besten bei einem Fahrsicherheitstraining selbst „erfährt“:

Bei Verdoppelung der Geschwindigkeit vervierfacht sich der Bremsweg. Und das führt zu einer ganz massiven Verlängerung des Anhalteweges, der Summe aus Reaktions- und Bremsweg. Diese Gesetzmäßigkeit lässt sich nicht austricksen. Die Jungs – und es sind tatsächlich meistens Männer, die diesem Wahn unterliegen –, die von sich behaupten, sie hätten ihr Fahrzeug jederzeit im Griff, weil sie so geniale Autofahrer sind, sind im besten Fall Dummköpfe, im schlechtesten Fall einfach rücksichtslos. Die Physik ist unbestechlich.

Während man bei einer Geschwindigkeit von 30 km/h schon nach immerhin 18 Metern steht (9+9 Meter), sind es bei 50 km/h schon satte 40 Meter (15+25 Meter), also ganze 22 Meter mehr. Sie hätten also zwischen sich und dem Kind, das sie mal eben umgenietet haben, noch 22 Meter Luft gehabt. Das ist ganz schön viel. Das Gejammer „Ich bin doch nur 20 zu schnell gefahren“ kann ich nicht mehr hören. Wie viel zu schnell ist scheißegal, wenn da ein Toter oder Schwerverletzer liegt. Zu schnell ist zu schnell. Es ist die Entscheidung zwischen Leben und Tod.

Bei 70 km/h sind es schon 70 Meter (21+49 Meter), also 30 Meter mehr als bei 50 km/h und 52 Meter mehr als bei 30 km/h. Wer in einem 70er-Bereich meint, er könne stattdessen 90 km/h fahren, wundert sich vielleicht dann doch, wenn er statt nach 70 erst nach 108 Meter zum Stehen kommt. Bei 100 km/h sind es schon 130 Meter. Wer auf der Landstraße statt der erlaubten 100 km/h „nur“ 30 Kilometer pro Stunde schneller, also mit 130 km/h unterwegs ist, hat einen um 78 Meter längeren Anhalteweg von insgesamt sage und schreibe 208 Metern. Bei 200 km/h ist der Anhalteweg länger als eine ganze Stadionrunde, nämlich 460 Meter. Glaubt natürlich keiner der Thekenhelden, die in der Kneipe stolz erzählen, dass sie 100 Kilometer in 65 Minuten geschafft haben. Mal ganz davon abgesehen, dass nicht sie das geschafft haben, sondern eine Maschine. Natürlich verkürzt dieser Bremsweg sich, wenn man bei 80 Metern auf einen Hirschen oder auf eine andere Wildsau trifft. Die bremsen das Fahrzeug beim Aufprall ordentlich ab. Es könnte aber eben auch ein Radfahrer, ein Traktor oder ein Kind mit einem Roller sein.

Natürlich merkt man in modernen Fahrzeugen keinen Unterschied mehr zwischen 70 und 90 km/h und auch keinen zwischen 130 und 160. Aber dafür gibt es ja das Tachometer. Das ist nicht nur dazu da, sich ob der angezeigten Maximalgeschwindigkeit – die manchmal sogar noch während der Fahrt mit dem Handy gefilmt wird – gepflegt einen runterzuholen, sondern um seine Geschwindigkeit zu kontrollieren. Wer sich und seine Geschwindigkeit nicht kontrollieren kann oder will, der hat in einem Kraftfahrzeug auf der Straße nichts verloren.

Es mag einzelne Schilder geben, die an der falschen Stelle stehen. Aber das bedeutet nicht, dass man sich über die einfach hinweg setzen darf. Klagen Sie doch einfach dagegen, das geht. Vielleicht haben die ja doch einen Sinn, den Sie nur nicht erkannt haben.

Lächerlich gering

Kaum ein Politiker traut sich, ernsthaft zu fordern, notorische Schnellfahrer wirklich in ihre Schranken zu weisen. Die Bußgelder und auch die Strafen in Deutschland sind angesichts der Gefahren des Zuschnellfahrens und angesichts der Unfalltoten auch nach der Bußgeldnovelle immer noch geradezu lächerlich gering.

Bei jugendlichen Gesetzesbrechern und Flüchtlingen wird doch auch gerne mal die „Härte des Gesetzes“ gefordert, bei Verkehrs-„sündern“ eher nicht. Bereits das Wort „Sünder“ ist eine völlige Verharmlosung von egoistischer Gewissenlosigkeit auf Kosten der Allgemeinheit. Warum hier nicht auch mal ein „Warnschussarrest“? Selbst in Fällen „fahrlässiger“ Tötung habe ich noch nie erlebt, dass ein Täter einmal zur Höchststrafe von 5 Jahren verurteilt worden wäre. In der Regel gibt es hier Geld- oder Bewährungsstrafen. Und manch einer darf uns dann bereits vor dem Jahrgedächtnis des Getöteten wieder mit seinen Fahrkünsten bereichern. Nachvollziehbar? Ich denke nein.

Ich finde es also prima, dass nun innerorts ab einer um 21 km/h und außerorts um 26 km/h zu schnellen Geschwindigkeit ein Monat Regelfahrverbot droht. Regelfahrverbot bedeutet, dass das Fahrverbot die Regel ist. Und da es keine Regel ohne Ausnahme gibt, kann man auch trotz des erreichten Tatbestandes um das Fahrverbot herumkommen, wenn der Verstoß von seiner Schwere her unter dem Regelfall einzuordnen ist. Das könnte z.B. sein, wenn man in einer 30er-Zone vor einem Kindergarten nachts um 2 Uhr seine 21 km/h zu schnell war, weil zu dieser Zeit kaum zu erwarten ist, dass der Kindergarten noch geöffnet hat.

Von Schweden lernen

Das beste Konzept und die wenigsten Verkehrstoten gibt es aus meiner Sicht zur Zeit in Schweden. Dort wurde die „Vision Zero“ eingeführt. Bis 2050 soll dort kein Mensch mehr im Straßenverkehr sterben – ob die stattdessen an Corona sterben, steht auf einem anderen Blatt. Und so wie die Schweden das anpacken, kann es klappen. Dazu bedient sich der schwedische Staat einer Fülle von Mitteln. Neben sehr vielen Geschwindigkeits-überwachungen durch stationäre und mobile Blitzer sind die Bußgelder richtig schmerzhaft: 15 km/h zu schnell kosten schon 300€ und bei 30 km/h zu schnell nimmt die Polizei gleich vor Ort den Lappen in Beschlag. Ich finde das richtig. Während in Deutschland noch eine Quote von über 4 Toten pro 100.000 Einwohner und Jahr vorliegt, sind die Schweden bei 2,8. Da haben wir also noch Luft nach oben, zum Beispiel durch ein Tempolimit von 30 in den Städten und 130 oder niedriger auf den Autobahnen.

Da man wohl nur bei wenigen Autofahrern auf Vernunft und Verantwortung setzen kann, ist das schwedische Konzept – das in anderen skandinavischen Länder bereits übernommen wurde – das richtige. Flächendeckende Kontrolle und harte Sanktionen. Wünschen Sicherheitspolitiker doch sonst auch. Warum nicht im Straßenverkehr? Da würde es unmittelbar was bringen. Warum erzählt der Bundesverkehrsminister ein generelles Tempolimit sei „gegen jeden Menschenverstand“, wenn sogar der ADAC seine diesbezüglichen Einwände längst aufgegeben hat?

Freie Fahrt?

Der Slogan „Freie Fahrt für freie Bürger“ steckt wohl noch tief in den Köpfen – oder sind es doch die Hoden? – drin. Der Deutsche ist halt “Born to perform”. Ich geb Gas , ich will Spaß.

Warum werden eigentlich keine Fotos von zerfetzen Kinderkörpern auf Autos gefordert? Warum keine automatischen Signale, wenn man die erlaubte Geschwindigkeit überschreitet oder gleich eine technisch machbare Abriegelung? Stattdessen kam vor ein paar Tagen wieder so eine Mail mit Werbung für ein “Radarschutz”-System. Support für Raser.

Ach ja, ich vergaß. Autos sind für viele Deutsche immer noch das, was Waffen für viele Amerikaner sind – eine Art Penisersatz und jedenfalls mehr wert als das Leben anderer. „Fahren in seiner schönsten Form“ ist offenbar nur schnelles Fahren.

Wenn Sie sich das nächste Mal darüber ärgern, dass jemand – vielleicht ich – mit der erlaubten Geschwindigkeit vor Ihnen herfährt, obwohl Sie doch gerne viel schneller fahren würden, denken Sie einmal darüber nach, ob der nicht doch vielleicht Recht hat, ob der nicht vielleicht doch der bessere Autofahrer ist, ob es nicht vielleicht doch Wichtigeres gibt, als schnell zu fahren. Und vielleicht fahren Sie dann auch ganz einfach einmal nicht schneller als erlaubt ist hinter ihm her. Vielleicht machen das irgendwann ganz viele. Und die, die es dauerhaft nicht machen wollen, gehen dann irgendwann einfach alle zu Fuß oder fahren mit Bus und Bahn. Das Leben in Deutschland wäre dann sicherer. Nichts ist unmöglich.

Wer sich über den neuen Bußgeldkatalog aufregt, möge sich doch einfach einmal vorstellen, dass der ihn gar nicht betreffen kann, wenn er sich einfach nur an die StVO hält. Und das zu tun lernt ja nun wirklich jeder in der Fahrschule.

Heinrich Schmitz

Heinrich Schmitz ist Rechtsanwalt, Strafverteidiger und Blogger. In seiner Kolumne "Recht klar" erklärt er rechtlich interessante Sachverhalte allgemeinverständlich und unterhaltsam. Außerdem kommentiert er Bücher, TV-Sendungen und alles was ihn interessiert- und das ist so einiges. Nach einer mit seinen Freital/Heidenau-Kolumnen zusammenhängenden Swatting-Attacke gegen ihn und seine Familie hat er im August 2015 eine Kapitulationserklärung abgegeben, die auf bundesweites Medienecho stieß. Seit dem schreibt er keine explizit politische Kolumnen gegen Rechtsextreme mehr. Sein Hauptthema ist das Grundgesetz, die Menschenrechte und deren Gefährdung aus verschiedenen Richtungen.

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