Sprechen wir endlich ernsthaft übers BGE

Megakrisen à la Corona wirken oft als Beschleuniger für längst notwendige Veränderungen: Hartz 4 muss weg und durch ein bedingungsloses Grundeinkommen ersetzt werden, fordert Kolumnist Henning Hirsch


Ganz gleich, wie die Sache ausgehen wird, ob halbwegs glimpflich, oder uns doch der Super-GAU mit zig Millionen Toten quer über den Globus verteilt, bevorsteht – Corona wird, wenn das Virus irgendwann mal abgeebbt ist, uns noch viele Jahre im Nachgang beschäftigen und zwingen, Dinge anzupacken und zu ändern, die wir bisher aus Bequemlichkeit, oder weil die Änderung uns selbst nichts nützt, ständig auf die lange Bank geschoben haben.

Als die Pest zwischen 1347 und 1350 ihre Spur der Verwüstung durch Europa zog, bemerkte der zeitgenössische Chronist lakonisch:

Ein Drittel der Welt starb.
© Jean Froissart

Megakrisen als Beschleuniger sozialer Entwicklungen

Und danach gerieten Dinge in Bewegung, von denen drei Jahre zuvor noch niemand geahnt hatte, dass sie jemals in Bewegung geraten würden. Was Historiker zu dieser Aussage veranlasste:

Selten ist es in der Geschichte zu einer derartigen Umwälzung aller Werte gekommen, hat sich das Daseinsverhalten der Menschen so verändert, ist das wirtschaftliche und soziale Leben dergestalt revolutioniert worden.
© S. Fischer-Fabian: Ritter, Tod und Teufel – Die Deutschen im späten Mittelalter

Mir ist schon klar, dass man den Schwarzen Tod nicht eins zu eins mit SARS-CoV-2 vergleichen kann. Weder ist das aktuelle Virus derart tückisch wie der damalige Biss durch den Rattenfloh, noch standen den Ärzten des Mittelalters Intensivbetten und Beatmungsgeräte zur Verfügung. Jedoch hat auch Corona das Zeug dazu, bei uns Dinge in Bewegung zu bringen, von denen wir bis vor wenigen Wochen nicht ahnten, dass sie derart schnell und dramatisch in Bewegung kommen würden.

Lassen Sie mich heute mit einer der wahrscheinlichsten Änderungen der Post-Corona-Zeit beginnen: dem kompletten Umbau der öffentlichen Daseinsvorsorge. War es bereits in den vergangenen Jahren den Betroffenen nur mit großer Mühe und vielen rhetorischen Kniffen halbwegs begreiflich zu machen, dass ALG 2 der Weisheit letzter Schluss sei, so wird sich der Druck auf die politischen Entscheidungsträger aufgrund der nun rasch emporschnellenden Arbeitslosenzahlen exponentiell erhöhen.

Unter den staatlichen Rettungsschirm strömen jetzt hunderttausende Selbständige und Freiberufler. Menschen, die in der Vor-Corona-Zeit fleißig gearbeitet haben, wagemutig waren, kleine Firmen aufbauten, Arbeitsplätze schufen. Menschen, die dem neoliberalen Heilsversprechen, jeder ist seines Glückes Schmied und des Glückes höchste Ausprägung bestünde darin, als Mikrounternehmer tätig zu sein, vertrauten, und deren einziges Versäumnis darin liegt, nicht genügend Rücklagen angespart zu haben, um einen mehrmonatigen kompletten Lockdown aus eigenen Mitteln abfedern zu können. Menschen, bei denen keine Berufsausfallversicherung einspringt, Menschen, die von gestern auf heute unverschuldet vor den Trümmern ihrer mühsam aufgebauten Existenzen stehen.

Kredite, die zu spät ankommen und Jobcenter, die ellenlange Formulare versenden

Menschen, denen nun von den Politikern vollmundig unbürokratische Überbrückungskredite versprochen werden, von denen allerdings zu befürchten ist, dass die Leistungsempfänger bereits unter unseren Brücken hausen, bevor die erste Tranche ausgezahlt wird. Die Genehmigungsverfahren sind langwierig und kompliziert, die oft zwischengeschalteten Hausbanken verzögern die Angelegenheit zusätzlich. Kein Wunder, dass viele erstmal den schnelleren Weg, nämlich den zu den Jobcentern, wählen. Und auch dort werden sie nicht mit offenen Armen empfangen, erhalten sie als Willkommensgruß einen Stapel in Fachchinesisch verfasster Anmeldeformulare, in denen explizit darauf hingewiesen wird, erstmal die eigenen Notfallreserven anzubrechen und zu verbrauchen, bevor sie als anspruchsberechtigt anzusehen sind, sendet man unmissverständlich das Signal aus: bleibt uns vom Leib und helft euch selbst. Eine soziale Katastrophe, die sich – noch leise, aber alsbald sicher lauter werdend – direkt vor unseren Wohnungstüren abspielt.

Da bei realistischer Betrachtung ein nicht unerheblicher Teil der Kleinunternehmen in Gastronomie, Touristik, Transportwesen, Kosmetik, privater Bildung etc. etc. dauerhaft ins Straucheln gerät bzw. spätestens im Frühsommer Insolvenz anmelden muss, die großen Firmen die Corona-Chance nutzen, um ihrerseits massenhaft betriebsbedingte Kündigungen auszusprechen, werden wir alsbald ein dramatisches Hochschnellen der Zahlen bei ALG 1 und 2 erleben.

Und hier muss nun mit Nachdruck die Frage gestellt werden: wollen wir uns in Zukunft einen xy-Millionen-Sockel an Dauerprekariat leisten? Menschen, die aufgrund Spezialausbildung und/ oder Alter nicht in adäquate alternative Jobs zu vermitteln sind, die wir also bis zum Erreichen der Armutsrentengrenze via ALG 2 alimentieren müssen? Wir können die ja alle zum Spargelstechen schicken, schlagen Sie vor? Sie können mich mal spargelweise, antworte ich.

ALG 2 (schnell) durch BGE ersetzen

Um die entwürdigende Prozedur der Almosenbeantragung und -gewährung in den Jobcentern endlich zu Grabe zu tragen, muss die staatlich garantierte Grundsicherung um 180 Grad gedreht werden: weg vom behördlichen Gnadenakt, der zudem sanktionsbewehrt ist, hin zum jedem Bürger zustehenden Bedingungslosen Grundeinkommen. Wie das dann bei Erwerbsaufnahme angerechnet und steuerlich behandelt wird – das sind nachgelagerte technische Fragen. Getroffen werden muss zuerst die Grundsatzentscheidung: millionenstarkes, desillusioniertes Prekariat in Dauer-Hartz 4 oder mündige Bürger, die mittels BGE auf bescheidenem Niveau überleben können und zudem nicht ihren Stolz verlieren. Denn der Verlust von Stolz hat schon so manchen auf politisch komische Ideen gebracht. Höhe und Bewilligungsprozedere von ALG 2 passen einfach nicht zu einem Gemeinwesen, das sich Demokratie nennt, soziale Marktwirtschaft auf die Fahne schreibt und selbstbewusste Staatsbürger beherbergen möchte.

Sie malen die Sache in zu düsteren Farben, Herr Kolumnist, meinen Sie? Warten Sie ab. Je länger der Shutdown dauert, desto mehr Existenzen werden dauerhaft vernichtet.

Und nein, die Lösung lautet nicht, die Ausgangssperren vorschnell zu lockern und die Geschäfte morgen wieder zu öffnen, sondern es muss unter Hochdruck an einem Konzept gefeilt werden, das die bevorstehende Massenarbeitslosigkeit sozialverträglich und dabei die Würde des einzelnen nicht aus dem Blick verlierend, auffängt.

Der oben zitierte Historiker schränkt zwar ein:

Die Pest hatte sich anbahnende Entwicklungen verstärkt, in Prozessen, die sich allerdings über Jahrzehnte erstreckten.

Jedoch darf es bei uns nicht wie im geduldigen Spätmittelalter Jahrzehnte dauern, bis sich was ändert, sondern das muss bis zum Sommer dieses Jahres über die Bühne gebracht werden. Bankenrettung funktionierte 2008 ja auch superschnell. Weshalb sollte es uns also nicht gelingen, ALG 2 binnen Dreimonatsfrist in BGE umzuwandeln? Wie gesagt: es handelt sich „nur“ um eine Grundsatzentscheidung. Der Rest ist nachgelagerte Technik.

#bgejetzt!

Henning Hirsch

Betriebswirt und Politologe, Comicleser, Filmjunkie, Bukowski- und FC- (es gibt nur einen FC: nämlich den aus Köln) Fan, trockener Alkoholiker. In die Abstinenz startete er mit einem Roman: Saufdruck. Seitdem tippt er abends Kurzgeschichten und Gedichte. Da die Schreiberei alleine nicht satt macht, verdient er tagsüber seine Kaltmiete und die Kühlschrankfüllung mit Marketing & Orga. Henning Hirsch lebt im Bonner Süden und ist Vater von drei Kindern ... Wer mehr von ihm lesen möchte: www.saufdruck.de

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