„Sieger“ oder „Verlierer der Geschichte“?

Über das kommunistische Herrschaftsverständnis von Lenin bis Gorbatschow


Seit der bolschewistischen Machtübernahme im Oktober 1917 fühlten sich die Kommunisten als „Sieger der Geschichte“. Überall dort, wo es ihnen gelang, ihre Herrschaft zu stabilisieren, waren sie nicht mehr bereit, die Macht zu teilen, und allen Kräften, die ihr Herrschaftsmonopol in Frage stellten, sagten sie einen unversöhnlichen Kampf an. Warum verliefen die Entwicklungen an der westlichen Peripherie des Ostblocks im Jahre 1989 dann nach einem ganz anderen Szenario?

Fehlende demokratische Legitimität

Zu den größten politischen Problemen der meisten kommunistischen Regime gehörte ihre mangelnde demokratische Legitimität. Paradigmatisch hierfür war die Entstehungsgeschichte des kommunistischen Regimes in der sogenannten „Heimat der Diktatur des Proletariats“ – also in Russland.

Unmittelbar nach dem bolschewistischen Staatsstreich vom 7. November 1917, der für die Bolschewiki relativ glimpflich verlief, fanden in Russland die lang ersehnten Wahlen zur Verfassunggebenden Versammlung statt. Diese endeten für die Bolschewiki mit einem Debakel. Sie erhielten lediglich 24% der Stimmen. Statt sich aber dem Wählervotum zu beugen und die Macht an die Sozialrevolutionäre Partei abzugeben, die bei den Wahlen zur Konstituante die absolute Mehrheit erhalten hatte, jagten die Bolschewiki dieses vom Volk legitimierte höchste Organ des Staates einen Tag nach seiner Einberufung gewaltsam auseinander. Einer der führenden sozialdemokratischen Theoretiker, Karl Kautsky, kommentierte diesen Vorgang folgendermaßen:

„Die Bolschewiki sind bereit, um sich an der Macht zu halten, alle möglichen Konzessionen an die Bürokratie, den Militarismus, den Kapitalismus zu machen. Aber eine Konzession an die Demokratie erscheint ihnen als Selbstmord“.

Die Kommunisten waren also nicht bereit, Mehrheitsentscheidungen zu akzeptieren, sogar dann, wenn es sich dabei um „proletarische Mehrheiten“ handelte, in deren Namen sie regierten. Sie fühlten sich nicht den „wankelmütigen Mehrheiten“, sondern der Geschichte und der aus ihrer Sicht alleingültigen marxistischen Interpretation der geschichtlichen Vorgänge verpflichtet, die sie als die wichtigste legitimatorische Quelle ihrer Herrschaft betrachteten. Und den Kräften, die ihren angeblichen geschichtlichen Auftrag in Frage stellten, sagten sie einen unversöhnlichen Kampf an. Die Anwendung von Gewalt in diesem Kampf hielten sie für durchaus legitim, denn die Gegner vertraten aus der Sicht der Kommunisten antiquierte Positionen der ausbeuterischen Klassen, die zum Absterben verurteilt seien. Die Tatsache, dass auch unzählige Werktätige zu ihren Gegnern gehörten, führten die Kommunisten auf deren unzureichend entwickeltes Klassenbewusstsein zurück.

Nach 1945, als der sowjetische Machtbereich sich bis zur Elbe ausdehnte, übertrugen die Kommunisten diese Herrschaftstechnik und ihre ideologische Begründung auf die Staaten des sogenannten „äußeren Sowjetimperiums“, also auf den gesamten Ostblock. Als die ungarischen Kommunisten bei den Parlamentswahlen vom November 1945 lediglich 17% der Stimmen erhielten, rief dies bei den Budapester Vasallen Moskaus  Irritationen, aber keine Panik hervor. Die osteuropäischen Kommunisten hatten bereits von den Bolschewiki gelernt, dass der Wille der Bevölkerungsmehrheit keinen Respekt verdiene, wenn er die Macht der „Werktätigen“ und ihrer „Avantgarde“ gefährde. Sollten die ungarischen, polnischen oder die ostdeutschen Kommunisten in dieser Beziehung mehr Skrupel haben als seinerzeit das von ihnen so bewunderte Vorbild, nämlich Lenin? So begannen die neuen Machthaber in ganz Osteruropa mit Hilfe der berühmt gewordenen „Salami“-Taktik, die Oppositionsgruppierungen Stück für Stück ihrer Eigenständigkeit zu berauben und in Marionetten des Regimes zu verwandeln.

Die Ambivalenz der Entstalinisierung

Hat sich dieser Sachverhalt nach dem Tode Stalins verändert? Das Ableben des Tyrannen, der beinahe drei Jahrzehnte lang die Entwicklung der kommunistischen Weltbewegung geprägt hatte, stellte in der Tat eine gewaltige Zäsur in der Geschichte des Kommunismus dar. Es stellte sich nun heraus, wie eng das voll ausgebildete stalinistische System mit der Person seines Gründers verbunden war und wie wenig Chancen es hatte, seinen Schöpfer zu überleben. Bereits einige Stunden nach seinem Tod begannen seine engsten Gefährten, Komplizen und Zöglinge mit seiner Demontage. Der Personenkult und die Allmacht der Terrororgane – die wohl wichtigsten Grundlagen des Stalinismus wurden nun in Frage gestellt, was zur Verunsicherung der Herrschenden und zum Aufkeimen neuer Hoffnungen bei den Beherrschten führte. Die bis dahin rigiden Grenzen zwischen dem Erlaubten und dem nicht Erlaubten begannen sich zu verwischen. Diese atmosphärischen Veränderungen wurden zur wichtigsten Voraussetzung für die Revolte vom 17. Juni in der DDR. Die gewaltsame Zerschlagung dieses Aufstandes machte aber eines klar. Trotz zaghafter Entstalinisierungsmaßnahmen und bestimmter Zugeständnisse an die Bevölkerung im wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Bereich waren die kommunistischen Herrscher in keiner Weise bereit, an ihrem Machtmonopol und ideologischen Absolutheitsanspruch rütteln zu lassen. Jede Infragestellung dieser aus ihrer Sicht tabuisierten Bereiche beantworteten sie mit der Anwendung uferloser Gewalt.

Der 20. Parteitag der KPdSU vom Februar 1956, auf dem Nikita Chruschtschow in einer fulminanten Anklagerede mit der verbrecherischen Politik seines Vorgängers abrechnete, schien eine Wende auf diesem Gebiet eingeleitet zu haben. Die kommunistischen Regime schienen imstande zu sein, sich aus eigener Kraft zu erneuern und von den schlimmsten Auswüchsen der Stalin-Ära zu befreien. Dies bedeutete aber keineswegs, dass sie aufgehört hatten, sich als Sieger der Geschichte zu fühlen. Jede Gefährdung ihres Machtmonopols betrachteten sie weiterhin als eine Art Sakrileg. Eine Revision des 1917 bzw. 1945 angeblich endgültig gefällten Urteils der Geschichte, als die Kommunisten zunächst in Russland und dann in Osteuropa an die Macht gelangt waren, wollten sie auf keinen Fall zulassen. Die ungarischen Ereignisse vom Herbst 1956 stellten einen deutlichen Beweis hierfür dar.

Die ungarische Tragödie

Die ungarische Umwälzung vom Herbst 1956 vollzog sich nach dem klassischen Revolutionsmuster. Das handelnde Subjekt war hier die sich im Aufruhr befindende Gesellschaft, die am 23. Oktober 1956, nach einer gewaltigen Massendemonstration in Budapest, den ungarischen Freiheitskampf in die Wege leitete. Da das stalinistische Regime in Ungarn über Nacht zusammenbrach und der Aufstand sich auf das ganze Land ausbreitete, besaß die ungarische Führung lediglich zwei Optionen – entweder sich mit den Aufständischen zu solidarisieren oder sowjetische Truppen zu Hilfe zu rufen. Imre Nagy, der am 24. Oktober 1956 zum ungarischen Ministerpräsidenten ernannt wurde, versuchte zunächst auf die Aufständischen mäßigend einzuwirken. Er konnte sich allerdings auf keine realen Machtmittel stützen, denn die bestehenden Staatsmechanismen waren nach dem 23. Oktober weitgehend zusammengebrochen. Nagy standen nur verbale Argumente zur Verfügung. Mit seinen Sympathien befand er sich aber immer eindeutiger an der Seite der Aufständischen. In einer Rundfunkansprache an das ungarische Volk erklärte er damals: Die Regierung lehne es ab, die gewaltige Volksbewegung als Konterrevolution zu betrachten. Diese Bewegung habe das Ziel, die nationale Unabhängigkeit Ungarns zu sichern und die Demokratisierung des gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Lebens voranzutreiben, denn dies allein könne die Basis des Sozialismus im Lande sein.

Am 1. November 1956 trat Ungarn aus dem Warschauer Pakt aus.

Diese Solidarisierung Nagys mit der eigenen Bevölkerung wurde von den bewahrenden Kräften des gesamten Ostblocks als Herausforderung ohnegleichen empfunden. Nagy verstieß gegen das Leninsche Dogma von der Partei als „Avantgarde der Werktätigen“, die den „wankelmütigen“ Massen ihren Willen aufzwingen und sich keineswegs an den Willen der Massen anpassen sollte. Auf der Sitzung des ZK-Präsidiums der KPdSU vom 31.10.1956 sprach sich die Mehrheit der Präsidiumsmitglieder für eine militärische Intervention aus.

Es waren nicht nur Stalinisten, die sich durch die „Nachgiebigkeit“ Nagys gegenüber den spontanen gesellschaftlichen Bestrebungen provoziert fühlten, sondern auch manche ehemalige Opfer Stalins. Zu den letzteren gehörte János Kádár, der am 25. Oktober das Amt des Parteichefs vom Stalinisten Gerö übernahm. Die Entstalinisierung des ungarischen Regimes war zwar durchaus im Sinne Kádárs, nicht aber seine Demokratisierung, nicht die Wiedereinführung eines Mehrparteiensystems, mit dem sich Nagy allmählich abfand. Kádár wollte die Rückkehr Ungarns zu den vorkommunistischen Zuständen auf keinen Fall zulassen. Deshalb floh er am 1. November 1956 aus der Hauptstadt und begab sich unter die Obhut der sowjetischen Truppen, dann reiste er weiter nach Moskau und erklärte sich bereit, an der Spitze der sowjetischen Bajonette in die Heimat zurückzukehren. Am 4. November 1956 begann eine massive sowjetische Bestrafungsaktion – nach einer Woche war der ungarische Volksaufstand blutig niedergeschlagen.

Der „Prager Frühling“ und sein gewaltsames Ende

Die Reformer des „Prager Frühlings“ von 1968 wollten aus der ungarischen Tragödie von 1956 Lehren ziehen. Anders als im damaligen Ungarn blieb die Partei der Initiator und der Motor des Erneuerungsprozesses. Auch die Bündnistreue gegenüber der Sowjetunion wurde in Prag, anders als im Jahre 1956 in Ungarn, nicht in Frage gestellt. Indes verstanden die Prager Reformer die führende Rolle der Partei anders als die Moskauer Dogmatiker. Sie wollten einen Teil der geballten Macht, die sich in den Händen der Partei konzentrierte, an die Gesellschaft abgeben; statt die gesellschaftliche Spontaneität zu bekämpfen, versuchten sie diese zu fördern. Besonders verwerflich in den Augen der bewahrenden Kräfte im gesamten Ostblock war aber die Tatsache, dass die Prager Führung auch auf das Wahrheitsmonopol der Partei zu verzichten schien. Im Aktionsprogramm der KPTsch vom April 1968 konnte man lesen: In der Presse müssten auch die von den offiziellen Standpunkten des Staates und der Partei abweichenden Ansichten zu Wort kommen. Die Freiheit des Wortes und der Minderheiteninteressen müsse durch Rechtsnormen garantiert werden.

Parteichef Alexander Dubček und seine Gesinnungsgenossen waren also bereit, den freien Wettbewerb der Ideen in einem nicht unbeträchtlichen Ausmaß zu dulden, und gefährdeten damit in den Augen der Dogmatiker das eigentliche Fundament des bestehenden Systems. Da den kommunistischen Regimen die demokratische Legitimierung in der Regel fehlte, begründeten sie ihren Herrschaftsanspruch in erster Linie ideologisch. Diese Begründung lässt sich aber nicht aufrechterhalten, wenn die kommunistische Ideologie ihren allgemeinverpflichtenden Charakter verliert und die Machthaber einen weltanschaulichen Pluralismus dulden. In diese Richtung schien die Entwicklung in Prag nach der weitgehenden Auflockerung der Zensur zu verlaufen. Nur den Panzern der Staaten des Warschauer Paktes, die am 21. August 1968 die Tschechoslowakei überfielen, ist es gelungen, das angeschlagene Wahrheitsmonopol der kommunistischen Partei wiederherzustellen.

Die sowjetische Bürgerrechtsbewegung

Die Ereignisse des Jahres 1968 stellten eine gewaltige Zäsur in der Geschichte des Ostblocks dar. Sie beendeten eine Epoche, die der 20. Parteitag der KPdSU eingeleitet hatte – die Epoche der reformkommunistischen Träume von der Errichtung eines Sozialismus mit menschlichem Antlitz unter den Bedingungen einer marxistischen Gesinnungsdiktatur. Kommunistische Regime galten von nun an in den Augen vieler Regimekritiker als nicht reformierbar.

Statt an die Reformer in der Partei begannen die osteuropäischen Regimekritiker nun in einem immer stärkeren Ausmaß an die Gesellschaft und an die Weltöffentlichkeit zu appellieren – dies waren die neuen Hoffnungsträger der Opposition.

Die Wegbereiter dieser neuen Strategie waren, zur allgemeinen Überraschung der Weltöffentlichkeit, die sowjetischen Bürgerrechtler und zwar noch vor dem „Prager Frühling“. Neue Impulse für die Bekämpfung des Absolutheitsanspruchs der kommunistischen Regime kamen also ausgerechnet aus einem Land, in dem die Unterdrückung jedes freien, von der Generallinie der Partei abweichenden Denkens etwa dreißig Jahre länger dauerte, als dies in den anderen kommunistischen Ländern der Fall war, die erst 1945 in die Einflusssphäre Moskaus gerieten.

Zu den größten Schwächen der sowjetischen Bürgerrechtsbewegung gehörte indes die Tatsache, dass sie nicht imstande war, breitere Bevölkerungsschichten, nicht einmal breitere Schichten der sowjetischen Intelligenz zu beeinflussen. Dessen ungeachtet gelang es ihr, die politische Kultur im Lande stark zu verändern. In einem unfreien Land hätten sich die Bürgerrechtler wie freie Menschen verhalten, so Andrej Amalrik, einer der scharfsinnigsten Dissidenten. Sie hätten den in der Sowjetunion bis dahin anrüchigen Begriff „Opposition“ enttabuisiert und eine pluralistische Komponente in die politische Kultur der UdSSR eingeführt.

Der Ausbruch der polnischen Regimekritiker aus dem „intellektuellen Ghetto“

In den Ländern Ostmitteleuropas war die Entstehung der regimekritischen Bewegungen eng mit dem Scheitern der reformkommunistischen Konzeption verbunden. Der tschechische Reformer Zdenek Mlynář wies seinerzeit darauf hin, dass diese Konzeption in Polen besonders tief diskreditiert worden sei, und zwar deshalb, weil sie hier, anders als in Un­garn und in der Tschechoslowakei, nicht gewaltsam von außen, sondern durch die eigene Parteiführung zerstört worden sei.

Zu den Besonderheiten der polnischen Bürgerrechtsbewegung gehörte ihr schichtenübergreifender Charakter. Dies vor allem nach der Gründung des „Komitees zur Verteidigung der Ar­beiter“ (KOR) im September 1976. Auf diese Weise gelang es den polnischen Regimekritikern, im Gegensatz zu den sowje­tischen, aus dem intellektuellen Ghetto auszubrechen. Die im Sommer 1980 entstandene Solidarność-Bewegung besiegelte diesen Prozess.

Bei den August-Ereignissen von 1980, die zur Entstehung der Gewerkschaft „Solidarność“ führten, handelte es sich zweifellos um einen revolutionären Vor­gang. Es war aber eine Revolution ohne Bar­rikaden und Straßenkämpfe, ohne jegliche Anwendung von Gewalt. Der für viele Beob­achter unerwartete Charakter der August-Umwälzung hatte sicher damit zu tun, dass sie von Anfang an von einem Bündnis zwi­schen Arbeitern und Intellektuellen getragen wurde. Von einem Bündnis also, das den Kommunisten immer als Ideal vorschwebte, das aber ausgerechnet in einer Auseinander­setzung mit einem kommunistischen Regi­me zustande kam.

„Grünes Licht“ aus Moskau?

Obwohl die osteuropäischen Regimekritiker imstande waren, wie bereits gesagt, die politische Kultur ihrer jeweiligen Länder zu verändern, einen Systemwechsel konnten sie allerdings nicht herbeiführen. Dafür reichten ihre Kräfte nicht aus.

Nicht einmal der „Solidarność“ – der wohl größten Protestbewegung in der Geschichte des Ostblocks – ist es gelungen, das bestehende System zu stürzen. Und die Zerschlagung der „Solidarność“ durch die polnischen Generäle wurde von vielen Beobachtern als zusätzlicher Beweis für die Unbezwingbarkeit der kommunistischen Regime aufgefasst. Einer der prominentesten polnischen Regimekritiker, Jerzy Turowicz, der Chefredakteur des katholischen Blattes „Tygodnik Powszechny“, erklärte Ende 1987:

„Wir haben es niemals verhehlt, dass uns der real existierende Sozialismus nicht gefällt. Wir streben aber nicht danach, (ihn) abzuschaffen, denn wir wissen, dass dies unmöglich ist.“

Und diese Meinung war im damaligen Polen – dem größten Unruheherd im gesamten Ostblock – relativ verbreitet.

„Die Freiheit kam wie eine Diebin in der Nacht“, fügte einige Jahre später ein anderer polnischer Regimekritiker Henryk Woźniakowski, hinzu: „Niemand hatte gedacht, dass es so rasch gehen würde“.

Dass „die Freiheit (1989 in der Tat) kam“, war sicherlich damit verbunden, dass in Moskau damals nicht Leonid Breschnew, sondern Michail Gorbatschow an der Macht war. Bis dahin stellte Moskau einen ruhenden Pol für die Dogmatiker an der westlichen Peripherie des Ostblocks dar. Unter Gorbatschow geriet aber das machtpolitische Zentrum des Ostblocks selbst in Bewegung: „Mit sowjetischen Panzern zum Erhalt der politischen Macht (der Bruderparteien) war nicht mehr zu rechnen“, schrieb Gorbatschow in seinen Erinnerungen.

So ereignete sich die Auflösung der kommunistischen Regime im Ostblock nicht in erster Linie unter dem Druck von unten, sondern sie war eher die Folge eines neuen außenpolitischen Konzepts der sowjetischen Führung. Auf der 19. Parteikonferenz der KPdSU vom Juni 1988 sprach Gorbatschow von der Freiheit der Völker und Staaten bei der Wahl ihres Gesellschaftssystems – dies war ein indirekter Verzicht auf die Breschnew-Doktrin, auf das von Moskau usurpierte Recht, die sozialistischen Regime in den „Bruderländern“ in der Stunde der Gefahr militärisch zu unterstützen.

Für die Kritiker dieses Kurses im sowjetischen Establishment glich die Politik Gorbatschows und seiner Gesinnungsgenossen einem Verrat. Einer der radikalsten Verfechter der imperialen Idee in der UdSSR, der Schriftsteller Alexander Prochanow, schrieb im Frühjahr 1990:

„Zum ersten Mal in der Geschichte unseres Landes, ja in der Weltgeschichte, sehen wir, wie eine Macht nicht infolge von außenpolitischen Rückschlägen …, sondern infolge der zielstrebigen Handlungen ihrer Führer zerfällt.“

Trotz dieser gehässigen Kritik setzten Gorbatschow, Eduard Schewardnadse und andere Verfechter der Perestroika ihren Kurs fort. Ihr Ziel war selbstverständlich nicht die Auflösung, sondern eine Erneuerung der bestehenden Regime in den Vasallenstaaten Moskaus. Als die friedlichen Revolutionen von 1989 diese Regime aber hinwegfegten, griff Moskau nicht ein. Und dieser Umstand stellte eine der wichtigsten Voraussetzungen für den Erfolg der Revolutionen von 1989 dar.

Verlierer der Geschichte?

Der von Gorbatschow unternommene Versuch, die erstarrten bürokratischen Strukturen der kommunistischen Staaten aufzulockern, verunsicherte die herrschenden Eliten viel stärker als frühere Massenauflehnungen und Volksaufstände. Denn der Kampf gegen die echten oder die vermeintlichen Feinde der „Diktatur des Proletariats“ stellte für die Parteien bolschewistischen Typs seit 1917 etwas Alltägliches dar. Bei der Unterdrückung ihrer Gegner entwickelten sie eine Virtuosität, die es ihnen ermöglichte, auch scheinbar ausweglose Situationen siegreich zu bestehen. Zum Wesen des Gorbatschowschen „Neuen Denkens“ gehörte jedoch die Ablösung des „Freund-Feind-Konzepts“ durch den politischen Diskurs. Darauf reagierte die kommunistische Bürokratie in allen Ländern des Ostblocks höchst unbeholfen. Sie fühlte sich in ihrem Element, wenn sie verordnen und reglementieren konnte. Sobald sie sich aber auf einen freien Meinungsaustausch einließ, in dem nur die besseren Argumente zählten, kamen ihre Unzulänglichkeiten und Schwächen deutlich zutage. Glasnost´ und Perestroika sollten ursprünglich den Anschluss der kommunistischen Regime an die Moderne, an den wirtschaftlich und technologisch davoneilenden Westen ermöglichen. Tatsächlich leiteten diese Prozesse jedoch die Auflösung der Regime des „real existierenden Sozialismus“ ein.

Man darf aber auf der anderen Seite nicht vergessen, auf welch dünnem Seil die kommunistischen Reformer die ganze Zeit balancierten, wie groß die Gefahr ihres Sturzes war. Die Zerschlagung der chinesischen Demokratiebewegung am 4. Juni 1989 zeigte, wie brutal kommunistische Dogmatiker auf die Gefährdung ihres Machtmonopols reagieren konnten. Und es gab in fast allen Hauptstädten des Ostblocks Bewunderer des „chinesischen Szenarios“. Dass diese Dogmatiker sich letztlich nicht durchsetzen konnten, gibt bis heute Rätsel auf und gilt als eine Art „politisches Wunder“. Ich erkläre dieses Wunder, also die friedliche Auflösung der kommunistischen Regime an der westlichen Peripherie des Ostblocks (bis auf Rumänien), in erster Linie mit der Erosion des Glaubens an die kommunistische „lichte Zukunft“, die im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts sowohl die herrschende Parteibürokratie als auch die Beherrschten im Ostblock erfasste. 1989 fühlten sich die osteuropäischen Kommunisten nicht mehr als Sieger, sondern als „Verlierer der Geschichte“, und dieser fehlende Glaube an die eigenen Ideale wie auch an die historische Legitimität ihrer Herrschaft lähmte ihren bis dahin unbändigen Willen zur Macht.

Dass es in den Ländern Ostmitteleuropas (Polen, Tschechoslowakei, Ungarn, DDR) gelang, den „real existierenden Sozialismus“ relativ friedlich abzuschaffen, scheint noch einigermaßen verständlich. Diese Staaten befreiten sich von den Regimen, die die sowjetische Besatzungsmacht ihnen 1945 aufoktroyiert hatte. Die wichtigste strategische Reserve dieser Regime waren die Panzer der östlichen Hegemonialmacht. Der Verzicht Gorbatschows auf die Breschnew-Doktrin entzog aber den Vasallen Moskaus, wie bereits gesagt, ihre wichtigste Grundlage und so brachen ihre Regime über Nacht zusammen. Eine ähnliche Entwicklung in Moskau hielt man indes in Ost und West für kaum denkbar. Schließlich war das kommunistische System in Russland, anders als in Osteuropa, infolge einer Revolution nach klassischem Muster entstanden. Es konnte hier viel tiefere Wurzeln schlagen als in Polen, in Ungarn oder in der DDR. Indes war den Moskauer Kommunisten ein beinahe identisches Schicksal wie ihren osteuropäischen Gesinnungsgenossen beschert. Auch ihnen fehlte der Wille zur Macht. Auch die UdSSR löste sich 1991 praktisch ohne Blutvergießen auf und dies am Ende eines Jahrhunderts, das zwei Weltkriege, grausame Bürgerkriege, Auschwitz und den Archipel Gulag erlebt hatte!

Leonid Luks

Der Prof. em. für Mittel- und Osteuropäische Zeitgeschichte an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt wurde 1947 in Sverdlovsk (heute Ekaterinburg) geboren. Er studierte in Jerusalem und München. Von 1989 bis 1995 war er stellvertretender Leiter der Osteuropa-Redaktion der Deutschen Welle und zugleich Privatdozent und apl. Professor an der Universität Köln. Bis 2012 war er Inhaber des Lehrstuhls für Mittel- und Osteuropäische Zeitgeschichte an der KU Eichstätt-Ingolstadt. Er ist Geschäftsführender Herausgeber der Zeitschrift Forum für osteuropäische Ideen- und Zeitgeschichte.

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