Lügde – Der Täter, der ein Opfer war
Am 31.10.2019 sprach das Landgericht Paderborn einen 17-jährigen vom Vorwurf des sexuellen Missbrauchs von Kindern frei, obwohl dieser die Taten gestanden hatte. Wie kann das sein? Die Samstagskolumne von Heinrich Schmitz
Der Freispruch von Lügde stößt bei den üblichen Verdächtigen auf Kritik. Aber lassen wir die Schwanzab-, Kopfab- und Aufhängfans mal außen vor. Mit denen lohnt keine Diskussion, weil ihre hasszerfressenen Hirne ohnehin nicht mehr funktionieren. Gucken wir uns lieber einmal in Ruhe an, warum das Gericht zu einem Freispruch gekommen ist.
Zum Zeitpunkt der ihm vorgeworfenen Taten war der Angeklagte 16 Jahre alt. Für ihn war daher Jugendstrafrecht anzuwenden. Das gilt für alle zwischen 14 und 17. Das Jugendstrafrecht unterscheidet sich in Teilen ganz erheblich vom Erwachsenenstrafrecht, was damit zusammenhängt, dass Jugendliche noch nicht die volle Reife von Erwachsenen haben (können) und deshalb ihre Verantwortung für von ihnen begangene Straftaten anders zu beurteilen ist. Im Übrigen steht beim Jugendstrafrecht der Erziehungsgedanke im Vordergrund, wenn es denn zu einer Verurteilung kommt.
Verantwortlichkeit
Bezüglich der Verantwortlichkeit eines jugendlichen Angeklagten sieht das Jugendgerichtsgesetz (JGG) folgende Regelung vor:
§ 3
Verantwortlichkeit
1Ein Jugendlicher ist strafrechtlich verantwortlich, wenn er zur Zeit der Tat nach seiner sittlichen und geistigen Entwicklung reif genug ist, das Unrecht der Tat einzusehen und nach dieser Einsicht zu handeln. 2Zur Erziehung eines Jugendlichen, der mangels Reife strafrechtlich nicht verantwortlich ist, kann der Richter dieselben Maßnahmen anordnen wie das Familiengericht.
Nun gibt es auch im Erwachsenenstrafrecht Täter, die aufgrund bestimmter Umstände schuldunfähig sein können. Das ist in § 20 StGB geregelt. Dort heißt es:
§ 20
Schuldunfähigkeit wegen seelischer Störungen
Ohne Schuld handelt, wer bei Begehung der Tat wegen einer krankhaften seelischen Störung, wegen einer tiefgreifenden Bewußtseinsstörung oder wegen Schwachsinns oder einer schweren anderen seelischen Abartigkeit unfähig ist, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln.
Der wesentliche Unterschied zwischen den beiden Vorschriften ist der, dass bei einem Jugendlichen die Verantwortlichkeit, also die „sittliche Reife“, positiv festgestellt werden muss, diese hingegen bei Erwachsenen zunächst einmal unterstellt wird und nur bei Vorliegen besonderer Umstände geprüft wird, ob denn der Erwachsene wegen einer oder mehrere seelischer Störungen schuldunfähig sein könnte. Wird die Verantwortungsreife eines Jugendlichen positiv festgestellt, dann kann für ihn gleichwohl auch noch der § 20 StGB zum Tragen kommen, wenn er ansonsten ganz normal entwickelt ist, aber z.B. bei der Tat unter massivem Alkoholeinfluss oder einer akuten Psychose stand.
Bestehen also bei einem Jugendlichen irgendwelche Zweifel an der Verantwortlichkeit nach § 3 JGG, dann führen diese zwingend zu einem Freispruch, weil halt die strafrechtlich erforderliche Verantwortlichkeit nicht positiv festgestellt werden konnte.
Einsichtsfähigkeit
§ 3 JGG verlangt zum einen Einsichtsfähigkeit, also ethische Reife – das ist die Voraussetzung „nach seiner sittlichen Entwicklung“ – und zum anderen zusätzlich die sogenannte Verstandesreife – „nach seiner geistigen Entwicklung“. Beide Voraussetzungen müssen vorliegen, damit ein Jugendlicher verurteilt werden kann. Fehlt eine davon, gibt es einen Freispruch.
Es reicht zunächst aus, dass der Jugendliche die tatsächlichen Umstände, die seine Handlung zu einer strafrechtlich verbotenen macht, kennt und auch selbst als verboten einschätzt. Er muss nicht die verletzte Vorschrift kennen, aber er muss erkennen, dass er etwas Verbotenes tut.
Handlungsfähigkeit
Hinzu kommen muss seine Handlungsfähigkeit; das bedeutet, er muss auch in der Lage sein, entsprechend seiner Erkenntnis, dass das etwas Verbotenes ist, zu handeln.
In der jugendgerichtlichen Praxis – gerade bei den Amtsgerichten – muss man leider immer wieder feststellen, dass diesem elementaren Grundsatz des Jugendstrafrechts häufig nicht die Bedeutung zugemessen wird, die ihm zukommt. Vielmehr wird die Verantwortlichkeit häufig ohne große Prüfung mit eher formelhaften Formulierungen unterstellt. Gutachten werden da eher selten eingeholt und das, obwohl so ein Jugendrichter gerade kein Psychologe ist.
So kann insbesondere die Verantwortungsreife bei Beteiligung von Autoritätspersonen an der Tat schwierig werden. Der 14-jährige, der mit seinem Vater auf Einbruchstour geht, dürfte erhebliche Schwierigkeiten haben, der Einsicht, dass er da etwas Verbotenes tut, entsprechend zu handeln und sich den Anweisungen seines womöglich gewalttätigen Vaters zu widersetzen. Dasselbe gilt auch, wenn der Jugendliche in einer Gruppe älterer Freunde unterwegs ist und sich dem Gruppendruck nicht entziehen kann.
Ähnliches ist wohl auch bei einem Jugendlichen zu erwarten, der zunächst selbst Opfer eines sexuellen Missbrauchs wurde und dann im Verein mit den erwachsenen Tätern die Rolle wechselt.
Ob die erforderliche Verantwortungsreife gegeben ist, hat der Tatrichter auf der Grundlage seiner Feststellungen zur persönlichen Entwicklung des Jugendlichen, zu dessen Persönlichkeit zur Tatzeit und den Umständen der konkreten Tat – gegebenenfalls mit sachverständiger Hilfe (vgl. § 43 Abs. 2 JGG) – wertend zu beurteilen. (BGH, 28.06.2016 – 1 StR 5/16, Rn. 26)
Es stellt also weder einen Skandal, noch ein Fehlurteil oder gar einen Fehler im Gesetz dar, wenn ein Jugendlicher, dem die Verantwortungsreife fehlt, nicht verurteilt werden kann, sondern ist Ausfluss unseres an der individuellen Schuld ausgerichteten Strafrechts.
Hilfsmaßnahmen
Das bedeutet übrigens nicht, dass das Gericht nun gar nichts gegen bzw. für den Jugendlichen tun kann. Vielmehr sieht bereits § 3 Satz 2 JGG ausdrücklich vor, dass der Richter dieselben Maßnahmen anordnen kann wie das Familiengericht.
Welche das sind, ist in § 34 Abs. 3 JGG geregelt:
(3) Familiengerichtliche Erziehungsaufgaben sind
1. die Unterstützung der Eltern, des Vormundes und des Pflegers durch geeignete Maßnahmen (§ 1631 Abs. 3, §§ 1800, 1915 des Bürgerlichen Gesetzbuches),
2. die Maßnahmen zur Abwendung einer Gefährdung des Jugendlichen (§§ 1666, 1666a, 1837 Abs. 4, § 1915 des Bürgerlichen Gesetzbuches).
Der Jugendliche und die Gesellschaft werden also nicht alleine gelassen. Vielmehr hat das Gericht hier alle erforderlichen Maßnahmen zu treffen, um den Jugendlichen – und damit auch die Gesellschaft – vor weiteren Gefährdungen zu schützen.
§ 1666 BGB bestimmt in Absatz 1
Wird das körperliche, geistige oder seelische Wohl des Kindes oder sein Vermögen gefährdet und sind die Eltern nicht gewillt oder nicht in der Lage, die Gefahr abzuwenden, so hat das Familiengericht die Maßnahmen zu treffen, die zur Abwendung der Gefahr erforderlich sind.
Welche Maßnahmen das sein können, sagt Absatz 3:
Zu den gerichtlichen Maßnahmen nach Absatz 1 gehören insbesondere
- Gebote, öffentliche Hilfen wie zum Beispiel Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe und der Gesundheitsfürsorge in Anspruch zu nehmen,
2. Gebote, für die Einhaltung der Schulpflicht zu sorgen,
3. Verbote, vorübergehend oder auf unbestimmte Zeit die Familienwohnung oder eine andere Wohnung zu nutzen, sich in einem bestimmten Umkreis der Wohnung aufzuhalten oder zu bestimmende andere Orte aufzusuchen, an denen sich das Kind regelmäßig aufhält,
4. Verbote, Verbindung zum Kind aufzunehmen oder ein Zusammentreffen mit dem Kind herbeizuführen,
5. die Ersetzung von Erklärungen des Inhabers der elterlichen Sorge,
6. die teilweise oder vollständige Entziehung der elterlichen Sorge.
Das Gericht ist also mit dem Freispruch nicht fertig, es muss sich genau ansehen, welche Hilfen der Jugendliche benötigt, um künftig nicht mehr straffällig zu werden und ein verantwortungsvolles Leben führen zu können. Das können stationäre oder ambulante Therapien sein, es kann aber auch eine Trennung von den Eltern oder ähnliches sein. Diese Maßnahmen sind aber nicht als Strafe gedacht, auch wenn mancher Jugendliche das so empfinden wird, sondern als Hilfen.
Opferschutz
Die im Netz entstandene Aufregung über den Freispruch von Lügde, flankiert von der Forderung nach einer Absenkung der Strafmündigkeit auf 12 Jahre oder ähnlicher uninformierter Quatsch, sind deshalb völlig unberechtigt. Vielleicht stellen die Kritiker der Entscheidung sich einmal für einen Moment vor, was der angeklagte Jugendliche als Opfer von sexuellem Missbrauch so mitgemacht hat und wie sich das auf seine Persönlichkeitsentwicklung ausgewirkt haben mag. Vielleicht versetzen sie sich selbst einmal in seine Situation. Gerade die, die stets beklagen, dass die Opfer von Straftaten in unserem Strafrechtssystem keine genügende Würdigung und keinen genügenden Schutz erhielten, müssten doch eigentlich sehr zufrieden damit sein, dass dies hier geschehen ist.
Das Urteil geht daher völlig in Ordnung.