Die erste Alphafrau des Rock

Grace Slick war der erste echte weibliche Rockstar, erfand den Psychedelic Rock mit und hätte Präsident Nixon um ein Haar LSD in seinen Tee geschüttet. Nun wird die Alphafrau 80 Jahre alt und bleibt so unangepasst wie eh und je. Ulf Kubanke gratuliert in der Hörmal-Kolumne


„Don’t you want somebody to love?“ Auf der ganzen Welt kennt man diesen Ausruf des gleichnamigen Liedes von Jefferson Airplane seit gut einem halben Jahrhundert. Die zugehörige Stimme gehört Sängerin Grace Slick, ihres Zeichens Symbol der Gegenkultur in den Sechzigern und simultan der erste echte weibliche Rockstar überhaupt. Nun begeht die lebende Legende ihren 80. Geburtstag. Slick ist kein Typ für sentimentale Rückschau. Blickt man jedoch auf ihr bewegtes Leben voller Höhenflüge, Abstürze und Anekdoten, fragt man sich unwillkürlich, weshalb ihr Werdegang nicht längst verfilmt wurde.

San Francisco 1967: Das angesagte Haight-Ashbury-Szeneviertel schickt Dopewolken, freie Liebe, politischen Protest und großartige Musik um die Welt. Zwei Bands bilden den popkulturellen Nukleus jener Tage: Grateful Dead um Jerry Garcia sowie die befreundeten Jefferson Airplane mit Frontfrau Grace Slick. Slick ist Königin, Hohepriesterin und Wortführerin der von Medien und Volksmund halbironisch „Hashbury“ getauften Bewegung. Ihr Vorname ist Programm. Anmutige Schönheit samt offensiver Sexyness kombiniert das ehemalige Model mit blitzgescheiter Auffassungsgabe, Wagemut, der mitunter an Tollkühnheit grenzt plus tief verwurzelter Abscheu vor Ungerechtigkeit. Nebenbei ist sie eine talentierte Songwriterin von herausragend hypnotischer Bühnenpräsenz. Kein Wunder, dass sogar der eher spröde Hunter S. Thompson („Fear And Loathing In Las Vegas“, „Rolling Stone Magazine“) ihr während Recherchen zu einem Artikel restlos verfällt.

Mit „Surrealistic Pillow“ führt Slicks Band den ultimativen Soundtrack zum Summer of Love und der gesamten Gegenkultur im Gepäck. Ihre Platte erfindet den Psychedelic Rock mit und erscheint als totaler Pionier vor nahezu allen wichtigen Scheiben jenes magischen Jahres. Egal ob das Debüt der Doors, Jimi Hendrix Erstling, „Sgt Pepper“ der Beatles, Creams „Disraeli Gears“ oder „The Velvet Underground & Nico“ – all diese legendären Platten erblicken erst nach Jefferson Airplanes Kult-LP das Licht der Welt. Mit zwei Nummern macht sie sich musikhistorisch unsterblich. Das eingangs erwähnte „Somebody To Love“ nimmt druckvoll wie eine Luftpumpe den Powerpop vorweg. Binnen weniger Wochen avanciert es weltweit zur Hymne der sexuellen Befreiung.

Ebenso essentiell gerät Slicks gegensätzlicher Signatursong „White Rabbit“. Sein entrückter Lavalampensound sowie Graces Templerinnengesang machen das schöne Lied zum ewigen Inbegriff von Psychedelik und Sixties-Boheme.

Obgleich Jefferson Airplane in all seinen Inkarnationen keine Solopartie ist, sondern eine echte Band mit fähigen Songwritern wie Marty Balin oder Paul Kantner, bestimmt allein Slicks umwerfendes Charisma die öffentliche Wahrnehmung. Sie ist simultan politische Aktivistin gegen Rassismus, Frauenfeindlichkeit und kriegerischen Nationalismus, daneben der erste echte weibliche Rockstar überhaupt. Als totale Alphafrau spiegelt ihr Handeln in Agitation wie Exzess den unbezwingbaren Freigeist jener Jahre. Mit dem passiven Rollenbild der vorherigen Nierentisch-Dekade räumt sie restlos auf. Ganz selbstverständlich benimmt sie sich so selbstbewusst wie männliche Rock-Ikonen. Sie trinkt ihre Kollegen reihenweise unter den Tisch, tritt barbusig auf die Bühne und reckt auf ihrem berühmtesten Porträtfoto als erster weiblicher Superstar provokant den Mittelfinger in die Kamera. Solidarisch mit der afroamerikanischen Bürgerrechtsbewegung tritt sie gelegentlich mit schwarz gefärbtem Gesicht auf. „Es geht immer um die Verteidigung von Liebe und Freiheit!“ sagt sie und setzt reihenweise Zeichen gegen bigotten Puritanismus, Dominionismus und Konservativismus. Auf den wichtigsten Festivals jener Ära tritt sie mit dieser Haltung als Headlinerin auf, u.A. in Monterey oder Woodstock. Slicks Credo: „Mit Bildung erreicht man das Universum; mit Musik alle Menschen. Dazwischen musst du selbst unstopbar stehen!“ Spätere selbstbewusste Frauen wie Patti Smith oder Stevie Nicks berufen sich nachdrücklich auf die kompromisslose Vorreiterin.

Obwohl Präsident Nixon sie wenig überraschend als natürlichen Feind seiner Agenda einstufte, erhielt sie vom Weißen Haus 1969 eine Einladung zur Ehemaligenfeier aller Absolventinnen des Finch Colleges, welches sie seinerzeit mit dessen Tochter besuchte. Typisch für Slick, plante sie, ihm auf der Veranstaltung ein wenig mitgebrachtes LSD in den Tee zu schütten, scheiterte damit jedoch. Sie wurde mehrfach wegen Nichtigkeiten verhaftet, ließ sich davon jedoch nicht von ihrem Weg abbringen. Letzteres schaffte zeitweise nur ihr phasenweise überbordender Alkoholkonsum. Dieser kam ihrer Vorliebe für schnittige deutsche Sportwagen in die Quere. 1970 rast sie mit ihrem Porsche benebelt gegen eine Mauer und blieb wie durch ein Wunder unverletzt. Das Erlebnis verarbeitete sie selbstironisch im darauffolgenden Jahr auf dem Song „Never Argue With A German“ und steuerte sogar ein paar deutsche Sätze bei: „Mein Auto fährt sehr schnell, aber es rast gegen Mauern.“ Auf der zugehörigen 1971er LP „Bark“ befindet sich auch das intensive Stück „Crazy Miranda“, eines jener seltenen Lieder im damaligen Rockkontext, das trotz schmirgelnder Gitarren auf ein Piano als führendes Instrument setzt.

Künstlerisch lohnt auch die Entdeckung ihrer weitgehend unterschätzten Soloplatten. Allen voran ihr hervorragendes 1974er Debüt „Manhole“. Das dort vertreten „Better Lying Down“ etwa weist sie erstmals als inbrünstige Blues-Sängerin aus.

„Jay“ hingegen glänzt mit erlesenem Akustikgitarren-Arrangement. Großartig gerät auch ihre kraftvoll ekstatische Vorstellung auf dem 15 minütigen Titelstück. Auf folgenden Alben zeigt sie sich als schnörkellose Rocklady. Doch der große Erfolg bleibt aus.

Alles kein Problem für das personifizierte Stehaufweibchen. Im für Rockstars damals als biblisch empfundenen Alter von 45 Jahren, ergab sich ab 1985 ein weiterer Höhenflug. Starship, der nach Jefferson Starship mitllerweile dritten Inkarnation ihrer Urband, erobert sie lässig die junge MTV-Generation. Die beiden Alben „Knee Deep In The Hoopla“ und „No Protection“ verabschieden sich komplett von Slicks ursprünglichen Sound. Stattdessen setzt die Band auf angesagten Poprock und AOR. Slick erfindet sich als Videoclip-Queen neu und erreicht damit ein junges Publikum. Erneut springen für sie dabei zwei Monsterhits raus, die sich bis heute in aller Ohren als Hymnen der 80er etablieren. „We Built This City“ und „Nothings Gonna Stop Us Now“ erklimmen weltweit die Hitlisten, erobern sogar mühelos die US-Billboard-Charts.

Die letztgenannte Powerballade erlebte 30 Jahre später eine ebenfalls für Slick typisch schelmische Wiederauferstehung. Slick verwunderte durch die Erlaubniserteilung an das ultrakonservative, christlich-fundamentalistische Unternehmen Chick-Fil-A, ihr Stück in einem Werbespot zu verwenden. Die Fastfoodkette agitiert vehement gegen gleichgeschlechtliche Eheschließungen und verkündete, Homosexualität bringe Gottes Zorn über den Planeten. Warum nur erteilt ausgerechnet Slick solch einer Firma ihre Genehmigung? Ihre Taktik markiert sie einmal mehr als Eulenspiegel. Slick: „Chick-Fil-A macht mich wütend. Ich bin fest davon überzeugt, dass Männer Männer heiraten können sollten und Frauen Frauen. Ich bin leidenschaftlich gegen jeden, der versuchen würde, dieses grundlegende Menschenrecht zu unterdrücken. Also spende ich jeden Cent, den ich daraus mache, zur Förderung der Bürgerrechte von LGBTQ-Personen. Anstatt mein Lied zu ersetzen, beschloss ich, das Geld direkt gegen „Chick-Fil-A“ auszugeben. Von ihrem Geld!“

Nicht nur diese Episode zeigt, wie stark das Kämpferherz Slicks noch immer tickt. Zwar hat sie sich nach einem 1989er Reunion-Album im alten Jefferson Airplane-Line-Up weitgehend aus Musikgeschäft und Öffentlichkeit zurückgezogen. Gleichwohl macht sie sich seither einen Namen als Visual Arts-Künstlerin. Auch politisch verlor sie nie ihren ethischen Biss. Gern setzt sie die Wirksamkeit ihres Namens ein, um für „die Sache der Liebe und des Mitgefühls“ zu streiten; so auch jüngst bei Protesten gegen Tierversuche in der Kosmetikindustrie. Es scheint auch im hohen Alter keinen Tag in ihrem Leben zu geben, an dem sie sich nicht einem hochwertigen Anliegen widmet. Das ist umso erstaunlicher, wenn man weiß, dass sie gesundheitlich seit vielen Jahren schwer angeschlagen ist. Doch auch hier hat sie ein ebenso lakonisches wie entschlossenes Motto parat: „Egal wie groß, warm oder weich dein Bett ist. Du musst dennoch jeden Tag daraus aufstehen.“

Ulf Kubanke

Ehemaliger Anwalt; nun Publizist, Gesprächspartner und Biograph; u.a. für Deutschlands größtes Online-Musikmagazin laut.de.

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