Die ewige Bestie in uns

Von Unterhaltungen mit seinen Großeltern über Juden und den deutschen Antisemitismus berichtet Kolumnist Henning Hirsch


Nach dem Attentat in Halle diskutiert Deutschland mal wieder über seinen Antisemitismus. Das ist zum einen begrüßenswert, zum anderen staune ich oft, wie erstaunt manche Bürger tun, wenn solch eine Tat wie die vom vergangenen Mittwoch von einem Judenhasser mit biodeutschen Wurzeln verübt wird. Denn wir haben uns ja angewöhnt, den Antisemitismus – unter der Voraussetzung, dass er in unserem schönen und aufgeklärten Land überhaupt existiert – den Flüchtlingen aus dem arabischsprachigen Raum in die Schuhe zu schieben. Wir Deutschen selbst sind seit dem 8ten Mai 1945 geläutert und tolerieren von Stund an und in alle Ewigkeit sämtliche Glaubensbekenntnisse. Gemäß dem Fritzschen Credo: „Soll jeder nach seiner Façon selig werden“.

Antisemitismus mit der Muttermilch

Dass wir aufgrund der leidvollen Erfahrungen mit zwei Weltkriegen und den beiden Diktaturen von NSDAP und SED von unserer wilhelminischen Zwangsvorstellung nach autoritärer politischer Führung ein für alle Mal kuriert sind – diesem Irrglauben habe ich mich lange Zeit hingegeben. Mit jedem weiteren Erstarken der AfD wird mir jedoch immer klarer, dass unsere repräsentative, Minderheiten respektierende und schützende, Demokratie nicht ewig halten muss. Vielleicht erträgt sie die Schläge, die ihr täglich von Rechtsaußen zugefügt werden, vielleicht auch nicht. Wohin die Reise geht, hängt stark davon ab, in welche Richtung das Gros der Wähler – auch unter der Bezeichnung „die bürgerliche Mitte“ geläufig – tendieren wird. Wenn man den Menschen jeden Tag einen Cocktail gemixt aus Zukunftsangst und Kulturparanoia serviert, wird es erfahrungsgemäß nicht allzu lange dauern, bis die Sehnsucht nach einem starken Führer, die in vielen von uns schlummert, wieder erwacht. »Jetzt übertreiben Sie maßlos, Herr Kolumnist«, sagen Sie? Mag sein, dass ich an dieser Stelle etwas übertreibe und zu schwarz male. Mit zunehmendem Alter stelle ich leider pessimistische Anwandlungen bei mir fest.

Kam der Wunsch weiter Bevölkerungskreise nach Stärkung der Exekutive, bei gleichzeitiger Schwächung von Parlament und Judikative, zugegebenermaßen überraschend für mich, so habe ich mir seit früher Jugend nie Illusionen über unseren angeborenen Antisemitismus gemacht. Er wird uns mit dem Christentum in die Wiege gelegt (was nicht zwangsläufig bedeutet, dass nicht auch Atheisten üble Judenhasser sein können), wir saugen ihn mit Muttermilch und Religionsunterricht ein. An unseren Stammtischen philosophieren wir mal weniger, mal mehr alkoholisiert über die geradezu unanständige Finanzmacht der Rothschilds und halluzinieren in den einschlägigen Foren eine jüdische Weltverschwörung herbei. All das ist nicht neu, gibt es seit zweihundertfünfzig Jahren, als man begann, die ursprünglich auf das Gebetsbuch zielende Abneigung auf zusätzliche Bereiche auszudehnen.

Was die Großeltern erzählten

Dass die Juden immer viel Geld hatten, knauserig waren und stets abgeschottet unter sich blieben, wussten bereits meine Großeltern hinter vorgehaltener Hand zu berichten, weshalb sie nicht ganz unschuldig an ihrem, im Rückblick zugegebenermaßen nicht so erfreulichen, Schicksal in den Jahren zwischen 33 und 45 gewesen seien. Mit der Frage konfrontiert, ob all das – falls es denn überhaupt jemals zugetroffen hatte – den Holocaust rechtfertigte, lautete die Antwort sofort: NEIN! Man sei damals sowieso unwissend über all die Gräueltaten gewesen, denn der Genozid lief streng geheim ab. Und überhaupt hatte man mit dem eigenen Überleben in dieser schrecklichen Zeit, als die Bomben auf unsere Städte prasselten wie Konfetti aus dem Kölner Prinzenwagen an Rosenmontag, derart viel um die Ohren, dass man nicht jeder Schauergeschichte, die aus dem Osten zu einem drang, in Ruhe zuhören konnte. »Ihr, die ihr zwanzig Jahre später geboren seid, habt gut reden«, hieß es. »Als ob wir uns das alles freiwillig ausgesucht hätten.«

Während mir als 14-Jährigem durchaus einleuchtete, dass man sich nach der dreißigsten Nacht im Luftschutzbunker vor allem um die eigene Existenz sorgte, begriff ich trotzdem nicht, wie man Abtransport und Vernichtung von sechs Millionen Menschen bis zum bitteren Ende streng geheim halten konnte. Dass niemand außer Hitler, Himmler und den SS-Wachleuten über den Massenmord informiert gewesen sei. Ich sortierte diesen Teil der Weltkriegserzählung in die Kategorie Märchen ein. Gleich neben die Mär vom flächendeckenden deutschen Widerstand. Es lässt sich nicht beschönigen: Die Generation meiner Großeltern trägt ein gehöriges Maß an Mitschuld an der Barbarei, die sich in den zwölf Jahren des 1000-jährigen Reichs in Deutschland und in den von uns besetzten Gebieten zugetragen hat. So gerne ich meine Großeltern mochte – in Punkto Antisemitismus traute ich ihnen nie so richtig über den Weg. Nicht, weil ich speziell sie im Verdacht hatte, sondern da ich ihre gesamte Generation in der Verantwortung dafür sah, dass am 30. Januar 1933 ein Verbrecherregime an die Macht gelangte. Und wenn auch die Hälfte der Wahlberechtigten ihr Kreuz damals nicht bei der NSDAP gesetzt hatte, so waren sie spätestens bis 1938 alle auf Parteilinie gebracht worden. Die Mischung „Nationalismus & Wirtschaftsaufschwung“ verfing bei einem Großteil der Bevölkerung. Die Zustimmungsraten für Hitler und seine Politik waren kurz vor Kriegsbeginn enorm. Dass nebenbei immer mehr Menschen auf Nimmerwiedersehen verschwanden – ach, du meine Güte. Keine Staatsform ist perfekt.

Relativierung des Nicht-Relativierbaren

Froh war ich deshalb, dass meine Eltern die Zeitspanne von 33 bis 45 als Kinder und Jugendliche erlebt hatten, sie sich also in meiner Teenagerlogik die Hände nicht mit Blut befleckt haben konnten. Ein Umstand, den Helmut Kohl viele Jahre später als Gnade der späten Geburt umschrieb. Ins Grübeln geriet ich allerdings, als mein Vater auf seine alten Tage von einer Israelreise (seiner ersten und einzigen) zurückkehrte und plötzlich das Leid der Palästinenser beklagte. Dieselben Palästinenser, die er bis vor kurzem als ewige Aufrührer und notorische Terroristen angesehen hatte. Sein Reisebericht gipfelte in: »Sie stecken die Menschen in Lager, die unseren KZs ähneln«. Auf meinen Einwand hin, »Du willst doch jetzt nicht allen Ernstes unsere KZs mit den Einrichtungen in Israel vergleichen?«, schwieg er beschämt. Und auch ich schwieg, denn ich wollte mich mit dem alten Mann nicht streiten. Erst nach seinem Tod begriff ich, dass die Schuldfrage, die er für sich persönlich vermutlich nie eindeutig lösen konnte, ihn hin und wieder dazu trieb, abstruse Vergleiche anzustellen und das relativieren zu wollen, was man niemals wird relativieren können. Im Gegensatz zur Generation seiner Eltern – falls Sie jetzt mit meiner vielen Verwandtschaft durcheinanderkommen, erkläre ich es an dieser Stelle lieber nochmal: die Eltern meines Vaters sind meine Großeltern –, für die der Nazifuror einen bedauerlichen Zwischenfall in der ansonsten ruhmreichen deutschen Geschichte darstellte, und die nach 1945 schnell zum bundesrepublikanischen Tagesgeschäft überging, ließ mein Vater nie einen Zweifel aufkommen, dass Ausmaß und Organisation des staatlich gelenkten Terrors zwischen 1933 und 45 einmalig in der, an Grausamkeiten nicht armen, Weltgeschichte sind; auch wenn ab und an Sätze wie dieser, »In Russland unter Stalin war’s um keinen Deut humaner als bei uns«, fielen. Seiner Verantwortung für das, was den Juden in unserem Land angetan worden war, war sich mein Vater, obwohl er beim aktiven Mitmachen nicht übers Jungvolk hinausgelangte, bis ans Lebensende bewusst. Wir haben das oft miteinander diskutiert.

Verantwortungsethik vs. Vogelschiss

Und bei diesem – zugegebenermaßen nicht ganz einfachen – Begriff Verantwortung scheiden sich in Deutschland mittlerweile die Geister. Während sich die einen auf ihre ganz späte Geburt berufen, »Was habe ich mit der uralten Sache zu tun?«, ist den anderen weiterhin klar, dass wir uns nach wie vor in einer Bringschuld gegenüber den Juden und ihrem neuen Staat Israel befinden, und sich die Stigmatisierung von Minderheiten bei uns nie mehr wiederholen darf. »Holocaust verjährt nicht«, sagte einer meiner Geschichtslehrer treffend dazu. Äußerungen wie, „Diese zwölf Jahre sind ein Vogelschiss in der deutschen Geschichte“, „Überwindung unseres Schuldkults“ oder „Der moderne Antisemitismus wird importiert“ wirken hingegen wie Tranquilizer auf überhitzte Gehirne: Alles nicht so schlimm, was hier geschehen ist. Deutscher Patriot, kannst ruhig schlafen; die anderen sind um keinen Deut besser als wir. Und vor allem muss endlich Schluss damit sein, dass wir uns ständig in unserer Schuld suhlen wie Schweine im Dreck. Lasst uns die kurze Zeitspanne zwischen 33 und 45 abhaken und stattdessen pragmatische Gegenwartspolitik betreiben. Ein alter, neuer Feind steht vor der Tür und bedroht mal wieder das Abendland: der Islam. Sobald die Wirkung des den ruhigen Patriotenschlaf fördernden Verbalvaliums verpufft, kann es in Einzelfällen zwar passieren, dass zornige weiße Männer zum Sturmgewehr greifen und Juden und Moslems ins Jenseits befördern. Aber ein paar Spinner gibt’s ja immer.

Unser angeborener Antisemitismus, von dem laut Studien durchgängig 25 bis hin zu 40 Prozent der Bevölkerung infiziert sind, nährt sich zwar immer aus der weiter oben geschilderten generellen Abneigung gegen das Judentum und seine religiösen Gebräuche, jedoch leiten Rechte und Linke unterschiedliche Vorgehensweisen daraus ab. Während die Erstgenannten keine Skrupel zeigen, Juden physisch – sogar während ihrer Gebetszeit in der Synagoge – zu eliminieren , beschreiten die Zweitgenannten einen Umweg, indem sie das Existenzrecht Israels grundlegend in Frage stellen, was konsequent zu Ende gedacht in einer neuen Diaspora mündet. Gemeinsam ist rechten und linken Antisemiten, dass sie kruden Weltverschwörungstheorien anhängen und sich einer ans Manische grenzenden Israelkritik hingeben. Jede neu errichtete Kleinstsiedlung im Westjordanland erfährt mehr Aufmerksamkeit als die chinesischen Umerziehungslager in Xinjiang und die massenhafte Verhaftung von Oppositionellen in Russland. Dieselben Kritiker fordern interessanterweise häufig einen vorurteilsfreien Dialog mit Peking und ein rasches Ende der Wirtschaftssanktionen gegenüber Moskau. »Das ist böser Whataboutismus«, sagen Sie? Stimmt. Deshalb höre ich auch schon wieder auf damit.

Die Bestie erwacht

Um es abschließend auf den Punkt zu bringen: Die Bestie Antisemitismus schlummert seit zweitausend Jahren in uns Christen. Im einen mehr, im anderen weniger. Mal schläft sie, mal rumort sie, mal bricht sie eruptiv aus. Sobald sie von politischer Seite aus Nahrung erhält – und es gehört nicht viel Fantasie dazu, sich auszumalen, dass vom Islam- zum Judenhass nur ein kleiner Schritt notwendig ist –, brechen Stück für Stück die jahrzehntelang mühsam errichteten Dämme. Dann resultieren aus alkoholisiertem Stammtischgeschwafel und aufgeheizten Internetdiskussionen schnell blutgetränkte Massaker. Während die geistigen Brandstifter gerne auf die Gefahr des importierten Antisemitismus verweisen – der ohne jeden Zweifel existiert –, ist ein Viertel der Deutschen anfällig für den Gedanken, man sei aufgrund zufälliger Geburt, damit einhergehender zufälliger Hautfarbe und Religionszugehörigkeit anderen Religionen und Kulturen überlegen. Tendenz steigend. So lange wir Schuldkult-Gequatsche, Nazi-Hetze im Internet, Fascho-Demos und die ständige Verschiebung des Sagbaren nach rechts sanktionslos dulden, die Antifa wiederum für eine linksterroristische Vereinigung einstufen, dürfen wir uns nicht wundern, wenn sich die Bestie heute immer dreister im Tageslicht zeigt und in Zukunft dem wieder nachgeht, was sie am besten beherrscht: Lügen verbreiten, stigmatisieren, einschüchtern und töten.

Ich hätte nicht gedacht, dass ich eines Tages Hobbes in seiner Auffassung, „Der Mensch ist dem Mensch ein Wolf“*, beipflichte. Ereignisse wie das von Halle und der geschichtsvergessene, verantwortungslose Quark, der seit einigen Jahren von den Rechten ungeniert unters Volk gebracht wird, lassen mich im Moment allerdings eher pessimistisch in die Zukunft blicken.

* das Original stammt von Plautus. Danke, dass Sie mich darauf hinweisen. Komplett lautet das Zitat so: „Ein Wolf ist der Mensch dem Menschen, kein Mensch, solange er nicht weiß, welcher Art der andere ist“.

Henning Hirsch

Betriebswirt und Politologe, Comicleser, Filmjunkie, Bukowski- und FC- (es gibt nur einen FC: nämlich den aus Köln) Fan, trockener Alkoholiker. In die Abstinenz startete er mit einem Roman: Saufdruck. Seitdem tippt er abends Kurzgeschichten und Gedichte. Da die Schreiberei alleine nicht satt macht, verdient er tagsüber seine Kaltmiete und die Kühlschrankfüllung mit Marketing & Orga. Henning Hirsch lebt im Bonner Süden und ist Vater von drei Kindern ... Wer mehr von ihm lesen möchte: www.saufdruck.de

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