Eine Sonate über die Geschichte der Musik? Szabados/Braxtons „Szabraxtondos“

Eines der schönsten und dabei doch relativ Einsteigerfreundlichen Free Jazz Alben entsprang einer Kooperation des Free-Jazz-Intelektuellen Anthony Braxton und des ungarischen Autodidakten György Szabados. Kolumnist Sören Heim liest es als Musik über Musik. Metamusik sozusagen.


Szabraxtondos war eines der ersten Alben, mit dem ich mich für Free Jazz erwärmen konnte (zur Problematik des Begriffs). Dabei gebe ich zu, dass ich den ausgedehnten, für das ungeübte Ohr verwirrenden Titel „Halott-Táncoltatás“ zum Auftakt anfangs fast immer übersprungen habe, und mit den einfachen melodischen „Ajánlás Asszonyainknak“ eingestiegen bin, und dann weiter die beiden eher an klassischen Jazz anklingenden „Keserves“ und „Szabraxtondos II“ gehört habe. Wer das so hält, bekommt drei schöne, moderat dissonante, Musikstücke, dürfte jedoch mit der Zeit regelrecht spüren, dass dem Album etwas fehlt. „Halott-Táncoltatás“, diese absichtsvolle Überforderung des Ohres am Anfang, ist eminent wichtig für die Einheit des Werks, „Ajánlás Asszonyainknak“ in seiner trügerischen Schlichtheit wächst erst so richtig, wenn es als Ventil für den Druck fungieren kann, den „Halott-Táncoltatás“ aufgebaut hat.

Hommage an Sonatensatzform?

Mittlerweile neige ich dazu, Szabraxtondos, diese so unwahrscheinliche Kollaboration zwischen einem im noch sowjetischen Ungarn als Jazz-Autodidakt zu seiner Kunst gekommenen Pianisten und der vielleicht theorielastigsten, dabei experimentierfreudigsten amerikanischen Free-Jazz-Koriphäe überhaupt, Anthony Braxton, als bewusste oder unbewusste Hommage an die klassische Sonatensatzform zu sehen. Samuel Andreev sagt in einer hörenswerten Analyse des vierten Quartetts von Bela Bartók, dieser beziehe sich im Großen und Ganzen zwar noch auf die Regeln der Tonalität, allerdings nicht in deren eigentlichem Sinne, sondern metaphorisch. Es gibt also Analogien zu den traditionellen Formen und Modulationsweisen, zum strengen Kontrapunkt usw., die aber den Musikern der Klassik und des Barock die Haare zu Berge stehen lassen würden. Ähnlich analog sehe ich hier Szabraxtondos und die viersätzige Struktur klassischer Werke. Wobei das Album gewissermaßen die Musik an sich „durchführt“, die ihm zu Grunde liegt. Einen Bartók-Bezug haben übrigens beide Musiker, Szabados hat u.a. Bartók-Bearbeitungen veröffentlicht und Braxton sagt über ihn „He has always reminded me of Béla Bartók; he was like a combination of Bartók and Thelonious Monk in a strange and beautiful kind of way.“)

„Halott-Táncoltatás“, dieses scheinbar wilde Widerspiel von Piano und Saxophon, in dem man nach einigen Hördurchgängen dennoch wird überraschende Harmonien ausmachen können, und an dem besonders zu faszinieren vermag, wie viel stimmig, fast wie ein kleines Ensemble die beiden Musiker zu klingen vermögen, wäre dann die sehr ausgedehnte „Exposition“. Sie stellt das Reich der Töne quasi als Material vor. Kennt kaum etwas, das man „Phrase“ nennen könnte, sicherlich keine Melodie, ist reines Schwanken zwischen harmonischen und disharmonischen vertikalen Strukturen. „Ajánlás Asszonyainknak“ fängt diese Überfülle des Materials dann in einer Schlichtheit ein, die man erst so recht versteht, wenn man den vorhergehenden Titel durchgestanden hat. Hier bewegen wir uns in der europäischen Musiktradition, ein romantisch/klassisches Lied, auch ein Volkslied könnte zugrundeliegen. Ja, das ist ein fürs Ohr angenehmes Stück, das nach der Erschöpfung des Auftaktes geradezu erhebt. Doch es verleitet den Hörer nie dazu, hier etwas „Ursprüngliches“, Einfaches sehen zu wollen, das nicht künstlerisch aufs äußerste durchgearbeitet wurde. Immer wieder schleichen sich kleine Abweichungen ins weitgehende Unisono der Instrumente, ganz leichte Verschiebungen entgegen der eigentlich zu erwartenden Harmonie, die dem Ganzen einen silbrigen Glanz verleihen, und genug Dissonanz, um die Schönheit des Zusammenklangs noch deutlicher spüren zu lassen. Über die nächsten beiden Stücke bewegt man sich dann deutlicher jazzigen Kängen zu, auch diese amerikanische Musiktradition wird so ganz in diese metaphorische „Sonate über die Musik“ hinein genommen, und findet in dem schon deutlich swingenden „Szabraxtondos II“ ihren fulminanten Abschluss.

Die „andere“ Lesart?

Man mag dem entgegenhalten, dass die ersten drei Titel des Werkes Namen tragen, die nahe legen, dass György Szabados ein ganz eigenes Programm im Hinterkopf hatte, Szabraxtondos führe von einen wilden Tanz über ein „Frauenlob“ und eine Klage zur letztlichen Synthese Braxton/Szabados. Für mich ist das kein Widerspruch. Auch die klassische Sonate entwickelte sich ja genau aus solchen noch stärker „praxisbezogenen“ Musikstücken wie Tänzen usw… Der Rahmen der metaphorischen Sonate ist, ob von den Musikern nun bewusst gestaltet oder nicht, ein passender, der hilft zu verstehen, wie es sein kann, dass man drei Titeln aus einem hervorragenden Album so deutlich abspüren kann, dass ein vierter fehlt. Aber lassen Sie „Halott-Táncoltatás“ zu Beginn, falls es Sie überfordert, ruhig erst einmal raus. Szabraxtondos 2-4 ist ein relativ angenehmer Einstieg in den Free Jazz, der helfen kann, die Ohren für komplexere Klänge zu öffnen. Das Verlangen nach dem unausweichlichen Auftakt kommt dann mit der Zeit schon von selbst.

Das Album ist auf Szabdos‘ Homepage vollständig abrufbar – samt Bonustitel.

Sören Heim

Sören Heim ist Journalist, Übersetzer und Schriftsteller. Er ist Träger des kosovarischen Preises für moderne Dichtung „Pena e Anton Pashkut“ (Stift des Anton Pashku) und des Sonderpreises „Favorit von Daniel Glattauer“ der art.experience 2014. In HeimSpiel schreibt Sören Heim mit Heimvorteil zu den Schnittpunkten von Kunst, Kultur und Gesellschaftspolitik. Er beleuchtet die unerwartete Bedeutung ästhetischer Fragestellungen für zeitgenössische Debatten, die mit Kunst auf den ersten Blick kaum Berührungspunkte haben. Und wo immer, sei es in der Politik, sei es in der Ökonomie, sei es gar im Sport, er auf geballten Unsinn und Unverstand trifft, wagt der Kolumnist auch das ein oder andere Auswärtsspiel. Bisher erschien die Kolumne HeimSpiel im Online-Debattenmagazin The European. Daneben veröffentlicht Heim in mehreren Literaturzeitschriften vornehmlich Lyrik und dichte Kurzprosa, und bloggt auf der eigenen Homepage aus seinem Zettelkasten. Monographien: Kleinstadtminiaturen: Ein Roman in 24 Bildern. Girgis Verlag: 2016 – ISBN: 978-3939154181.Cover nur Front Gewogene Worte: Nachdichtungen aus dem Chinesischen. edition maya: 2016 – ISBN: 978-3930758463.cover kathaStrophen. Experimente in Rhythmus und Melodie. Chiliverlag: 2017 -ISBN: 978-3943292541.FrontCover 2_bleu Algenhumor: Gedichte für das dritte Jahrtausend. Girgis Verlag: 2016 – ISBN: 978-3939154228.algen Audio-Exklusiv: La vie! La jeunesse! – Hörmordkartell 2017

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