Das Ende ist nahles
Größe zeigt derjenige, der in der Lage ist, die Größe eines ungeliebten Politikers anzuerkennen, sagt Kolumnist Henning Hirsch
Wenn in diesen ungewissen Zeiten aufs eins hundert Prozent Verlass ist, dann sind das die täglich vieltausendfach rausgehauenen Boshaftigkeiten in Facebook. Jüngstes Beispiel: Andrea Nahles abrupter Rückzug von allen Ämtern. Vordergründig ausgelöst durch die zwei SPD-Wahlschlappen in Bremen und Europa Ende Mai; im Hintergrund tobten jedoch seit Monaten erbitterte Grabenkämpfe um die zukünftige Ausrichtung der SPD. Wer es hierbei schafft, seine Agenda durchzusetzen, dem winken innerparteiliche Macht und in der Konsequenz interessante Regierungsjobs. Richtungsfragen sind immer gleichzeitig auch Machtfragen. Man muss kein Sozialdemokrat sein, um zu erkennen: Das Am-Stuhl-sägen muss heftig gewesen sein. Andernfalls würde die Vulkaneifelerin nicht zusätzlich auf ihr Abgeordnetenmandat verzichten.
Die typischen Facebook-Nickligkeiten
Als ich gestern Nachmittag spontan schrieb:
Respekt für den schnellen u konsequenten Cut, den Frau Nahles heute vollzogen hat. Sich mit 48 von allem, was einem bis gestern die Welt bedeutet hat, zu verabschieden – dazu gehört Größe. Evtl gemixt mit einem Schuss Verzweiflung über die Zukunft der SPD … aber unterm Strich überwiegt die Größe.
erntete ich als Reaktion Kommentare dieser Art:
Nahles war das Schlimmste, was der SPD je wiederfahren ist. Bevor diese „Tran-Tussi“ dort am Ruder war, hatte die Partei immerhin noch meinen Respekt, auch wenn ich kein Sozi bin.
„Größe“ wäre gewesen, wenn sie nach dem Wahl-Debakel (Europa und Bremen) sofort die Konsequenzen gezogen hätte anstelle zu versuchen, persönlichen Machterhalt durch vorzgezogene Vorstandswahlen zu betreiben.
Ihre Chance, Größe zu beweisen, hatte sie, als sie Ministerin für Arbeit und Soziales war. Exakt zu diesem Zeitpunkt hat sie es für die SPD neuerlich vergeigt.
Die wird sich schon noch ein „Pöstchen“ bereitgehalten haben….ohne Netz und doppelten Boden fällt die nie im Leben.
Weiß nicht, ob das „Größe“ zeigt 🙂 Sie hat bestimmt schon eine Stelle bei Gazprom sicher 😉 Wozu sich dann mit der SPD rumärgern?
Ich reibe mir verwundert die Augen und denke: hä, war nicht Nahles die Dame, die den Mindestlohn und die Rente mit 63 durchgesetzt hat? War sie nicht die, die nach der Pleite mit Messias Schulz das Steuerruder übernahm, und sich nicht aus der Verantwortung schlich? Okay, demgegenüber stehen Peinlichkeiten wie Bätschi, das Trällern eines Pipi-Langstrumpf-Songs, ein herzhaftes „in die Fresse!“. Aber seien wir mal ehrlich: Würden wir einen Mann bei ähnlichen Pillepalle-Aufregern auf die Liste unserer meist-gedissten Politiker setzen? Schnelle Antwort: Nein, würden wir nicht tun. Reichen Bätschi & Fresse mittlerweile aus, damit wir einem Menschen die Befähigung zu seinem Beruf absprechen? Vom stinklangweiligen Der/die-soll-erstmal-was-Richtiges-lernen/arbeiten will ich hier gar nicht anfangen, weil ich mich sonst beim Tippen aufrege, was nicht gut für meinen Blutdruck wäre.
Selbst- und fremdverschuldete Gründe des Scheiterns
Die (demnächst: Ex-) Parteichefin scheiterte an fünf Problemfeldern:
(1) Zu langes Mitregieren in der Groko
(2) Das Nicht-loslassen-Können von Hartz 4
(3) Der europaweit zu beobachtenden Erosion der Volksparteien
(4) An der Dauer ihrer Parteizugehörigkeit: Sie ist schlichtweg zu lange an Bord, um einen überzeugenden Neuanfang signalisieren zu können
(5) Der Hire-& Fire-Lust der SPD. Keine andere Partei verschliss in den vergangenen zwanzig Jahren so viele Vorsitzende.
Nahles ist verantwortlich für (2). Aus Sicht jedes Linken ist ALG2 eine veritable Katastrophe. Richtig war hingegen ihr Engagement für den Eintritt in die ungeliebte Groko, womit die SPD – anders als die Lindner-Liberalen – demonstrierte, dass ihr das Wohl des Landes mehr am Herzen liegt als parteitaktische Spielchen. Bei (4) bin ich unentschlossen. Eventuell hätte sie bereits 2018 erkennen müssen, dass es an der Parteispitze Zeit wurde für frische Gesichter, anstatt sich selbst dafür in Stellung zu bringen. Mir ohnehin schwer begreiflich zu machen, weshalb Kanzler, Minister, Fraktionsvorsitzende immer auch noch in Personalunion hohe Parteipositionen bekleiden müssen. Soll mir keiner erzählen, dass man mit vollem Einsatz gleichzeitig auf zwei Hochzeiten tanzen kann. Die Grünen haben diese Unmöglichkeit schon vor langem erkannt und trennen folgerichtig Amt und Mandat voneinander. Warum dieses Konzept nicht mal ausprobieren?
Einzelfall symptomatisch für Dauerkrise
Das Drama Nahles spiegelt letztlich bloß die Tragödie der SPD wider. Einer Partei, die zwar den Großen Koalitionen jedes Mal ihren Stempel aufdrückt – nie war das Land sozialdemokratischer als heute –, es jedoch nicht schafft, diese Leistung kommunikativ nach draußen zu transportieren und ihre Wähler bei der Stange zu halten. Auch ein neuer Vorsitzender – Geschlecht, Alter, Landsmannschaft, Religionszugehörigkeit, sexuelle Ausrichtung, Essensgewohnheiten, Sportaktivitäten, Seeheimer, Linker: völlig wurscht – wird sich schwertun, die Sozialdemokratie aus ihrem aktuellen 15-Prozent-Jammertal wieder zu den 25-30%-Weiden zu führen. Ob die SPD in der Groko drinbleibt oder sie zur Halbzeit verlässt: Es wird aus Sicht ihrer Kritiker immer die falsche Entscheidung sein. Zur Wahl stehen die beiden Optionen: zügiges Ende mit Schrecken (Neuwahlen) oder weitere zwei Jahre Aufschub, bis man dann völlig ausgelaugt auf der Intensivstation erwacht und sich vom Schock des Unter-zehn-Prozent-Absinkens gar nicht mehr erholt. Wer von den SPD-Granden besitzt genügend Rückhalt in Fraktion und Partei, um Option 1 (schneller Exit) zu propagieren und durchzusetzen? Mit Variante 2 droht mMn das Totenglöcklein. Aussitzen und die Probleme weglächeln wird nicht funktionieren. Die Frage nach dem Nutzen der Dauer-Groko wird sich übrigens ebenfalls die Nach-Merkel-CDU stellen müssen. Zwar von einem höheren Sockel herab; aber die Frage ist dieselbe wie bei der SPD.
Um zum Ende hin an den Ausgangspunkt der Kolumne zurückzukehren: Egal, ob man mit der Agenda eines Politikers d‘accord geht oder nicht – man sollte nicht just in dem Moment, in dem der aus eigener Einsicht das Spielfeld verlässt, die Größe dieses Entschlusses in Frage stellen. Kann man tun. Demonstriert damit aber einzig die Begrenztheit des eigenen Horizonts.
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