„Kommunistische Parlamente mit Nein-Stimmen“ – zum 30. Jahrestag des I. Kongresses der Volksdeputierten der UdSSR

Zum Wesen der Parlamente in den konsolidierten kommunistischen Regimen gehörte der „Harmonie-Mythos“. Abweichende Meinungen wurden dort höchst selten geduldet. Zu den wenigen Ausnahmen zählten das polnische Parlament, das sich infolge der sogenannten „Oktober“-Ereignisse von 1956 konstituiert hatte, und der Kongress der Volksdeputierten in der Sowjetunion, der seine Entstehung der Gorbatschowschen Perestroika verdankte. Mit diesen beiden „untypischen“ kommunistischen Parlamenten befasst sich die folgende Kolumne.


Der polnische „Sonderweg“

Im Jahre 1956 fand in Polen die wohl erste „friedliche Revolution“ in der Geschichte des Ostblocks statt. Die polnische Gesellschaft befand sich damals, ähnlich wie die ungarische, in einem antistalinistischen Aufruhr. Dass es der Warschauer Führung um den neuen Parteichef Władysław Gomułka gelang, diese Auflehnung zu kanalisieren und eine Tragödie à la Ungarn zu vermeiden, rief ein allgemeines Erstaunen hervor. Dieser Erfolg war sicherlich darauf zurückzuführen, dass zu seinen Urhebern nicht nur das weitgehend diskreditierte Regime, sondern auch der polnische Episkopat um Primas Stefan Wyszyński zählte, der sich bereit erklärte, die Regierung  bei der Bewältigung der damaligen Krise zu unterstützen. Dies war aber keine bedingungslose Unterstützung, denn die Parteiführung musste sowohl der Kirche als auch der Gesellschaft als solcher einige Zugeständnisse gewähren, die den Grundstein für die Sonderentwicklung Polens innerhalb des Ostblocks legten. Zu diesen Zugeständnissen gehörte auch die Bereitschaft der Parteiführung, den Eintritt einer Reihe von unabhängigen katholischen Abgeordneten in das polnische Parlament (Sejm) zu akzeptieren. Es handelte sich dabei um die Parlamentarier des Abgeordnetenzirkels „Znak“ (Zeichen). Zwar repräsentierten diese Abgeordneten die katholische Mehrheit des Landes nur symbolisch. Die Mitgliederzahl des „Znak“ schwankte zwischen 5 und 11 Abgeordneten von insgesamt 459. Dessen ungeachtet hatte das polnische Parlament aufgrund der Anwesenheit des „Znak“ nicht mehr den marionettenhaften Charakter, wie ihn die Parlamente in den anderen kommunistischen Ländern vor dem Beginn der Gorbatschowschen Perestroika hatten. In manchen Krisensituationen erhoben die Znak-Parlamentarier deutlich ihre kritische Stimme und bereiteten dadurch dem Regime zahlreiche Verlegenheiten. Nicht zuletzt deshalb bezeichnete der deutsche Polenkenner Hansjakob Stehle 1963 den polnischen Sejm als „ein kommunistisches Parlament mit Nein-Stimmen“.

Der Vorsitzende des „Znak“, Stanisław Stomma, berichtete nachträglich:

 Wenn wir zum Rednerpult gingen, rief dies immer Unruhe hervor… Das Vorhandensein einer solchen Gruppe im Parlament stellte einen präzedenzlosen Fall in den Volksdemokratien dar. Dies war natürlich eine kleine Gruppe, die nichts ändern konnte, aber sie hatte ihre Stimme.

Die „Znak“-Gruppe und die polnischen „Märzereignisse“ von 1968

Zu den spektakulärsten Widerstandsakten der Znak-Gruppe gehörte die Sejm-Debatte, die sie am 11. März 1968 mit ihrer Interpellation auslöste, in der sie das brutale Vorgehen der Miliz gegen die Protestdemonstrationen der Warschauer Studenten kritisierte.

Die hasserfüllten Tiraden, mit denen die regimetreuen Abgeordneten auf diese Interpellation reagierten, ließen die Znak-Abgeordneten unbeeindruckt. So nahm z.B. der bereits erwähnte Vorsitzende des Abgeordnetenzirkels, Stanisław Stomma, zu den Anschuldigungen Stellung, die Interpellation des „Znak“ sei vom Sender „Freies Europa“ missbraucht worden. Bei der Interpellation handele es sich, so Stomma, nicht um einen Geheimakt, sondern um ein Vorgehen öffentlicher Natur. Und es ginge die Urheber dieses Vorganges nichts an, wie er von den Außenstehenden interpretiert werde. Es sei aber zugleich kein Zufall, so der Abgeordnete weiter, dass die Znak-Anfrage eine derartige Resonanz erzielte. Denn im Gegensatz zu den offiziellen Medien, hätten die Znak-Abgeordneten die wahre Bedeutung der Studenten-Proteste erkannt. Diese Auflehnung sei einer tiefen Sehnsucht nach der Verwirklichung eines demokratischen Sozialismusmodells entsprungen. Diese Jugend als volksfeindlich zu bezeichnen sei leichtfertig und unverantwortlich.

Letztendlich gelang es dem Regime allerdings, den Znak-Zirkel auszuhöhlen und unabhängige Parlamentarier durch regimetreue zu ersetzen. Im Februar 1976 enthielt sich Stanislaw Stomma, der letzte unabhängige Abgeordnete des Znak, bei der Abstimmung über den neuen polnischen Verfassungsentwurf der Stimme und verzichtete auf sein Abgeordnetenmandat. Der beinahe zwanzigjährige parlamentarische „Sonderweg“ Polens innerhalb des Ostblocks ging damit zu Ende.

Der demokratische Aufbruch im imperialen Zentrum des Ostblocks

Obwohl der Impuls für die umwälzenden Veränderungen in Polen im Jahre 1956 ursprünglich aus Moskau kam – dies war der 20. Parteitag der KPdSU –, fanden in der damaligen Sowjetunion selbst keine institutionellen Veränderungen statt. Das sowjetische Parlament stellte auch nach 1956 lediglich eine Marionette der Parteinomenklatura dar. Erst die Gorbatschowsche Perestroika sollte hier eine Bewegung in Gang bringen. Eingeleitet wurde diese Entwicklung durch die Wahlen zum ersten Kongress der Volksdeputierten der UdSSR vom März 1989, die zum ersten Mal seit Jahrzehnten keinen rein akklamatorischen Charakter hatten. Über das Schicksal einzelner Politiker entschied jetzt nicht nur das Wohlwollen ihrer Vorgesetzten, sondern auch das Verhalten der Wähler. Dies spiegelte sich besonders deutlich im Falle Boris Jelzins wider. Die Wahlen ermöglichten nämlich diesem Rebell, der 1987/88 einige seiner Parteiämter verloren hatte, ein erstaunliches Comeback auf die politische Bühne. Im Moskauer Wahlbezirk erhielt er 89% der Stimmen. Die herrschende Partiebürokratie geriet nun in Panik.

Noch im Jahre 1988 ging Michail Gorbatschow davon aus, dass die damals noch alleinherrschende KPdSU imstande sein würde, sowohl sich selbst als auch das Land grundlegend zu erneuern. „Die Partei soll zur Seele unseres (Reformprozesses) werden“, schrieb er am 14. August 1988. Diese Hoffnung erfüllte sich aber nicht. Die Wahlen vom März 1989 zeigten, welche Ausmaße bereits die Diskreditierung des Parteiestablishments in den Augen der Bevölkerung bereits erreicht hatte. Auf einer Sitzung des Politbüros vom 28. März 1989, auf der die Wahlergebnisse diskutiert wurden, führte der ZK-Sekretär Anatolij Lukjanow aus: „Ein Fünftel der Sekretäre der Parteiorganisationen fiel bei den Wahlen durch“. Der Wortführer der Dogmatiker in der Parteiführung, Jegor Ligatschow, fügte hinzu:

Die Perestroika hat in der Gesellschaft widersprüchliche Reaktionen ausgelöst, woraus sich erklärt, dass man gegen Partei-, Wirtschafts- und Militärfunktionäre gestimmt hat: Der Hauptgrund dafür liegt meines Erachtens vornehmlich in der Haltung der Medien: Den Menschen ist förmlich eingehämmert worden, dass man gegen die Partei vorgehen müsse; das ist gefährlich.

Insbesondere nach den Wahlen zum Kongress der Volksdeputierten wurde Gorbatschow mit dem immer stärker werdenden Widerstand der Parteinomenklatura konfrontiert. Als erfahrener Parteifunktionär beherrschte Gorbatschow virtuos die Spielregeln des innerparteilichen Kampfes. Es gelang ihm, viele seiner Kritiker im Parteiapparat zu entmachten. So berichtete er z.B. auf dem ZK-Plenum vom 25 April 1989, dass 6 von 14 Parteichefs in den Unionsrepubliken und 88 von 150 Parteichefs in den einzelnen Regionen ihre Posten verloren hätten. Dennoch war es Gorbatschow nicht gelungen, trotz all dieser Umbesetzungen, den zunehmenden Widerstand des Parteiapparats gegen seinen Reformkurs zu brechen. Nicht zuletzt deshalb versuchte er die Macht im Staate in einem immer stärkeren Ausmaß von den Partei- auf die Sowjetstrukturen zu verlagern. Der sowjetische Parlamentarismus, den die Bolschewiki bereits in der Lenin-Zeit weitgehend erstickt hatten, sollte wiederbelebt werden. In seinem vor kurzem in Moskau erschienenen Buch „In der sich verändernden Welt“ schreibt er:

Es gab keinen Weg zurück. Von nun an wurden die Kongresse der Volksdeputierten und nicht die Parteikongresse zu den wichtigsten politischen Foren, die die Entwicklung des Landes prägten.

Der erster dieser Kongresse wurde am 25. Mai 1989 in Moskau eröffnet.

Der I. Kongress der Volksdeputierten als Wendepunkt in der Geschichte der UdSSR

Die zweiwöchigen Debatten des I. Kongresses der Volksdeputierten haben die bestehenden Machtverhältnisse in der UdSSR noch stärker als die Wahlen vom März 1989 erschüttert. Millionen, die wie gebannt den Verlauf der Debatten vor den Fernsehschirmen verfolgten, erfuhren über den tatsächlichen Zustand ihres Systems so viel, dass es wohl nicht mehr möglich war, das Land wie bisher zu regieren. Dies war um so erstaunlicher, wenn man bedenkt, dass der Reformflügel auf dem Kongress eine Niederlage nach der anderen hinnehmen musste. Einer der streitbarsten Verfechter der Perestroika, der Historiker Jurij Afanassjew, sprach in diesem Zusammenhang von einer „aggressiv-gehorsamen Mehrheit, die alle Entscheidungen des Kongresses, welche das Volk von uns erwartet, zunichte gemacht hat“. Dies war allerdings nur ein Teil der Wahrheit. Man konnte sich nämlich nicht des Eindrucks erwehren, dass die radikalen Reformer, ungeachtet der für sie ungünstigen Abstimmungsergebnisse, sich in einer ununterbrochenen Offensive befanden, auf die der Apparat nur unbeholfen reagierte. Und dies war auch nicht verwunderlich. Denn auf dem Boden der parlamentarischen Auseinandersetzungen waren Vertreter der Parteibürokratie ihren diskussionsfreudigen Gegnern hoffnungslos unterlegen. Die Parteinomenklatura fühlte sich in ihrem Element, wenn sie reglementieren und verordnen konnte. Sobald sie sich aber auf den freien Meinungsaustausch einließ, bei dem nur bessere Argumente zählten, kamen ihre Unzulänglichkeiten und Schwächen deutlich zum Vorschein. Ihre bisherige Herrschaft beruhte im Wesentlichen auf drei Säulen – dem Macht-, Wirtschafts- und Wahrheitsmonopol. Gorbatschow hat durch die Verkündung der Glasnost das dritte dieser Monopole weitgehend erschüttert. Es gab von nun an in den innersowjetischen Diskussionen – und das hat der Verlauf des Kongresses der Volksdeputierten voll bestätigt – im Grunde keine Tabu-Themen mehr. Die bestehenden Machtverhältnisse wurden zwar dadurch nicht verändert, sie wurden aber transparenter gemacht, und das war schon die erste Stufe zu ihrer Veränderung.

Gorbatschow wurde auf dem Kongress mit 2123 Stimmen zum Vorsitzenden des Obersten Sowjets gewählt. 87 Abgeordnete stimmten allerdings dagegen. Die Zeiten, in denen die gleichgeschalteten Sowjetgremien die Entscheidungen der Parteiführung per Akklamation bewilligten, waren vorbei.

Auf  Konfrontationskurs

Die Auseinandersetzungen zwischen den Verfechtern der Reform und ihren Gegnern nahmen nach dem I. Kongress der Volksdeputierten an Stärke zu, dies nicht zuletzt im russischen Zentrum des Imperiums (RSFSR). Die radikalen Reformkräfte scharten sich um Boris Jelzin, der auf dem am 16. Mai 1990 begonnenen Kongress der Volksdeputierten der RSFSR nach einer Kampfabstimmung zum Vorsitzenden des Obersten Sowjets der Russischen Unionsrepublik gewählt wurde. Zur gleichen Zeit begannen sich die russischen Reformgegner ihrerseits um die im Juni 1990 gegründete bzw. neu gegründete Russische Kommunistische Partei zu konsolidieren. Das in sich geschlossene kommunistische Staatsgebäude erhielt einen Riss, der im Laufe der Zeit immer tiefer wurde. Beide Strukturen – das bereits angeschlagene kommunistische Kommandosystem und die noch schwachen und brüchigen demokratischen Einrichtungen – speisten sich aus völlig unterschiedlichen legitimatorischen Quellen und konnten daher nicht miteinander kooperieren, denn jedes der Systeme verneinte das andere. Sie brauchten einen Vermittler, und dies war Michail Gorbatschow, der inzwischen (im März 1990) vom Kongress der Volksdeputierten der UdSSR mit einer knappen Mehrheit zum ersten Präsidenten der Sowjetunion gewählt wurde. Eine Zeitlang fungierte Gorbatschow als eine Art Brücke zwischen den beiden Kontrahenten. So wies das von ihm errichtete System in der ersten Phase der Perestroika durchaus Ähnlichkeiten mit dem Bonapartismus-Modell auf, wie es von Karl Marx in seiner Schrift „Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte“ beschrieben worden war. Auch Louis Bonapartes Aufstieg war nicht zuletzt dadurch bedingt, dass er zwischen Kräften vermittelte, die sich gegenseitig neutralisierten, nämlich zwischen dem Dritten und dem Vierten Stand (Proletariat).

Indes strebt jede Gesellschaft danach, den Zustand der Doppelherrschaft wie er sich im Zuge der Perestroika ergeben hatte, so schnell wie möglich zu beseitigen. So steuerte die Entwicklung in der UdSSR unvermeidlich auf eine Konfrontation zu. Aus einem Schiedsrichter verwandelte sich Gorbatschow in einen Puffer zwischen den beiden Konfliktparteien. Dabei waren die Demokraten am Fortbestand dieses Puffers viel stärker interessiert als die Reformgegner, denn sie fühlten sich ihren Kontrahenten, die alle Machtstrukturen im Staate unangefochten kontrollierten, hoffnungslos unterlegen. Sie unterschätzten indes die Tatsache, dass die kommunistischen Dogmatiker sich damals nicht mehr als „Sieger“, sondern als „Verlierer der Geschichte“ fühlten. Der fehlende Glaube an die eigenen Ideale und an die historische Legitimität ihrer Herrschaft lähmte ihren bis dahin unbändigen Willen zur Macht. Dies bestätigte unmissverständlich ihr kläglich gescheiterter Staatsstreichversuch vom 19. August 1991. In seinem oben erwähnten Buch „In der sich verändernden Welt“ schreibt Gorbatschow:

Wie (die Entwicklung) zeigte, war die Partei weder in der Lage, sich selbst zu reformieren, noch sich an der Reformierung des Landes zu beteiligen.

Leonid Luks

Der Prof. em. für Mittel- und Osteuropäische Zeitgeschichte an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt wurde 1947 in Sverdlovsk (heute Ekaterinburg) geboren. Er studierte in Jerusalem und München. Von 1989 bis 1995 war er stellvertretender Leiter der Osteuropa-Redaktion der Deutschen Welle und zugleich Privatdozent und apl. Professor an der Universität Köln. Bis 2012 war er Inhaber des Lehrstuhls für Mittel- und Osteuropäische Zeitgeschichte an der KU Eichstätt-Ingolstadt. Er ist Geschäftsführender Herausgeber der Zeitschrift Forum für osteuropäische Ideen- und Zeitgeschichte.

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