Roman des 20. Jahrhunderts? Erwin Strittmatters „Der Wundertäter“

Die große Romantrilogie des ostdeutschen Schriftstellers wurde beim Aufbauverlag neu aufgelegt. Kolumnist Sören Heim schaut sie sich an.


Erwin Strittmatters Der Wundertäter habe ich mir zwecks Schließen einer Bildungslücke vorgenommen. Der Autor, von dem man heute kaum noch etwas hört, galt als einer der bedeutendsten Schriftsteller der DDR, Der Wundertäter ist sein Opus Magnum, und dann wird dieses Jahr auch noch 30 Jahre Mauerfall gefeiert. Die Skepsis vor dem Anlesen ist groß: Der Roman wird als Roman des 20. Jahrhunderts gefeiert. Es würde also nicht überraschen, wäre das wieder eines dieser als Roman verkleideten Bücher, halb (Familien-) Biografie, halb persönliche Interpretation der Geschichte. Ein deutscher Roman eben mit mehr erzieherischem als ästhetischem Anspruch. Auch die unglaubliche Länge von gut 1500 Seiten berechtigt zu Zweifeln: Je dicker die Bücher, desto weniger wird der Erfahrung nach auf ästhetische Gestaltung geachtet.

Hypnose und Schmetterlingskönigin

Schon die ersten Seiten belehren eines Besseren: Zwar folgt nun tatsächlich eine Lebensgeschichte, die noch vor der Geburt des Protagonisten beginnt und bis in sein hohes Alter weiterlaufen wird, doch schreibt Strittmatter auf eine Art und Weise, die Melodie und Rhythmus der Sprache zum zentralen Vehikel der Perspektiven Stanislaus auf die Welt macht. Stanislaus ist je nach Blickwinkel übernatürlich begabt oder ein bisschen einfältig. Alles, was im Roman geschehen wird, ist konsequent durch seine Augen gefiltert. Und dem jungen Stanislaus ist die Welt voller Wunder. Er lernt zu hynotisieren, baut eine innige Verbindung zu einer „Schmetterlingskönigin“ auf, heilt Krankheiten, verliebt sich in die Pfarrerstochter, wird verbannt, arbeitet als Lehrling und Geselle in grotesken bis klaustrophobischen Backstuben, geht auf Wanderschaft usw usf. Immer erzählt Strittmatter dabei in rasantem Tempo, wechselnd zwischen dichten, beschreibenden Passagen und knappen eindringlichen Bildern:

Er schloß die Augen, lauschte auf den Regenfall, und da wars ihm, als vernähme er leise Musik: Süssisingdudu, süssisingdödö. Er wollte aufstehn, ans Fenster gehn und nach der Musik schaun. Als er sich erhob, war die Musik verschwunden. Er legte sich wieder zurück und lauschte. Die Musik kam wieder: Süssisingdudu. Nun erhob er sich nicht wieder. Es war keine Musik, die von draußen kam; sie kam aus tief innen. Ein Quell schien in ihm aufgebrochen zu sein. Mit der Musik kamen Worte. Die Worte, nach denen er zuvor gesucht hatte, waren da. Er schlug die Augen auf und suchte in der Kammer nach einem Boten der Schmetterlingskönigin. Es war kein Bote da. Er lächelte, lächelte seiner Kindheit nach.

Die Einfalt des „Wundertäters“ lässt dabei die ganze ihm zeitgenössische deutsche Geschichte ebenfalls wie durch einen Zerrspiegel gebrochen wirken. Abseits von Großereignissen wie der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten ist es dabei oft nicht ganz einfach, sich zeitlich zu orientieren. Es gibt viele Romane, die das Label „Schelmenroman“ nutzen, um einfach so wild drauf los zu labern, und noch jede erzählerische Unsauberkeit dem traditionellen Schema zuzuschlagen und als Feature zu verkaufen. Der Wundertäter dagegen ist tatsächlich ein moderner Schelmenroman (was auch die Kapitelstruktur mit unzähligen Unterteilungen und den bekannten Zusammenfassungen am Anfang nahe legt), der als solcher funktioniert. Auch und besonders, weil er für sich selbst eine Sprache findet, die durch die Längen des Buches (denn die gibt es) beinahe genauso zuverlässig trägt wie einst Verse durch die Canterbury Tales oder der schalkhafte Witz Cervantes durch den Quixote. Nie wird der Stiefel einfach runter gespielt, jedes Wort und jede Satzstellung ist von Bedeutung.

Beim NS stößt der Roman an Grenzen

Es lässt sich trotzdem nicht leugnen: Das traditionelle von A nach B Erzählen kommt an seine Grenzen. Es folgt halt immer noch ein Ereignis, noch eine Anekdote, noch eine Absurdität. So gelungen Strittmatter sein Material im Kleinen organisiert, so schwer fällt es der Reihenstruktur, das Interesse über 1500 Seiten aufrechtzuerhalten. Und der Autor hätte wohl immer so weiter schreiben können, wäre er nicht selbst irgendwann alt geworden. Strittmatter arbeitete an dem Roman immerhin 23 Jahre.

Des Weiteren fällt auf, dass Strittmatter, sobald er quasi von der fast zeitlos wirkenden Vorgeschichte in die Geschichte springt, auch sprachlich zu straucheln beginnt. Kein Wunder: Dem Autor scheint all zu klar zu sein, dass die fast magische Welterfahrung der Jugendjahre dem Nationalsozialismus nicht mehr gerecht werden kann. Das Werk bleibt bildhaft, wird jedoch nüchterner, dabei zugleich mit einem stärkeren Einschlag ins Satirische. Strittmatter sieht ganz richtig, dass er über Krieg und Judenmord anders erzählen muss als über erste Liebe und Gesellenleid. Und man kann Der Wundertäter definitiv nicht vorwerfen, was man so vielen anderen deutschen Nachkriegsromanen vorwerfen kann: Dass es die Verbrechen und die breite Beteiligung und das Wegschauen der einfachen Deutschen ausspare. Trotzdem wird der Roman im Nationalsozialismus immer öfter zur Ereignisreihe samt bissigem Kommentar. Ein Problem, das sich weiter in die Betrachtung der Nachkriegsgesellschaft und der Deutschen Demokratischen Republik zieht.

Auf der anderen Seite lässt sich die Lektüre gut immer mal wieder unterbrechen; man hat praktisch keine Chance, zu vergessen, wo im Verlauf der Handlung man ausgestiegen ist. Der Wundertäter ist innerhalb der deutschen Literatur in jedem Fall ein einzigartiges Werk. Wer Böll, Grass oder Kehlmann für große Schriftsteller hält (und das sind ja meist Leser, die sich relativ standhaft weigern, über die deutschen Grenzen zu blicken) hat besonders im ersten Teil die Chance, im deutschen Sprachraum zu entdecken, wo eigentlich die Literatur erst beginnt!

Sören Heim

Sören Heim ist Journalist, Übersetzer und Schriftsteller. Er ist Träger des kosovarischen Preises für moderne Dichtung „Pena e Anton Pashkut“ (Stift des Anton Pashku) und des Sonderpreises „Favorit von Daniel Glattauer“ der art.experience 2014. In HeimSpiel schreibt Sören Heim mit Heimvorteil zu den Schnittpunkten von Kunst, Kultur und Gesellschaftspolitik. Er beleuchtet die unerwartete Bedeutung ästhetischer Fragestellungen für zeitgenössische Debatten, die mit Kunst auf den ersten Blick kaum Berührungspunkte haben. Und wo immer, sei es in der Politik, sei es in der Ökonomie, sei es gar im Sport, er auf geballten Unsinn und Unverstand trifft, wagt der Kolumnist auch das ein oder andere Auswärtsspiel. Bisher erschien die Kolumne HeimSpiel im Online-Debattenmagazin The European. Daneben veröffentlicht Heim in mehreren Literaturzeitschriften vornehmlich Lyrik und dichte Kurzprosa, und bloggt auf der eigenen Homepage aus seinem Zettelkasten. Monographien: Kleinstadtminiaturen: Ein Roman in 24 Bildern. Girgis Verlag: 2016 – ISBN: 978-3939154181.Cover nur Front Gewogene Worte: Nachdichtungen aus dem Chinesischen. edition maya: 2016 – ISBN: 978-3930758463.cover kathaStrophen. Experimente in Rhythmus und Melodie. Chiliverlag: 2017 -ISBN: 978-3943292541.FrontCover 2_bleu Algenhumor: Gedichte für das dritte Jahrtausend. Girgis Verlag: 2016 – ISBN: 978-3939154228.algen Audio-Exklusiv: La vie! La jeunesse! – Hörmordkartell 2017

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