Zwischen Jane Austen, Humboldt und Dragonheart
„Die Naturgeschichte der Drachen“ von Marie Brennan ist eine anspruchsvolle Fantasy-Serie mit starkem Fokus auf gesellschaftlichen Verhältnissen. Kolumnist Sören Heim stellt alle 5 Bücher vor:
Ich weiß schon wieder gar nicht mehr, warum ich mir Die Naturgeschichte der Drachen von Marie Brennan aus der Stadtbibliothek mitgenommen habe. Das Cover ließ eher Trash erwarten. Die Beschreibung war schrecklich nichtssagend. Vielleicht, weil der Titel so gar nicht auf Verkauf angelegt wirkte, das spricht für ein gewisses Selbstvertrauen, vielleicht auch, weil das Ganze an diese modischen Fantasie-Wissens(chafts)bücher erinnerte, aber offenkundig nicht den leichten Weg des Ideenkompendiums nimmt, sondern doch ein Roman ist. Kurz: Ein rätselhaftes Buch.
Und soviel kann man sagen: Das Ganze ist mehr als ordentlich.
Zum Einstieg möchte ich direkt mal den negativen Kritiken auf Amazon den Wind aus den Segeln nehmen: Nein, das ist kein Buch ohne Geschichte bzw. mit einer, die nicht vom Fleck kommt. Und nein, die Erzählerin ist nicht besonders trotzig, larmoyant oder ähnliches (über einen ähnlich gelagerten männlichen Erzähler würde das kein Kritiker behaupten), sie versucht auch nicht „den Leser bzw. die Leserin davon zu überzeugen, dass alles so viel besser wäre, wenn man ihr nur erlauben würde, ihre Leidenschaft, die Drachen, zu erforschen.“ Die Naturgeschichte der Drachen ist kein politisches Pamphlet.
Ausgearbeitetes Gesellschaftssystem
Tatsächlich handelt Die Naturgeschichte der Drachen in für Fantasy-Literatur ungewohnt überzeugender Weise von einer jungen Frau, die versucht, einen Weg zu finden zwischen spätviktorianisch wirkenden Traditionen und Freiheiten, die sie sich nimmt, die aber auch nicht vom Himmel fallen, sondern in der Gesellschaft schon ihre Schatten voraus werfen. Die Weltgestaltung ist wirklich gelungen: Die Welt scheint an der Schwelle zu einem Industriezeitalter zu stehen, das allerdings nur in den Metropolen schon halbwegs zur Entfaltung kommt. Es gibt noch kein elektrisches Licht, doch wir wissen, dass es nicht mehr lang dauern kann, denn für die zurückblickende Erzählerin ist solches z.B. die Normalität. Die Welt unterscheidet sich von unserer durch eine andere Geographie, besonders aber durch eine andere Fauna, deren herausstechendes Merkmal die Existenz von Drachen ist, dennoch ist es eine Fantasy der kleinen Unterschiede. Wenn eine Rezension kritisiert, das Buch sei manchmal schwer durch „fantastische Begriffe, die kaum erklärt werden“, dann ist der Rezensent mit verbundenen Augen in eine der großen Stärken des Romans gestolpert, und weigert sich, die Binde abzunehmen. Ja: Die Naturgeschichte der Drachen erzählt aus ihrer Welt heraus, als kennten wir sie, als lebten wir selbst dort, als sei sie uns zumindest in Grundzügen bekannt, als kennten wir ferne Gegenden zumindest gerüchtweise usw. Sie erspart den Lesern, zumindest denen, die Literatur wollen und keine Reiseführer, den unerträglich langweiligen Kniff, einen Außenseiter in die Welt einzuführen (Bsps: Harry Potter, Hobbits in LotR), dem ein Zauberer mit Rauschebart jeden einzelnen Aspekt erst erklären muss. Dabei nimmt Autorin Brennan ihre Welt auch als gesellschaftliches Gefüge ernst, macht ihre Protagonistin nicht vom einem auf den anderen Moment zur übermächtigen Drachenforscherin, sondern lässt sie sowohl die Grenzen ihrer Rolle spüren als auch sich selbst Grenzen setzen: Lady Trent ist eindeutig ein Kind ihrer Welt und Zeit, und nicht, wie man es wiederum regelmäßig in historischen- und Fantasyromanen vorgesetzt bekommt, in erster Linie ein Kind der Zeit der Autorin. Dabei wird Trent, wahrscheinlich, die Welt verändern, denn dass sie ihr Ziel, zu einer führenden Koryphäe in der Wissenschaft der Drachen zu werden, erreichen wird, daran lässt der Roman keinen Zweifel. Das wiederum gibt Die Naturgeschichte der Drachen viel Platz, innere Spannungen auszuloten, statt alles auf ein großes Finale hin zu komponieren.
Die Fantasy braucht, ist es dem Genre ernst damit, von der Literaturkritik ernst genommen zu werden, viel mehr solche Bücher. Auch noch viel mehr Bücher, die im Gegensatz zu Die Naturgeschichte der Drachen das klassische Heldenreise/Abenteuergeschichte-Schema ganz hinter sich lassen. Denn dieses Schema trägt literarisch natürlich nur so und so weit. Und wie viele nicht fantastische Abenteuergeschichten gelten denn als große Literatur? Verlage müssten sich daran wagen, Leser müssten es zulassen. Oder man lässt es eben bleiben und ist zufrieden damit, dass sich Fantasy sowieso deutlich besser verkauft als das Gros der nicht trivialen Mainstream-Literatur.
Im Wendekreis der Schlangen
Der zweite Teil von Die Naturgeschichte der Drachen, Im Wendekreis der Schlangen, schließt im Großen und Ganzen erfolgreich an die Stärken des Auftaktromans an. Wieder wird eine Expedition organisiert, und während den Forschungsarbeiten nebenbei intensiv die politische Verfasstheit eines fiktiven Staates und dessen kulturelle Besonderheiten untersucht. Die Ereignisse im Regenwald von Bayembe sind einmal mehr sehr plastisch schildert, sowohl die Art und Weise wie Zwischenmenschliches, als auch wie Politisches aufbereitet wird, ist einmal mehr sehr überzeugend.Dennoch fällt das ganze im Vergleich zum ersten Roman ein wenig ab, vielleicht auch nur, weil sich doch einige Schemata der Handlung deutlich wiederholen. Das gilt ganz besonders für die Eröffnung des Romans: Da Lady Trent als wohlhabende Witwe nun zumindest halbwegs etabliert ist und die Öffentlichkeit ihre Forscherinnentätigkeit, wenn auch mit knirschenden Zähnen, akzeptiert, braucht es eine weitere Protagonistin, die wiederum einen ganz ähnlichen Emanzipationsprozess durchmacht. Das liest sich nun leider Schritt für Schritt genau wie das erste Buch, und sagt uns derweil wenig Neues über die Welt.
Dennoch: Im Großen und Ganzen ist im Wendekreis der Schlange ein überzeugender Nachfolger, und ein weiterer Beweis, dass auch in der Fantasy die kleinen Kämpfe mit den zwischenmenschlichen und den sozialen Normen interessant und interessanter sein können, als die ewige, immergleiche Weltenretterei. Die kommt nun freilich auch langsam ins Spiel, und der zweite Teil der Reihe ist ein guter Moment, die beiden übergreifenden Plots der insgesamt fünf Bücher anzusprechen. Da ist einmal die Nutzbarkeit der extrem stabilen, nach dem Tod aber zu Staub zerfallenden Drachenknochen, die für eine industrielle Nutzung konserviert werden müssen. Als dafür eine Technik entdeckt wird, wittert Lady Trent die Gefahr, dass durch Jagdbemühungen verfeindeter Nationen die Drachenpopulationen bald ausgerottet sein könnten. Diese etwas sehr offensichtliche Parabel auf zeitgenössischen Raubbau an der Natur wirkt im Gesamtwerk immer etwas aufgesetzt. Viel faszinierender die langsame Erforschung der untergegangenen Zivilisation der Drakoneer, die Drachen religiös verehrten. Das wird über die fünf Bücher fast durchgehend klug und behutsam entwickelt, und bleibt gerade dadurch hochspannend.
Die Reise der „Basilisk“
Der dritte Teil, Die Reise der „Basilisk“, ist eine wirklich gelungene Fortsetzung. Der Einstieg in die Geschichte gelingt diesmal deutlich rascher, die eigentliche Forschungsreise muss sich vor den vorangegangenen nicht verstecken und erkundet in gewohnter bewährter Weise tiefblickend neue Aspekte der Welt des Romans. Wieder wiederholen sich einige Muster, insbesondere das Brechen eines Tabus der lokalen Bevölkerung, bei der die Forschungsreisenden längerfristig stranden. Das ist aber diesmal so interessant gestaltet, dass die Wiederholung gar nicht stört, bzw. kaum als Wiederholung spürbar wird: Aufgrund ihrer Neugier und der ungewöhnlichen Kleidung wird der Protagonistin eine „Drachenseele“ zugeschrieben, was bei den Einwohnern von Keonga als drittes Geschlecht gilt. Die Forscherin wird daraufhin kurzerhand zur Ehe mit einer jungen Frau gezwungen, die sie „zivilisieren“ soll. Einmal mehr begeistert, wie Brennan starre Grenzen gesellschaftlicher Vorstellungskraft überwindet, ohne dabei jemals den Rahmen des Erzählerischen zu verlassen.
Die größte Spannung des Romans als Reihe geht derweil weiterhin von dem fortschreitenden Verständnis der fiktiven Biologie der Drachen und ihrer möglichen Verwandtschaft zu Eidechsen, Vögeln und Seeschlangen aus. Dass das fortschreiten der Erforschung fiktiver Wesen ernsthaft fesselnd sein könnte – wer hätte das gedacht?
Im Labyrinth der Draken
Von den bisher gelesenen Teilen ist der vierte, Im Labyrinth der Draken, der schwächste. Zwar gibt es diesmal endlich keine lange Exposition mehr, die den immer gleichen (und prinzipiell ja durchaus interessanten) Konflikt Klasse-Geschlecht-Gesellschaft rekapituliert, stattdessen wird die mittlerweile zu ein wenig Ansehen gelangte Protagonistin zur Drachenzucht in einen verbündeten Staat abbestellt. Aber: Dadurch, dass die Zucht dann im Mittelpunkt steht (samt einer Entführung zwischendurch) leidet auch, was bisher in der Reihe für Spannung gesorgt hat: Das Stück für Stück Erforschen der Welt und die langsame Kenntnisnahme neuer Verbindungen in der Taxonomie der Drachen. Stattdessen geht es die meiste Zeit um Fehlschläge in der Zucht, und das Programm ist noch dazu eine ziemliche Sackgasse. Der zweite zentrale Strang, die Erforschung der geheimnisvollen Zivilisation der Drakonäer, macht gegen Ende des Romans einen wichtigen Sprung, der aber relativ plötzlich kommt. Auch Im Labyrinth des Draken ist noch eine genüssliche Lektüre, doch der erste Teil der Reihe, bei dem ich relativ rasch zum Ende vorstoßen wollte. Ein Fluch, dem Serien nur selten entgehen.
Im Refugium der Schwingen
Im Refugium der Schwingen ist der fünfte und letzte Band von Die Naturgeschichte der Drachen. Es ist noch einmal ein ordentlicher Roman, stärker als der vierte, und insofern ein gelungener Abschluss der Reihe, als dass er die beiden Haupthandlungsbögen jeweils zu einem tatsächlichen, recht befriedigenden Ende führt.
Mittlerweile liegen das Heimatland der Drachen-Forscherin Lady Trent, Scirland, und das in Teil 3 eingeführte Yelang in unerklärtem Krieg. Trent organisiert derweil eine Expedition in den abgelegenen Teil eines Gebirges, das an das Himalaja erinnert und um das Scirland und Yelang streiten. Dort warten allerlei Gefahren, aber auch potentiell bedeutende Entdeckungen in ihrem Forschungsgebiet.
Die Enthüllungen des fünften Teils, was die titelgebende Naturgeschichte der Drachen betrifft, sind tatsächlich spektakulär und weitreichend. Allerdings auch unglaublich hahnebüchen. Nicht nur, was unser Verständnis von Biologie betrifft, sondern, und allein das zählt hier, auch im Lichte der bisher behutsam und glaubwürdig entwickelten Taxonomie der Drachen. Spannend liest sich das dennoch, aber der Bruch zu den Vorgängerbänden ist schon ein wenig krass.
Ebenfalls nicht gänzlich dem Gesamtwerk zuträglich ist: Auch der fünfte Band verläuft nach dem bewährten Schema: Gesellschaftsbetrachtung und Kritik in den ersten Kapiteln, Aufbruch zu großen Erkenntnissen auf der Forschungsreise in den folgenden. Was über die ersten 2 bis 3 Teile sich noch wie eine gelungene Synthese von Austen und Humboldt las, wird durch die schematische Wiederholung mit der Zeit doch ein wenig dröge. Brennan hat ein Interesse an den kleinen Dingen des Lebens und den kleinen Details ihrer Welt, das es ihr ermöglicht, diese soviel glaubhafter zu gestalten als viele andere FantasyautorInnen. Es wäre zu wünschen gewesen, dass sie aus der nicht fantastischen Literatur sich auch noch die eine oder andere Weise abgeschaut hätte, wie man lange Texte anders strukturieren kann, als nach dem immer gleichen Schema, in dem fünf Bücher einer Reihe jeweils den Aufbau des ersten Buches wiederholen. Wobei man zugeben muss, dass ist wahrscheinlich nicht einmal eine literarische Schwäche der Autorin, die bestimmt anders gekonnt hätte, wie die einzelnen Bücher nahelegen. Aber so baut man Serien eben auf, die sich verkaufen sollen. Leser nicht überfordern, einige ungewohnte Dinge mit viel Gewohntem mischen. Da können gut Vorgaben des Verlages die äußere Form mitbestimmt haben, bzw. die allgemeine Einschätzung dessen, was auf dem Markt „geht“ und was nicht.
Dessen ungeachtet: Die Naturgeschichte der Drachen ist auch als Ganzes wahrscheinlich eines der besseren Werke, zumindest aber eine der besseren Serien der Fantasy, die in den letzten mindestens 20 Jahren erschienen sind. Es lohnt auf jeden Fall alle Bücher zu lesen, auch wenn der ein oder andere Leser über die Forschungsergebnisse des fünften Bandes wohl den Kopf schütteln wird.
Ich verrate sie hier nicht, möchte Ihnen Spaß und Leid nicht ersparen.
Schreibe einen Kommentar