Rebeccas Schwager ist frei
Am 22.3.2019 teilte die Generalstaatsanwaltschaft Berlin mit, dass der Schwager der verschwundenen Rebecca aus der Untersuchungshaft entlassen wurde. Er sei aber weiterhin Beschuldigter. Wie kann das sein?
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Die Meldung war kurz und für viele überraschend.
PM 3/2019 – Haftentscheidung im Fall „Rebecca“
Pressemitteilung vom 22.03.2019Generalstaatsanwaltschaft Berlin – Pressesstelle
Auf die Haftbeschwerde des beschuldigten Schwagers von Rebecca hat der Ermittlungsrichter beim Amtsgericht Tiergarten heute Vormittag den Haftbefehl gegen den Beschuldigten wegen Totschlags aufgehoben, weil er aufgrund des gegenwärtigen Ermittlungsstands Zweifel am dringenden Tatverdacht hat.
Die Entscheidung des Ermittlungsrichters ist im Hinblick auf die gegenwärtig bestehende Beweislage vertretbar, die Staatsanwaltschaft wird deshalb zum jetzigen Zeitpunkt keine Beschwerde gegen diese Entscheidung des Ermittlungsrichters einlegen.
Die Ermittlungen, insbesondere die Suche nach Rebecca, dauern mit unverändertem Aufwand und mit unveränderter Intensität an. Neue Erkenntnisse liegen zum derzeitigen Zeitpunkt nicht vor.
Steltner
Oberstaatsanwalt
Pressesprecher
Und sie stieß in den sozialen Netzwerken auf jede Menge Unverständnis. Ein Grund sich hier noch einmal mit dem Haftbefehl zu beschäftigen.
Die Voraussetzungen für den Erlass und die Aufrechterhaltung eines Haftbefehls sind in §112 StPO geregelt:
§ 112
Voraussetzungen der Untersuchungshaft; Haftgründe
(1) 1 Die Untersuchungshaft darf gegen den Beschuldigten angeordnet werden, wenn er der Tat dringend verdächtig ist und ein Haftgrund besteht. 2 Sie darf nicht angeordnet werden, wenn sie zu der Bedeutung der Sache und der zu erwartenden Strafe oder Maßregel der Besserung und Sicherung außer Verhältnis steht.
(2) Ein Haftgrund besteht, wenn auf Grund bestimmter Tatsachen
1. festgestellt wird, daß der Beschuldigte flüchtig ist oder sich verborgen hält,
2. bei Würdigung der Umstände des Einzelfalles die Gefahr besteht, daß der Beschuldigte sich dem Strafverfahren entziehen werde (Fluchtgefahr), oder
3. das Verhalten des Beschuldigten den dringenden Verdacht begründet, er werde
a) Beweismittel vernichten, verändern, beiseite schaffen, unterdrücken oder fälschen oder
b) auf Mitbeschuldigte, Zeugen oder Sachverständige in unlauterer Weise einwirken oder
c) andere zu solchem Verhalten veranlassen,
und wenn deshalb die Gefahr droht, daß die Ermittlung der Wahrheit erschwert werde (Verdunkelungsgefahr).
(3) Gegen den Beschuldigten, der einer Straftat nach § 6 Absatz 1 Nummer 1 oder § 13 Absatz 1 des Völkerstrafgesetzbuches oder § 129a Abs. 1 oder Abs. 2, auch in Verbindung mit § 129b Abs. 1, oder nach den §§ 211, 212, 226, 306b oder 306c des Strafgesetzbuches oder, soweit durch die Tat Leib oder Leben eines anderen gefährdet worden ist, nach § 308 Abs. 1 bis 3 des Strafgesetzbuches dringend verdächtig ist, darf die Untersuchungshaft auch angeordnet werden, wenn ein Haftgrund nach Absatz 2 nicht besteht.
Damit es zum Erlass eines Haftbefehls kommt, müssen also verschiedene Komponenten zusammen kommen.
Tatverdacht
Die Basis jedes Haftbefehls ist zunächst einmal ein dringender Tatverdacht. Eine Definition des dringenden Tatverdachts hat der Gesetzgeber sich geschenkt. Rechtsprechung und Lehre haben sich da verschiedene Umschreibungen ausgedacht, wonach nach dem vorliegenden vorläufigen Ermittlungsergebnis in der Gesamtheit eine „erhebliche“, eine „hohe“ oder eine „große Wahrscheinlichkeit“ dafür besteht, dass der Betroffene Täter oder Teilnehmer einer Straftat ist. Wann eine Wahrscheinlichkeit nun groß, hoch, dick oder dünn genug ist, ist schwer zu sagen, das entscheidet das Gericht jeweils im Einzelfall. Während der eine Haftrichter da sehr vorsichtig prüft, reichen dem anderen schon deutlich weniger Verdachtsmomente. Es ist ähnlich wie beim Fußball. Elfmeter ist, wenn der Schiedsrichter pfeift. So weit so ungut. Aber wie sollte man das auch genauer definieren?
Das ist auch keine einmalige und abschließende Beurteilung, sondern stets im Fluss. Besteht ganz am Anfang eines Verfahrens aufgrund einzelner Indizien vielleicht noch ein dicker, fetter, dringender Tatverdacht, dann kann der im Laufe der Ermittlungen durchaus zu einem mageren Tatverdacht mutieren. Dann ist der Haftbefehl aufzuheben. Letztlich beurteilt das Gericht dabei die Wahrscheinlichkeit, dass es aufgrund des jeweiligen Ermittlungsergebnisses zu einer Verurteilung des Beschuldigten kommen könnte. Erscheint das eher unwahrscheinlich oder gar ausgeschlossen, dann muss man den Beschuldigten entlassen. Der sitzt ja nicht zum Spaß in der Zelle.
So ist es offenbar im Fall Rebecca. Am Anfang bestand der Verdacht, der nun entlassene Schwager sei eines Totschlags höchst verdächtig – die genauen Gründe für diesen Verdacht kenne ich nicht – und nun ist das nicht mehr so. Oder jedenfalls nicht mehr so furchtbar dringend. Offenbar haben die Ermittlungsbehörden keine neuen Indizien, geschweige denn einen Tatnachweis gefunden. Hintergrund des Haftbefehls war laut Polizei folgendes:
Das vom Schwager genutzte Fahrzeug, ein himbeerroter Renault Twingo mit Berliner Kennzeichen, wurde am Tag des Verschwindens Rebeccas von einer Verkehrsüberwachungsanlage auf der Bundesautobahn 12 zwischen Berlin und Frankfurt/Oder, am Montag, den 18. Februar 2019, um 10.47 Uhr und am darauf folgenden Tag, Dienstag, den 19. Februar 2019, um 22.39 Uhr, festgestellt. Nach bisherigem Ermittlungsstand hatte zu diesen Zeiten allein der 27-jährige Schwager Zugriff auf diesen Pkw.
Ja, nun. Kommt vor. Außerdem sollen wohl Haare des Mädchens im Kofferraum gewesen sein. Auch das kommt bei Verwandten vor. Aber das alleine ist natürlich ein wenig dünn. Dass die Polizei überhaupt auf die Daten des Verkehrsüberwachungssystems Kesy zurückgreifen konnte, ist schon fragwürdig. Normalerweise müssen diese Daten unmittelbar nach dem Abgleich mit gespeicherten Fahndungsdaten gelöscht werden. Hier waren sie angeblich wegen eines ganz anderen Verfahrens gespeichert worden und daher nicht gelöscht. Ob und inwieweit solche Daten überhaupt verwendet werden dürfen, ist aber ein anderes spannendes Thema.
Haftgrund
Neben dem dringenden Tatverdacht bedarf es zum Erlass eines Haftbefehls auch noch eines Haftgrundes. Jedenfalls in der Regel. Diese Haftgründe sind Flucht, Fluchtgefahr, Verdunklungsgefahr und Wiederholungsgefahr.
Der Haftbefehl ist eben keine vorweggenommene Strafe, sondern er dient ganz alleine zur Sicherung der Hauptverhandlung bzw. in besonderen Fälle dem Schutz der Bevölkerung vor weiteren Straftaten. So kann eine Fluchtgefahr sich z.B. auch aus der Höhe der zu erwartenden Strafe ergeben. Je höher die Straferwartung und die Mobilität des Verdächtigen, um so wahrscheinlicher ist, dass er flüchten wird, um sich einer Verurteilung zu entziehen. Wer Familie, Eigentum und soziale Bindungen, aber keinerlei Kontakte ins Ausland hat, wird regelmäßig eher weniger abhauen wollen, als der einsame Wolf mit einem dicken Konto und Freunden in aller Welt. So denkt man jedenfalls bei der Justiz, was sicher ein dafür Grund ist, dass bei ansonsten gleicher Sachlage „allein reisende junge Männer“ schneller in U-Haft sitzen, als „besorgte Besitzbürger“.
Die Aufregung über die Aufhebung eines Haftbefehls zeigt, wie wenig Kenntnisse in der Bevölkerung über das Strafrecht und insbesondere über das Strafprozessrecht bestehen. Es ist gerade kein Skandal, wenn ein Haftbefehl wegen des Wegfalls des dringenden Tatverdachts wieder aufgehoben wird, sondern es ist ein Beweis für die Funktionstüchtigkeit der gerichtlichen Kontrolle. Mag sein, dass mancher Bürger durch Jahrzehnte langen Krimikonsum, der Meinung ist, wenn die Polizei jemanden festgenommen habe, dann sei der Fall gelöst. Das ist aber nicht so. Die liegen oft genug daneben.
Schnelle Erfolge
Es ist verständlich, wenn die Öffentlichkeit in so einem Fall schnelle Erfolge wünscht und den Täter schon am liebsten am nächsten Tag hinter Schloss und Riegel sieht. Diesen Druck spürt selbstverständlich auch die Polizei. Und da liegen mehrere Gefahren. Einmal macht Druck unaufmerksam. Ermittlungen müssen zwar schnell, noch wichtiger aber gründlich sein. Gerade in einem Fall, in dem ein Kind verschwunden ist, ist Zeit ein wichtiger Faktor. Das Mädchen könnte ja noch leben. Darin liegt aber eben auch die Gefahr, dass die Ermittler sich zu schnell auf einen bestimmten Verdacht festlegen, was dazu führt, dass alles getan wird, um den einen Verdächtigen zu überführen. Wenn der dann aber gar nicht der Täter ist, wird jede Menge an Ermittlungsenergie in die falsche Richtung geleitet und womöglich andere Ermittlungsansätze übersehen. Das erlebt man leider immer wieder.
In einem Mordverfahren – in dem der spätere Angeklagte freigesprochen wurde – hatte die Mordkommission sich sehr früh auf den Ehemann einer Verschwundenen festgelegt, obwohl es keinerlei Spuren und auch keine vernünftigen Indizien gab. Einer der Beamten äußerte mir gegenüber, er können das „riechen“. Und selbstverständlich wurde alles ermittelt und gesucht und getan, um diesen Verdächtigen zu überführen. Von der Verteidigung angeregte andere Ermittlungen wurden als Ablenkungsmanöver abgetan. Ja, es gibt natürlich kriminalistische Erfahrungen und eine davon ist, dass der Mörder eher aus dem Umfeld des Opfers stammt. Aber erstens muss das nicht immer so sein und zweitens kann man sich nicht immer auf seine „Nase“ verlassen. Mörder riechen nicht anders als andere Menschen, der Unsympath muss nicht zwingend der Täter sein. Und nicht jeder verschwundene Mensch wurde ermordet. Und nicht einmal ein Geständnis ist eine Garantie dafür, dass es überhaupt eine Straftat gegeben hat. Ich erinnere da an den Fall Rupp, bei dem eine ganze Familie wegen eines Mordes verurteilt wurde, der nie stattgefunden hatte.
Medien
Die Medien, insbesondere die Yellow-Press, spielt häufig eine weitere unrühmliche Rolle in spektakulären Ermittlungsverfahren. Sie schert sich einen Dreck um die Persönlichkeitsrechte von Verdächtigen und agiert da weitgehend hemmungslos. Wenn die BILD am Freitag weiterhin mit dem unverpixelten Bild des Beschuldigten hantiert, dann ist das eine unglaubliche Sauerei. Stellen Sie sich einmal vor, sie würden einer solchen Tat verdächtigt und würden dann, weil die Beweislage entsprechend ist, aus der U-Haft entlassen, wollten Sie dann bundesweit an den Pranger gestellt werden?
Recht zu schweigen
Auch in der Presse erhobene Vorwürfe gegen den Beschuldigten, warum er denn keine Aussage mache, gehen völlig daneben.
Es steht jedem Beschuldigten frei, sich zu einem Tatvorwurf zu äußern. Aus dem Schweigen dürfen keine Schlüsse gezogen werden, auch keine negativen. Was auch gerne immer wieder übersehen wird, ist die Unschuldsvermutung. Ein Unschuldiger ebenso wie ein Schuldiger gelten solange als unschuldig, bis sie von einem Gericht rechtskräftig verurteilt worden sind. Und aus welchen Gründen ein Beschuldigter schweigt, ist vollkommen egal. Ihm daraus einen moralischen Strick drehen zu wollen, ist nicht in Ordnung. Aber genau das passiert natürlich, wenn so getan wird, als sei Schweigen etwas Verdächtiges. Nein, ist es nicht. Es ist meist das Klügste, was ein Beschuldigter tun kann.
Es bleibt zu hoffen, dass die Ermittlungen gründlich und gewissenhaft weitergeführt werden und auch intensiv die Spur zu einer Internetbekanntschaft des Mädchens verfolgt wird. Auch wenn einiges dafür spricht, dass Rebecca nicht mehr am Leben sein mag, bedeutet das nicht, dass sie nicht doch noch lebt. Statt sich nun darüber zu erregen, dass der Schwager entlassen wurde, könnten sich die Erregten ja einfach an der Suche beteiligen, die Augen offen halten und der Polizei entsprechende Hinweise geben.
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