Lob der Jury – unabhängig von ihren Entscheidungen
Literaturpreis-Jurys entscheiden eigentlich immer falsch. Dennoch wäre es noch falscher, das Publikum abstimmen zu lassen. Denn die Willkür der Einzelnen ist wenigstens eine, die dazu einlädt, literarische Qualität zu debattieren.
In den letzten Jahren ist ein starker Trend hin zur Demokratisierung von Kunstwettbewerben zu beobachten. Das hat, glaube ich, größtenteils sogar weniger demokratie-idealistische als finanzielle Gründe: Eine Jury kostet Geld, warum also lässt man nicht einfach das Publikum abstimmen?
Direkte Demokratie und Kunst
Die Poetry Slams haben es vorgemacht, hier wird aus der Abstimmung gleich noch eine große Gaudi. Die Gefahren der direkten Demokratie sind an einem solch unverfänglichen Beispiel freilich wunderbar in nuce zu beobachten: Im besten Fall bekommt man eben den künstlerisch kleinsten gemeinsamen Nenner serviert, bekommt Marktverhältnisse in Bereichen, die bisher (mehr oder weniger) außerhalb des Marktes standen und den Nebeneffekt, dass sich selbst Autoren, in einer Zeit, in der man sich früher ausprobierte und Techniken entwickelte, die später in eine reichhaltige Literatur einfließen würden, sich für diesen Markt schon die Ecken und Kanten abwetzen. Im schlimmsten Fall muss man damit leben, dass sogar rechtsradikale Propaganda die Zustimmung des Volkes findet: „Sorry Ma, the mob has spoken“.
Aber sind nicht die Entscheidungen von Jurys am Ende genauso willkürlich, genauso großer Unsinn, wie Publikumsabstimmungen? Kritisiert nicht der Autor dieser Kolumne regelmäßig die Entscheidungen der Buchpreisjurys? Haben nicht die bedeutendsten Autoren unserer Zeit fast allesamt den wichtigsten zeitgenössischen Literaturpreis verfehlt, während der Nobelpreis immer wieder fragwürdigen Schriftstellern, unbekannten Autoren und zuletzt einem Musiker zugesprochen wurde?
Zweierlei Willkür
Sicher: Publikum und Jury treffen willkürliche Entscheidungen. Doch sind sie nicht in gleicher Weise willkürlich. Der Sieger beim Publikum siegt in etwa aus den gleichen Gründen wie Prom Qqueen, Klassensprecher oder Bundeskanzlerin. Es handelt sich um einen reinen Gefühls- bzw. Beliebtheitswettbewerb. Der Juryentscheid unterscheidet sich davon mindestens darin, dass man als Außenstehender voraussetzen darf, die Jury habe aus irgendwelchen sachlichen Gründen entschieden. Ob dem so ist oder nicht, ist dabei sogar zweitrangig: Als an individuellen Geschmack gekoppelte Prozesse, die eine qualitative Entscheidung behaupten, bieten Juryentscheide Diskussionsstoff. Wer Entscheidungen, wie sie auch jetzt wieder zum Deutschen Buchpreis anstehen, falsch findet, kann in jedem Fall mitdiskutieren. Man ist gezwungen, sich zu fragen, warum gerade dieses Werk ausgewählt wurde und muss sich mit dem Werk beschäftigen, wenn Gründe für oder gegen diese Entscheidung angeführt werden sollen. Wurde dagegen, wie etwa beim Poetry Slam oder beim ECHO, abgestimmt, erübrigt sich all das. Die Willkür der Masse unterscheidet sich von der Willkür des Einzelnen darin, dass sich im ersten Fall nach Gründen nur noch soziologisch fragen lässt. Auch eine unter Umständen sinnvolle Debatte, aber eine die weit weg führt vom ästhetischen Feld, um das es eigentlich gehen soll.
Und während Preisträger sich über Preise so oder so freuen mögen, ist das einzige, was Kunstwettbewerbe der Gesellschaft tatsächlich zu geben haben, eine interessante Debatte und dabei die Möglichkeit, das eigene Denken und Wahrnehmen zu erweitern, und nicht die letztendlich doch willkürliche (und sind wir ehrlich: sowieso immer falsche) Entscheidung über einen Preisträger.
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