„Aufklären oder Vertuschen?“ – Das Elend des antagonistischen Denkens

Seenotrettung im Mittelmeer, Missbrauch in der katholischen Kirche – zuletzt gab es viel Aufregung über Debatten, die Kontroverses nach Für und Wider diskutiert. Dabei traf die Inhalte der Debatte berechtigte Kritik, mit der Form wurde sich viel zu wenig auseinandergesetzt.


Dieser Tage kamen die klugen Köpfe hinter der ARD Polit-Entertainmentshow Sandra Maischberger auf die depperte Idee, ihre Sendung zum Thema Missbrauch in der katholischen Kirche mit der marktschreierischen Frage zu untertiteln: „Aufklären oder vertuschen?“ Das Bild-Blog sprang darauf an und bald stritt halb Twitter, ob es in Ordnung sei, das Pro und Contra von Vertuschung zu diskutieren. Ein paar Bedachtere wiesen darauf hin, dass es doch wohl gerade nicht um eine Pro- und Contradebatte gehe, sondern um die Frage, wie das Handeln der Kirche konkret zu bewerten sei. Was geschieht? Aufklären oder Vertuschen?

Das allerdings ist auch wieder ein wenig kurz gesprungen: Denn es lässt tief blicken, dass eine gut besetzte Redaktion entweder die Gefahr des Missverständnisses nicht sah oder das bewusst für die Quote in Kauf genommen hat. Dahinter steht weniger Bösartigkeit oder die Frage, wie man ein Thema betrachten „darf“ und wie nicht, sondern ein Zeitgeist, der nur noch fähig zu sein scheint, komplexe Thematiken ebenso wie ganz einfache Fragestellungen anhand des Schemas Pro oder Contra zu behandeln.

Die ZEIT-Seenotretter-Debatte

Ein weiteres Beispiel: Als die ZEIT vor einigen Monaten unter dem Titel „Oder soll man es lassen?“ diskutieren ließ, ob private Seenotrettung möglicherweise Schlepper dazu verleite, immer größere Risiken einzugehen, war der Aufschrei groß. Warum aber genau; ich glaube darüber waren sich selbst viele der Schreienden nicht genau im klaren. Zumindest traf viel Wut, die sich bis in Gewaltfantasien steigerte, Autorin Mirjam Lau, die zumindest differenzierter (wenn auch fehlerhaft) argumentierte, als die Überschrift vermuten ließ. Es ist nicht prinzipiell problematisch, kontraintuitiven Thesen sowohl empirisch als auch in Gedankenspielen auf den Zahn zu fühlen, sicher geglaubtes Allgemeinwissen oder Allgemeinfühlen herauszufordern. Das Schema von Rede und Gegenrede ist in solchen Fällen aber nur selten geeignet, Erkenntnis zu stiften.

Die ZEIT verteidigte sich später mit der Formel, mit der heute noch jede Provokation verteidigt wird. Man habe doch nur eine Debatte anregen wollen. Die antagonistische Form der Pro & Kontra Argumentation aber ist mehr als nur „eine Debatte anregen“ oder ihr nicht ausweichen. Es ist: Eine Debatte auf binäre Oppositionen reduzieren & damit (a) zwei Seiten erst konstruieren,  obwohl der zu behandelnde Gegenstand mit großer Sicherheit vielseitiger ist und (b) diese beiden Seiten in der öffentlichen Wahrnehmung auf gleichberechtigte Höhe heben.

Das Denken als Kampf von Gegensätzen,
die dieses Denken erst schafft.

Das Denken in Für und Wider ist wohl das der Konkurrenzgesellschaft ganz adäquate Denken, das überhaupt nicht mehr über den nur noch erlittenen Alltag hinaus will. Dass es Sieger und Verlierer geben muss, dass siegen gut ist und verlieren schlecht: Aller freundlichen Verbrämung zum trotz, die mit netten Worten in Schule und Kindergarten noch versucht wird, das lernt im harten Erleben jedes Kind frühzeitig zwischen Sport und Spiel und Notenvergabe. Und getreu diesem Weltverständnis gibt es im Denken immer häufiger nur noch Ja und Nein, pro und contra. In zahlreichen anglistischen Fakultäten etwa wird der Essay gar nur noch so gelehrt: Wähle ein Argument, eine Position, eine Haltung – und verteidige sie. Kein einerseits, andererseits. Kein sowohl-als-auch. Man muss sich vorstellen: Anglisten schreiben meist über Literatur und kulturelle Phänomene! Und selbst hier, wo das Feingeistige doch Platz haben sollte, werden Debatten gelehrt wie im Kolosseum oder auf Facebook: Daumen hoch? Daumen runter? Das antagonistische Denken gießt die Formen der Barbarei, noch ehe sie mit Inhalten wie „Oder soll man es lassen?“ oder „aufklären oder vertuschen?“ gefüllt werden.

Etwas nicht gutheißen, das bedeutet dem verbreiteten Verständnis nach heute: Für dessen Widerpart sein, was immer das sei. Den Merkel-Flügel der CDU gegen ressentimentgeladene Kritik verteidigen und dennoch eine ganz andere Politik wollen? Unvorstellbar. Sogar meine doch nicht mit offenen Spitzen gegen die Autorin sparende Verteidigung Julia Engelmanns gegen ihre geistlosen Kritiker wurde mir auf Facebook mehrheitlich als Zustimmung zu Engelmanns Werk und ihren Haltungen ausgelegt.

Entsprechend glaube ich nicht, dass die ARD mit ihrer Titelwahl unbedingt provozieren wollte. Das Denken in binären Oppositionen ist uns gesellschaftlich mittlerweile so tief eingeschrieben; man kommt nur unter größter Anstrengung da heraus.

Und, was denken Sie zum antagonistischen Denken?

Dafür?

Oder dagegen?

Sören Heim

Sören Heim ist Journalist, Übersetzer und Schriftsteller. Er ist Träger des kosovarischen Preises für moderne Dichtung „Pena e Anton Pashkut“ (Stift des Anton Pashku) und des Sonderpreises „Favorit von Daniel Glattauer“ der art.experience 2014. In HeimSpiel schreibt Sören Heim mit Heimvorteil zu den Schnittpunkten von Kunst, Kultur und Gesellschaftspolitik. Er beleuchtet die unerwartete Bedeutung ästhetischer Fragestellungen für zeitgenössische Debatten, die mit Kunst auf den ersten Blick kaum Berührungspunkte haben. Und wo immer, sei es in der Politik, sei es in der Ökonomie, sei es gar im Sport, er auf geballten Unsinn und Unverstand trifft, wagt der Kolumnist auch das ein oder andere Auswärtsspiel. Bisher erschien die Kolumne HeimSpiel im Online-Debattenmagazin The European. Daneben veröffentlicht Heim in mehreren Literaturzeitschriften vornehmlich Lyrik und dichte Kurzprosa, und bloggt auf der eigenen Homepage aus seinem Zettelkasten. Monographien: Kleinstadtminiaturen: Ein Roman in 24 Bildern. Girgis Verlag: 2016 – ISBN: 978-3939154181.Cover nur Front Gewogene Worte: Nachdichtungen aus dem Chinesischen. edition maya: 2016 – ISBN: 978-3930758463.cover kathaStrophen. Experimente in Rhythmus und Melodie. Chiliverlag: 2017 -ISBN: 978-3943292541.FrontCover 2_bleu Algenhumor: Gedichte für das dritte Jahrtausend. Girgis Verlag: 2016 – ISBN: 978-3939154228.algen Audio-Exklusiv: La vie! La jeunesse! – Hörmordkartell 2017

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