Selbstbildnis vor Sehenswürdigkeit

Die Sommerzeit nutzt Jörg Phil Friedrich für ein paar philosophische Gedanken zu Alltagsbeobachtungen. Heute geht es um Urlaubs-Selfies.


Uns ist eine Kulturtechnik verloren gegangen, und dafür haben wir eine neue erlernt: Noch vor zehn oder zwanzig Jahren war es eine Selbstverständlichkeit, fremde Leute anzusprechen, damit sie von uns ein Erinnerungsfoto machen, wenn wir uns in der Sichtweite einer Sehenswürdigkeit befinden. Irgendwie waren die Fotoapparate damals nicht so konstruiert, dass man ohne weiteres den Auslöser betätigen konnte, während man in die Linse schaute. Obwohl das beim Smartphone oder Tablet natürlich auch einige Übung erfordert – aber sein entscheidender Vorteil ist ohnehin, dass man auf dem großen Display kontrollieren kann, was auf dem Bild später zu sehen sein wird – weshalb die meisten Menschen auf den Selfies auch gar nicht in die Linse schauen, sondern knapp daneben – eben aufs Display.

Warum macht man sich die Mühe?

Man könnte ja schlicht die Sehenswürdigkeit selbst fotografieren, ohne selbst mit im Bild zu sein. Das hätte viele Vorteile: man sieht viel besser, was man da im Bild hat, die großartige Landschaft oder das bedeutende Gebäude wird nicht von einem Gesicht verdeckt, das ich jeden Tag im Spiegel sehen kann, und die Kamera auf der anderen Seite des Smartphones macht auch bessere Bilder. Trotzdem müht man sich, das teure Mobiltelefon irgendwie zwischen Zeige- und Ringfinger geklemmt, den Daumen auf dem virtuellen Drücker, sich selbst und die Gegend gemeinsam würdig ins Bild zu bekommen. Und dann noch lächeln!

Man könnte die Gründe, wie die Philosophen sagen, rational rekonstruieren. Das heißt, wir können versuchen, irgendwelche möglichen vernünftigen Begründungen für unser Verhalten zu suchen. Etwa, dass wir uns später erinnern wollen, das wir wirklich selbst an diesem Ort waren. Oder, dass wir diese Tatsache anderen beweisen wollen.

Aber mal Hand aufs Herz: Wer denkt sich sowas, bevor er das Foto macht? Rationale Gründe suchen wir meist, um das, was wir tun, im Nachhinein zu rechtfertigen, weil wir ja gelernt haben, dass wir vernünftige Wesen sind, die Gründe haben für das, was wir tun.

Eine einfache Erklärung wäre, dass wir Selfies vor Sehenswürdigkeiten machen, weil es alle tun. Man macht das so, man zeigt sich gegenseitig nach dem Urlaub auf dem Smartphone solche Bilder – also mache ich das auch. Selfies vor Sehenswürdigkeiten machen ist etwas, womit ich mir selbst versichere, dazuzugehören zu der Kultur der Selfiemachenden Urlaubs-Weltreisenden.

Natürlich, so kann man jetzt einwenden, denkt sich wohl auch kaum jemand: Ich muss mich dringend dort drüben vor den Berg oder die Kirche stellen und ein Selfie machen, weil das ja alle machen. Aber die Nachahmung ist vielleicht eine unserer grundlegenden Kulturtechniken, die dafür sorgt, dass wir schnell lernen, was wir fürs Leben brauchen und dass wir eine vertraute gemeinsame Welt mit anderen haben.

Das würde auch erklären, wie wir uns vor den Sehenswürdigkeiten aufbauen – und warum wir immer lächeln. Warum lächeln wir auf diesen Bildern? Kurz vorher noch schaut man ernst und konzentriert – und dann, kurz bevor man den Auslöser drückt, neigt man grazil den Kopf und schiebt man die Mundwinkel nach oben. So haben wir es tausendmal auf anderen Bildern gesehen, schon auf den Gemälden der großen Maler schauen die Damen und Herren so ins Bild – also tun wir das auch.

Haben wir denn eine Wahl?

Klar – wir können uns auch an anderen Vorbildern orientieren. Nicht an den missglückten Selfies der Kollegen, das bitte nicht. Aber die Welt ist voll von Bildern, die nicht ganz der Norm entsprechen und die uns trotzdem gefallen. Versuchen Sie, herauszufinden, warum Ihnen dieses Bild besser gefällt als jenes und denken Sie beim nächsten Urlaub einfach mal dran – Sie werden sehen, dann klappt es mit den interessanten Selbstbildnissen vor Sehenswürdigkeiten ganz von allein – und Sie werden Bilder machen, an die Sie lange zurückdenken und die Sie länger als drei Sekunden betrachten mögen.

Jörg Phil Friedrich

Der Philosoph und IT-Unternehmer Jörg Phil Friedrich schreibt und spricht über die Möglichkeiten und Grenzen des digitalen Denkens. Friedrich ist Diplom-Meteorologe und Master of Arts in Philosophie.

More Posts

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert